Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie

Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie beginnt mit einer Fotoserie bei Weibo. Darauf zu sehen sind junge deutsche Männer. Einigen Kommentatoren, es sind wohl meist jüngere Frauen, gefallen diese Bilder sehr. Sie schreiben:

„Ich dreh durch. Die sehen so gut aus.“ „Lecker, die Jungs!“ „Der auf dem letzten Bild, der mit den spitzen Eckzähnen, der ist so süß, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft.“

Diese Männer heißen aber nicht Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, oder Miroslav Klose. Sie tragen Name wie Karl Brommann, Maximilian Mayerli und Michael Wittmann. Sie waren hochrangige Mitglieder der deutschen Reichswehr oder der SS und sie tragen dunkle Uniformen. Dass diese Männer hauptberuflich mit Krieg und Völkermord beschäftigt waren, scheint die chinesischen Kommentatorinnen nicht allzu sehr zu stören. Oder sie wissen es einfach nicht. Kann es sein, dass der millionenfache Mord an den Juden und der Zweite Weltkrieg, also unsere urdeutschen Verbrechen an der Menschlichkeit, in ihrem Schulunterricht nicht thematisiert worden sind? Kann das sein? Das frage ich mich.

Fast alle gebildeten Chinesen wissen sehr genau Bescheid über Willi Brandts Kniefall in Warschau, weil sie diese Geste als Beispiel für das deutsche Unrechtsbewusstsein ansehen und so eine Geste noch immer von den Japanern erwarten. Aber wissen die jungen Chinesen denn gar nicht, wofür Willi Brandt dort um Vergebung gebeten hat? Wissen sie nichts von den Opfern, denen er dort seine Ehre erwies? Wissen sie nichts über das rassistische Menschenbild der Nazis und dessen Folgen? Offenbar nicht.

Denn wie erklärt man sonst die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie? Ich habe von dieser Geschichte zum ersten Mal erfahren, als in meinem Büro das Telefon klingelte. Die Verwaltungsangestellte in meiner Universität bat mich, meinen Pass mit dem aktualisierten Visum abzuholen. Ich ging einige Schritte über den Campus und klopfte an der Tür zum Gemeinschaftsbüro des Auslandsamtes. Ein älterer Herr öffnete. Ich kenne ihn schon länger und er hat mich immer mit einer etwas sonderbaren Hochachtung behandelt. Dieser Mann sieht für einen Chinesen etwas ungewöhnlich aus. Seine Gesichtszüge sind fast europäisch und seine leicht ergrauten Haare sind nicht vollkommen schwarz sondern spielen ins bräunliche. Man könnte ihn für einen Mischling halten, ein Mischblut, wie es im Chinesischen richtig heißt und vielleicht spielt diese Tatsache eine Rolle.

Wenn ich in seinem Büro war, sah er manchmal Filme auf seinem Computer oder blätterte in Antiquitäten-Magazinen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, erklärt er fast feierlich, dass er Deutschland und die Deutschen sehr verehre. Er bat, mich Platz zu nehmen, bot mir Tee an und gab mir Bonbons, die nach gegorener Milch schmeckten. Dann sprach er von Deutschland und den Deutschen, den deutschen Tugenden und unserer Aufrichtigkeit. Am liebsten mag er China, sagte er, aber am zweitbesten sind die Deutschen. Die Japaner, die mag er gar nicht.

Beim zweiten Mal, als ich in diesem Büro war, hob er den Daumen und sagt unverständliche Namen. Er sagte Heerman Gelin(赫尔曼•戈林) und Yuesefu Gepeier (约瑟夫•戈培尔) und er sagte auch Ensite Luomu (恩斯特•罗姆). Gelin ist der Beste. Gelin. Gelin. Kennst du Gelin? Immer wieder sagt er diesen Namen und er hob den Daumen. Seine Kollegin – die manchmal mit einer Gurken-Masken auf ihrem Schreibtischstuhl döste – schüttelte den Kopf. Sie sagte, dass ihr Kollege ein Deutschland-Fetischist sei. Ich wusste nicht genau, was das sein sollte. Und weil ich immer noch nicht verstand, was er mir mit den komischen Namen sagen wollte, ging er zu seinem Aktenschrank und holte eine Tüte hervor. In der Tüte waren DVDs und auf all diesen DVDs waren bekannte Nazi-Größen abgebildet. Eine davon zog er hervor und zeigt darauf. Gelin, Gelin, das ist der Beste, sagte er und tippte mit dem Finger auf Herrmann Göring. Herrmann Göring stand breitgrinsend in seiner weißen Sonntagsuniform neben einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe. Göring war der Lieblingsnazi des freundlichen Chinesen aus dem Auslandamt meiner Universität.

Wenn man länger in China lebt, dann lernt man, dass es viele Chinesen gibt, die Sympathie für Hitler hegen. Man hält Hitler oft – ähnlich wie Mao Zedong – für einen Mann, der die Kraft hatte, den Lauf der Geschichte zu verändern. Diese sogenannte „großen“ Männer werden oft nicht moralisch beurteilt, sondern aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihrem Talent, die Menschen zu bewegen und zu steuern.

Ich versuche dann meist in aller Kürze zur Klärung der Sachlage beizutragen und vermittele mit einfachen Worten den deutschen Standpunkt, beziehungsweise den Standpunkt der meisten Deutschen mit einem Intelligenzquotienten, der höher ist als die Raumtemperatur. „Hitler nicht gut. Hitler, böser Mann“, sage ich dann zu den Taxifahrern und Gemüsehändlern mit nationalsozialistischer Gesinnung. So leicht lassen sich chinesische Hitler-Fans allerdings – wie offensichtlich überall auf der Welt – nicht bekehren.

Als ich zum dritten Mal im Büro dieses älteren Herrn im Auslandsbüro war, erzählte er mir dann von Hitlers chinesischer Familie. Hitler sei in seiner Wiener Zeit in einer finanziellen Notsituation gewesen und eine chinesische Familie mit dem Namen Zhang habe ihn bei sich aufgenommen und seine Studiengebühren bezahlt. Er erzählt mir, in dieser Zeit habe Hitler auch angefangen, Tee zu trinken und die Werke des Sunzi, also dessen „Kunst des Krieges“ zu studieren. Hitler sei so sehr von China so fasziniert gewesen, dass es sein Plan war, so soll es eine enge Vertraute des Führers berichtet haben, die Welt zwischen dem Volk der Chinesen und dem Volk der Deutschen aufzuteilen. Alles östlich von Pakistan, erzählte mir der freundliche Herr aus dem Auslandsamt der Universität, sollte den Chinesen unterstellt werden und alles westlich davon dem Führer. Und während er das sagte, hatte er ein Strahlen in den Augen

Ich hielt den alten Mann für vollkommen verrückt, bis ich auf einen Text aufmerksam wurde, der seit 2009 im chinesischen Internet zirkuliert und der genau diese krude Geschichte detailliert erzählt. Bei dem sozialen Netzwerk „Kaixin“ wurde die Geschichte vom sinophilen Hitler 170.000 Mal gelesen und 40.000 Mal kommentiert.

Dieser Text geistert auch heute noch durch die Mikroblogs und trägt weiterhin dazu bei, die Hitler-Figur aus ihrem historischen Kontext zu lösen und zu mythisieren. So ist das chinesische Internet eben, könnte man meinen. Alles, was irgendwie in vorhandene Denkmuster passt, verbreitet sich wie ein Virus. Und weil das nicht immer im Sinne der chinesischen Regierung ist, bemüht man sich, bisher vollkommen vergeblich, die brodelnde Gerüchteküche unter Kontrolle zu bringen. Liebe chinesische Regierung. Macht es euch doch nicht so schwer. Das Prinzip heißt Aufklärung und es beruht darauf, sich über die Dinge in dieser Welt zu informieren. So und jetzt gut zugehört: Ich zeig Euch mal, wie das funktioniert. Die Fakten:

Abgesehen davon, dass Hitler im Zweiten Weltkrieg ein Verbündeter der Japaner war und damit politisch die Mitschuld trägt an den grausamen Verbrechen am chinesischen Volk, wie dem Massaker in Nanjing, gibt es noch weitere Belege für die Unsinnigkeit der Aussage, dass Hitler eigentlich ein „Freund Chinas“ war. Als zum Beispiel der Deutsche John Rabe 1938 nach Deutschland zurückkehrte und Hitler in zahllosen und heute gut dokumentierten Briefe um Hilfe für das chinesische Volk bat und über die Gräueltaten der Japaner auf Vorträgen berichtete, als er Hitler also um Unterstützung für das chinesische Volk bat, wurde er von der Geheimpolizei verhaftet.

Unter den Opfern des Nationalsozialismus waren auch Chinesen. Mehrere hundert Chinesen, die damals in Berlin und Hamburg lebten, waren nach dem Machtantritt der Nazis ständig in Lebensgefahr. Durch die Rassenpolitik verschärfte sich ihre Situation. Viele wurden verhaftet und ausgewiesen, anderen gelang es, rechtzeitig unterzutauchen oder zu flüchten, aber für zwanzig Gefangene gab es keine Rettung und sie starben während der Zwangsarbeit.

Sicher, die Idee, dass Hitler ein stiller China-Verehrer gewesen sein soll und in seinem Memoiren über seine liebevolle asiatische Ersatzfamilie geschrieben hat, klang für mich vom ersten Moment wie ein reines Hirngespinst. Nicht zuletzt deswegen, weil die einzigen existierenden Memoiren Hitlers, die Hitler-Tagebücher, eine dreiste Fälschung waren. Aber auch die Art und Weise wie der chinesische Internet-Text geschrieben wurde, lässt vermuten, dass jemand ganz bewusst eine Lüge in die Welt gesetzt hat, aus welchen Gründen auch immer.

Ich habe mich aber nicht damit begnügt, diese These ungeprüft als Unfug abzutun, sondern ich habe mir Hitlers Buch „Mein Kampf“ besorgt, denn dieser Text ist ja das Einzige, was mit dem Wort Memoiren gemeint sein könnte. Ich hab „Mein Kampf“ nach Stichworten wie „China“, „Chinesen“ und „Sunzi“ durchsucht. China kommt nur ein einziges Mal darin vor und zwar als banales Beispiel für ein großes Land. Auch das Wort „Chinesen“ erwähnt Hitler nur ein Mal, nämlich als er seine Rassenlehre erläutert und feststellt, dass es ein vollkommener Irrtum sei, anzunehmen, dass ein Chinese, oder ein Neger (sic) durch das Erlernen der deutschen Sprache, zu einem Deutschen werden könne, weil das Deutsch-Sein eben im Blut und nicht in der Sprache sei. Hitler argumentiert in diesem Zusammenhang, dass eine Zuwanderung bzw. eine Durchmischung des deutschen Blutes langfristig dazu führen würde, dass Deutschland sich abschafft. Na, das kennen wir ja.

Über die Kriegs-Lehre des Sunzi verliert Hitler in „Mein Kampf“ kein einziges Wort. Und auch wenn die chinesischen Hitler-Fans das vielleicht nicht so toll finden: Hitlers Weltanschauung, seine rassistische Verachtung von Menschen, die kein rein-germanisches Blut in den Adern haben, ist nicht von der chinesischen Kultur beeinflusst. Das hat der sich ganz alleine ausgedacht, oder von anderen rassistischen Wirrköpfen kopiert.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich hier erwähnen möchte. Vor kurzem hat ein chinesischer Wissenschaftler einen Vortrag auf Deutsch gehalten, in dem er Belege dafür präsentiert hat, dass es während der Hitler-Diktatur eine Reihe von militärischen, kulturellen, aber auch menschlichen Kontakten zwischen China und Deutschland gab. Er hat Fotos, Tagebucheinträge und Dokumente präsentiert. Ich erinnere mich auch, dass er von deutsch-chinesischen Ehepaaren berichtet hat, die in dieser Zeit fast unbehelligt leben konnten. Ich zweifle kaum an der Echtheit der Dokumente, was mich bei dem Vortrag nur sehr befremdet hat, ist die Tatsache, dass der chinesische Wissenschaftler auf die historisch belegten Verbrechen des Hitler-Regimes am chinesischen Volk so gut wie nicht eingegangen ist.

Sicher macht man es sich zu leicht, wenn man ein Regime, einen Politiker, eine Epoche historisch eindeutig einordnet oder wie in diesem Fall vielleicht sogar dämonisiert. Aber man muss doch zunächst mit der Darstellung der wesentlichen Ereignisse beginnen, um dann dem Schwarz-Weiß-Bild auch die nötigen Grautöne hinzufügen zu können.

Dokumentation über die chinesische Hochschulaufnahmeprüfung „Gaokao“

<Sven Hänke>
Die landesweiten chinesischen Hochschulaufnahme-Prüfungen (Gaokao, 高考) sind gerade vorüber und die Schüler warten auf die Ergebnisse, die ihren weiteren Lebensweg maßgeblich bestimmen werden. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen möchte, unter welchem Druck die Schüler dort um die begehrten Plätze an den guten Universitäten kämpfen und wer verstehen möchte, warum Chinesen nur milde lächeln, wenn deutsche Altersgenossen über ihren Abiturstress klagen, sehe sich doch die unten eingebette 94-minütige Dokumentation (Titel: 高三) über die Nr.1-Highschool in Wuping, Fujian an. Die Doku wurde allein bei Youku.com fast 3 Millionen Mal angesehen und gewann beim Honkong International Film Festival 2006 den ersten Preis in der Kategorie Dokumentation. Sie hat sogar Untertitel. Viel Spaß, auch wenn das etwas unangemessen klingt, bei diesem Thema! (via China Whisper)


Wir alle sind nur die Kopie eines längst gelöschten Originals

Man könnte mir vorwerfen, dass der Untertitel „Gebrauchsanweisung für den erfolgreichen Kulturschock“ nicht besonders originell ist. Man könnte sogar sagen, dass er geklaut ist. Das ist etwas drastisch formuliert, aber vollkommen korrekt. Es ist geklaut und das ist auch gut so. Denn ich berufe damit auf die chinesische Shanzhai-Kultur, in der Nachahmung zur Kunstform wird und deren Protagonisten die Konzepte „Originalität“ und „Echtheit“ für belangloses Beiwerk ihrer Arbeit halten. Shanzhai, das ist auch der Gedanke, dass sich geistiges Eigentum so wenig einzäunen lässt wie wilde Pferde. Aber das ist nicht der einzige Grund für mein hier vorgetragenes Loblied auf die Kopie. Wenn man wissen möchte, welche Auswirkungen der Originalitätszwang und die Tabuisierung der Kopie zum Beispiel auf die westliche Pop-Kultur hat, dann empfehle ich einen Blick in den Kleiderschrank von Lady Gaga. Da wird dann vielleicht mancher ausrufen: „Oh, ein Fleischkleid, das ist ja mal was anderes. Sehr originell und kreativ.“ Und falsch ist das nicht, denn ein Fleischkleid gab er vor Lady Gaga noch nicht.

 

Innovation und Kreativität stehen in der westlichen Kultur derzeit im Allgemeinen sehr hoch im Kurs. Die Kopie wird hingegen verachtet. Sie erscheint uns wertlos. Aber ist nicht die Kopie, die Nachahmung des Guten und des Erfolgreichen der Kern einer jeden kulturellen Veränderung? Picasso sagte: „Gute Künstler kopieren, großartige Künstler klauen.“ Und Goethe. Als der seinen Faust schrieb, da war diese Geschichte über den zum Okkulten neigenden Wissenschaftler längst ein alter Hut. Ein sogenanntes Volksbuch von Johann Spies war schon im sechzehnten Jahrhundert ein großer Erfolg. Dieses Buch war so beliebt, dass es davon eine ganze Reihe von nicht-autorisierten Nachdrucke gab. Heute würde man wohl Raubkopien dazu sagen.

Und Goethe selbst, war der jetzt ein Raubkopierer? Im Grunde schon. Denn Goethes Faust war nicht einmal das erste Theaterstück zu diesem Stoff. Das schrieb der Engländer Christopher Marlowe etwas mehr als zweihundert Jahre zuvor. Goethe, der Inbegriff des deutschen Ur-Genies, sozusagen der Ur-Urheber, war noch nicht einmal der Erste, dem Ganzen im Kontext der Aufklärung eine neue Bedeutung verlieh. Das was Lessing.

Goethes Faust ist also in erster Linie eine Adaption, eine Kopie, ein Mash-Up. Ein weiteres Beispiel ist der Buchdruck. Die Rechte an dem Gerät, das maschinelles Kopieren von Texten überhaupt erst ermöglicht hat, würden heute vielleicht vor einem Patent-Gericht verhandelt werden. Denn als damals Johannes Gutenberg das Drucksystem entwickelte, waren bereits über vierhundert Jahre vergangen, seit der Chinese Bi Sheng bewegliche Letter erfand. Und so ist es bei den meisten genialen Schöpfungen der Menschheitsgeschichte. Sie sind Adaptionen, Kopien, Mash-Ups – bis heute. Das erste soziale Netzwerk der Welt hieß nicht Facebook. Es trug den schönen Namen 5460 und wurde in China programmiert. Und auch die erste Video-Plattform war nicht YouTube.

Seit ich meine Ansichten über China, Deutschland und die Welt, zu Papier, oder vielleicht besser gesagt, zu Pixel bringe, mache ich mir auch Gedanken darüber, in welcher Form. Ich könnte ja vielleicht ein Buch schreiben, um damit mein Taschengeld ein wenig aufzubessern. Ein wenig gegrillter Hund, Konkubinen, kleine Kaiser und Panikmache vor der kommunistischen Weltherrschaft – und fertig ist der deutsche China-Bestseller.

Aber gedruckte Bücher, diese Lieblingsdekorationen deutscher Wohnzimmer, haben einen großen Nachteil. Das Kopieren ist aufwändig und teuer. Und noch etwas ist mir dann eingefallen: Warum sollte ich für Geld schreiben? Ich habe doch so viel China-Kompetenz und da gibt es derzeit viel bessere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als mit dem Schreiben von Büchern: Ich könnte zu Beispiel mit Plastikschrott handeln. Oder ich könnte Autofirmen helfen, noch mehr Fabriken zu bauen, in denen benzinfressende Luxuskarossen für die Zweitfrauen von korrupten Beamte produziert werden und die Arbeiter zum Hungerlohn für die Yachten der Aktionäre schuften. Es gibt es doch noch so viel zu tun für China-Kenneren? Warum sollte man da überhaupt jemand Bücher schreiben? Das lohnt sich doch kaum noch.

Es wäre aber schon schön, wenn das hier jemand liest oder hört. Ich geb mir ja Mühe. Ich wollte daher zunächst wissen, welche Aspekte die Deutschen beim Thema China besonders interessieren. Und ich hätte fast McKinsey angeheuert, das Potenzial zu evaluieren. Das war mir aber doch zu teuer. Deswegen habe ich dann einfach bei Amazon nachgesehen, welche Bücher besonders oft gekauft werden.

Relativ schnell hat sich herausgestellt, dass die Deutschen besonders gerne Ratgeber und „Gebrauchsanweisungen“ kaufen – für die schnelle Orientierung im richtigen Umgang mit der neuen Supermacht. Außerdem ist mir aufgefallen, dass die Worte „Schock“, und „erfolgreich“ bei fast jedem zweiten Buch auftauchen.

Das, was die Deutschen über China wissen wollen, findet also hauptsächlich im semantischen Feld dieser drei Worte statt. Zunächst einmal ist da der Schock: „Hilfe, die Chinesen erobern den Planeten. Und die sind ja so anders. Ahh. Hilfe.“ Dann kauft man sich ein Buch von einem Chinakenneren, einen Ratgeber, eine Gebrauchsanweisung, in der die Dinge stehen, die man wissen muss, um mit dem Problem angemessen umzugehen. Und am Ende steht dann der „Erfolg“ und alles ist wieder gut.

Diese Methode erinnert an das Buch „Den Himmel gibt’s echt“. Das ist ein Buch über die Nahtoderfahrung eines Vierjährigen und in einer Rezension hieß es, es könne „Eltern und vor allem Kindern helfen, besser mit dem schwierigen Thema Tod umzugehen.“ Das klingt, als wäre der Tod therapierbar, oder als ob er mit der richtigen Gebrauchsanleitung zum Kinderspiel wird. So in der Richtung: „Sterben für Dummys – Alles was sie wissen müssen“. Und so ist es offenbar auch beim Thema China. Viele Leute glauben, dass China sich schon irgendwie zurecht-erklären und in ein eindimensionales und manchmal auch dekadentes Weltbild integrieren lässt. Einige Menschen haben die Hoffnung, dass die Globalisierung nach dem McDonalds-Prinzip funktioniert und für uns im Westen im Grunde alles beim Alten bleibt. So wird es aber wahrscheinlich nicht kommen. Denn die Chinesen kopieren vor allem unsere intellektuelle Open-Source-Software und viele dieser Kopien übertreffen schon heute das Original.

Wenn in China ein Geschäft eröffnet wird und erfolgreich ist, dann dauert es meist nur wenige Monate, bis direkt daneben ein Laden aufmacht, der den Erfolg bis ins Detail kopiert, und nicht nur einer. Ich kenne in Peking ganze Straßen, die bestehen nur noch aus Geschäften für Musikinstrumente oder Schreibutensilien oder sonst etwas. Und keiner stört sich daran.

Im Internet gibt es keine Straßen. Da gibt es Suchmaschinen und da muss man sich seine Nachbarschaft nach Wortverwandtschaften aussuchen, um gefunden zu werden. Wenn ich mich also begrifflich mit einigen fremden Federn schmücke, dann aber nur mit denen, die ich auf der Straße gefunden habe und denen, die man ohnehin nicht weiter verfolgen kann, als bis in ein digitales Creative-Commons-Universum, in dem wir alle nicht mehr und nicht weniger sind, als die fehlerhafte Kopie eines längst gelöschten Originals.

Meine acht Glücks-Tipps zum Chinesisch-Lernen

Wir sollten der Wahrheit ins Auge blicken. Uns Deutschen fehlen sprachkundige Vermittler. Chinas wirtschaftlicher Aufschwung wird zwar begleitet von einer medialen Aufmerksamkeit sondergleichen. Die deutsche Industrie befindet sich in weiten Teilen gar in einem nahezu entrückten Zustand, einem wahren China-Rausch. Sprachlich und kulturell jedoch hat sich bisher kaum etwas bewegt. Die Chinesen sind heute mit Abstand die größte Gruppe ausländischer Studierender in Deutschland. Die Zahl der deutschen Studenten, die in China eine Universität besuchen, steigt zwar, aber die Aufenthalte sind meist relativ kurz und die Studenten sind so gut wie nie ins reguläre Studium integriert.

 

Aber nicht nur die Studentenzahlen sprechen eine eindeutige Sprache der Sprachlosigkeit. Das Sprachdefizit ist vielerorts spürbar. Viele Journalisten, die sich professionell mit China beschäftigen, können keine chinesischsprachige Tageszeitung lesen, geschweige denn einer Internetdiskussion folgen. Auch der weitaus größte Teil der Entsandten, die bei Siemens, VW oder der deutschen Botschaft arbeiten, kommt in fünf und mehr Jahren über das Anfängerniveau nicht hinaus. Und auch nicht alle Sinologen sind nach dem Studium in der Lage, sich in China auch zu komplexeren Themen verständlich zu äußern.

Natürlich hat das vielfältige Gründe. Man hat viel zu lange an einer Orchideen-Sinologie festgehalten hat, die Langzeichen, Tang-Gedichte und Konfuzius-Interpretationen wichtiger fand als modernen, kommunikativen Sprachunterricht. „Chinesisch als Frendsprache“ ist eine Disziplin, die noch immer in den Kinderschuhen steckt – in Deutschland und auch in China selbst. China ist im Bereich Didaktik in weiten Teilen ein Entwicklungsland und nur langsam werden moderne linguistische Erkenntnisse für den Sprachunterricht nutzbar gemacht. Wer einmal einen Sprachkurs an einer chinesischen Universität besucht hat, wird mir wahrscheinlich zustimmen, dass die didaktische Methodik oft dem Lateinunterricht in den 50er-Jahren ähnelt. Ein weiteres großes Problem sind kulturelle Barrieren, die die Integration in die chinesische Gesellschaft und den persönlichen Kontakt mit Chinesen erschweren können. Der wichtigste Grund liegt jedoch auf der Hand: Chinesisch ist verdammt schwer.

Chinesisch zu lernen kostet eine Menge Zeit und man muss bereit sein, einige Mühen auf sich zu nehmen. Sprachlernsysteme wie „Rosetta Stone“ mögen suggerieren, dass man jede Sprache auf ganz natürliche Weise lernen kann, aber das Zeichen-Pauken wird auch Frau Stone einem Lernenden nicht abnehmen können. Sicherlich sollte man mit Spaß bei der Sache sein, aber die typischen Schwierigkeiten bei der Beherrschung von Zeichen und Tönen überwindet man unter anderem durch relativ passives, tausendfaches Wiederholen. Die Anwendungsbedingungen dieser Zeichen hingegen erschließen sich effizient oft erst in konkreten kommunkiativen Situationen.

Ich habe vor einiger Zeit den neu-konzipierten HSK-Test der Stufe 5 mit 249 von 300 Punkten (Hörverständnis 99 von 100) bestanden. Das macht mich sicher noch nicht zu einem zweiten Da Shan, aber es ist immerhin die zweithöchste Stufe dieses landesweiten, staatlichen Tests, der ansatzweise mit dem amerikanischen TOEFL und dem deutschen TestDaf vergleichbar ist. Weil acht bekanntlich die chinesische Glückszahl ist, hier nun meine acht hoffentlich glücks- und erfolgsbringenden Tipps für den Lernerfolg:

1. Tipp
Beschäftigen Sie sich von Anfang an intensiv mit den Zeichen. Ich halte den Weg, den einige renommierte deutsche Lehrinstitute gehen, Chinesisch anfangs auf der Grundlage von Pinyin zu lernen, für eine Abkürzung, die sehr schnell in einer Sackgasse enden kann. Chinesisch beruht auf Zeichen, Chinesen denken in Zeichen und Pinyin ist nur ein Hilfsmittel. Wenn Sie Chinesisch nicht nur für den Urlaubsgebrauch lernen wollen, müssen Sie die Zeichen lernen. Je früher, desto besser.

2. Tipp
Versuchen Sie die Grundlagen der Zusammensetzung der Zeichen zu verstehen. Machen Sie sich damit vertraut, wie diese komischen Dinger funktionieren. Lernen Sie die Radikale und die Strichreihenfolge. Sehr gute geeignet für Anfäger ist dieses Lehrwerk. Der grundlegende Zeichenaufbau wird sehr gut erklärt und zudem gehört die phonetische Einführung zu dem Besten, was mir bisher begegnet ist: „Chinesisch multimedial. Der CD-ROM-Sprachkurs für Einsteiger

3. Tipp
Schreiben Sie die Zeichen. Ganze Texte aber vor allem auch einzelne Zeichen. Immer wieder. Durch die Bewegungen der Hand verinnerlichen Sie die Konstruktion des Zeichens. Achten Sie mal darauf, wie oft Chinesen in der Luft oder auf dem Tisch mit dem Finger Zeichen malen, um sich diese zu vergegenwärtigen. Auch Chinesen lernen die Zeichen vor allem durch Wiederholung. Das Ergebnis vielfach wiederholten Schreibens ist, dass nicht nur der visuelle Eindruck, sondern auch die motorischen Abläufe der Hand gespeichert werden und das Zeichen besser memoriert wird.

4. Tipp
Nutzen Sie moderne Technik. Wenn Sie die Komposition der Zeichen und die Strichreihenfolge verstanden haben, besorgen Sie sich ein Handy mit Strich- oder Handschriften-Eingabe. Früher war es durch die komplizierte Methodik, ein Zeichen in einem herkömmlichen Wörterbuch nachzuschlagen, unglaublich zeitaufwändig, ein unbekanntes Zeichen zu identifizieren und zu übersetzen. Heute machen einem IPhone und Konsorten das Leben deutlich leichter. Mein persönlicher Geheimtipp: Lernen Sie Wubihua. Mit dieser selbst unter Chinesen eher ungebräuchliche Eingabemethode finde ich jedes noch so komplizierte Zeichen in weniger als zehn Sekunden. Ein weiteres nahezu unverzichtbares Tool ist Wenlin. Diese Software erlaubt es, ganze Texte dort hineinzukopieren und die Übersetzung der Zeichen und Zeichenkombinationen ins Englische nur durch das Herüberfahren mit der Maus anzuzeigen. Über ähnliche Funktionen verfügen zwar inzwischen auch einige Smartphone-Apps, aber Wenlin ist in Bezug auf Umfang und Genauigkeit des Wortschatzes unschlagbar. Selbst Chinesen staunen darüber, wie viele seltene Chengyu (idiomatische 4-Wort-Redewendungen) Wenlin erkennt und korrekt übersetzt. Faszinierend ist allerdings auch die Chinesisch-App von Pleco. Das geht schon ein wenig in Richtung „Raumschiff Enterprise“

5. Tipp
Machen Sie viele Hörübungen. Hörverständnis ist der entscheidende Schlüssel zur Sprache. Nutzen Sie das Internet und die vielfältigen Möglichkeiten, sich durch natürlichsprachige Dialoge mit den fremden Klängen vertraut zu machen. Auf Deutsch gibt es solche Angebote meines Wissens bisher nicht, aber im englischsprachigen Bereich wird man schnell fündig. Chinesepod.com ist der ungeschlagene Champion. Leider sind die meisten Dialoge seit einigen Jahren kostenpflichtig, aber vielleicht finden Sie ja jemanden, der ältere Folgen heruntergeladen hat, als sie noch kostenlos waren. Es gibt inzwischen weit über tausend Chinesepod-Dialoge für alle Lernerstufen. Mit Popupchinese.com hat sich ein ehemaliges Mitglied von Chinesepod selbsständig gemacht und füllt die Lücke, die Chinesepod auf dem No-Budget-Markt hinterlassen hat. Ich persönlich ziehe das Original mit der zauberhaften Jenny Zhu weiterhin vor. Ah, diese Stimme!

6. Tipp
Sprechen Sie. Sprechen Sie die Dialoge nach. Werden Sie ein Papagei! Suchen Sie sich einen chinesischen Tandempartner und quatschen Sie drauf los, was das Zeug hält. Aus Fehlern wird man klug und die lustigsten und peinlichsten Pannen vergisst man nie. Auch ich habe anfangs geglaubt, dass die Töne nicht immer so wichtig sind. Heute weiß ich, dass gerade die richtigen Töne für das Verständnis grundlegend sind. Üben Sie daher die Töne. Und gerade wenn man richtig daneben liegt, ist der Lerneffekt am größten. Ich werde wohl nie mehr vergessen, dass man das chinesische Wort für Hase im vierten Ton ausspricht. Gleich in der ersten Woche wollte ich mein Gegenüber informieren, welchem chinesischen Tierkreiszeichen ich angehöre. Wegen meiner falschen Töne sagte ich: „Ich bin ein Glatzkopf“. Das Lachen klingt noch heute in meinen Ohren.

Wir amüsieren uns uns oft über das urkomische „Chinglish“ oder das „Deunesisch“ der Chinesen. Aber diese Lernersprache ist der Weg zum Erfolg. Es mag einem erfolgreichen und angesehenen Manager nicht gefallen, plötzlich zu klingen, wie ein Dreijähriger, der sich mit seinem Freund in der Sandkiste unterhält. Aber es ist unvermeidlich und der einzige Weg.

7. Tipp
Machen Sie das, was Ihnen Spaß macht. Jeder hat andere Interessen. Finden Sie Ihren eigenen Weg zur Sprache. Jemand, der gern Popmusik hört, sollte sich mit den Texten der chinesischen Bands beschäftigen. Filme, Kalligraphie, Tee, chinesische Neujahrsbilder, egal was es ist – versuchen Sie ihre Interessen mit der Sprache zu kombinieren. Ich selbst lese seit ganz gern Comics. Seit einiger Zeit lese ich Tim & Struppi allerdings nur noch auf Chinesisch.

8. Tipp
An einem längeren China-Aufenthalt oder einem strukturierten Sprachkurs führt eigentlich kaum ein Weg vorbei. Wer es sich leisten kann, sollte Privatstunden nehmen, aber auch im Klassenverband macht man schneller Fortschritte als im stillen Kämmerlein. In China gibt es viele Sprachschulen, die guten Gruppen-Unterricht teilweise schon für 50 RMB in der Stunde anbieten. Es muss also nicht einmal teuer sein.

Journalismus DIY – High Tech, Low Life

Es soll ja Leute geben, die mit der herkömmlichen Art und Weise, wie Medienerzeugnisse entstehen, nicht immer zufrieden sind. Oft regen sich diese Leute dann darüber auf, dass die meisten Zeitungs- und Fernsehberichte durch staatliche Zensur so stark „harmonisiert“ sind, dass eine kritische Beschäftigung mit den gesellschaftlich relevanten Themen sehr klare Grenzen hat (z.B. in China). Oder aber sie regen sich darüber auf, dass in den Medien unter anderem durch wirtschaftliche Konzentrationsprozesse und Profitstreben viele Themen so stark verkürzt und einseitig dargestellt werden, dass die Aufklärung stets meilenweit hinter der Aufregung zurückbleibt (z.B. SpOnanien/Deutschland).

Immer mehr Menschen überwinden inzwischen ihren Ärger und werden aktiv.  Einige versuchen es mit „Bloggerblumen gegen Medienpanzer“, andere tweeten sich die Finger wund. Noch steckt publizistisches Engagement, das weder staatlich finanziert ist, noch von Auflagenzahlen und Einschaltquoten abhängig ist, in den Kinderschuhen. Aber es gibt immer mehr Ansätze, die journalistische Arbeit wieder zurück zu ihren Wurzeln bringt und deren Akteure sich erfolgreich aus dem Korsett der herkömmlichen Medienlandschaft befreien. Ein Weg, auch größere Projekte wie Filme und Reportagen zu finanzieren, ist das sogenannte „Crowd Funding“. Auf Seiten wie Kickstarter.com stellt man sein Projekt vor und legt dar, wofür man das gesammelte Geld benötigt.

Derzeit läuft bei Kickstarter eine Mikro-Funding-Aktion für eine Dokumentation mit dem Titel „High Tech – Low Life“. Das Projekt, das ich für sehr unterstützenswert halte, sammelt Geld für die Post-Produktions-Kosten einer Dokumentation über „Zola“ und „Tiger“, zwei chinesische Bürgerjournalisten. Die Aktion läuft noch 40 Stunden und derzeit fehlen zusätzliche 2.000 $, damit die notwendige Gesamtsumme von 23.000 $ erreicht ist.

Hier das Video, in dem das Projekt vorgestellt wird:

Chinabildblog: In die Luft gegriffen – Die Berichterstattung über die Brüste von Kate Winslet

Der Frühling ist da und im April geht ja bekanntlich einiges drunter und drüber. Die Hormone spielen verrückt und manch ein chinesischer Mann kann selbst bei dem eher mäßig erotischen Hollywood-Schinken „Titanic“ seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Denn wenn man einigen Medien glauben darf, wurde die Szene, in der  Leonardo Di Caprio die nackte Kate Winslet malt und man ihren entblößten Oberkörper zu sehen bekommt, von der chinesischen Medienbehörde „China’s State Administration of Radio, Film and Television“ (SARFT) mit dieser Begründung zensiert. So schreibt es zumindest „Welt Online“:

Es sollte mit der Zensur aber nicht nur öffentliches Ärgernis vermieden werden, sondern auch ein anderes mögliches Phänomen. Die chinesischen Sittenwächter hatten befürchtet, die Zuschauer könnten im Kinosaal in die Luft greifen, um die Brüste von Winslet berühren zu wollen. Damit würde der Filmgenuss der anderen Kinogänger beeinträchtigt.

Dummerweise ist diese Begründung reiner Humbug und geht auf einen 5-Tage alten Blogeintrag zurück, der diese satirisch gemeinte Begründung offensichtlich seinerseits aus dem chinesischen Internet übernommen hat. Hier ist der vom Ministry of Tofu verlinkte Kommentar im chinesischen Original.

更有网友调侃:估计广电总局是考虑到3D电影的特殊性,担心播放此片段时观众会伸手去摸,打到前排观众的头,造成纠纷,所以才做出删除的决定.

Einige User lästerten: Ich vermute, die Filmregulierungsbehörde hat sich über die Besonderheiten der 3D-Technik Gedanken gemacht und befürchtet nun, dass die Zuschauer ihre Hände ausstrecken werden und die Köpfe der Leute vor ihnen streicheln werden. Das gibt natürlich Ärger und daher die Entscheidung, die Szene herauszuschneiden.

Ich bin ja schon seit Langem der Meinung, dass viele Journalisten sich nur zu gern aktiv am sozial-medialen „Stille-Post-Spielen“ beteiligen und wie „Welt Online“ meist nicht eimal ihre Quellen angeben. Damit befindet sich das deutsche „Qualitätsblatt“ allerdings in guter Gesellschaft. Die gefälschte Begründung der Zensur-Entscheidung, die meiner bescheidenen Meinung nach wohl eher auf den Fakt zurückzuführen ist, dass in chinesischen Kinos aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage niemals weibliche Oberweiten zu sehen sind, kam äußerst gut bei den Medien an.

Viele Medien schrieben diese Geschichte voneinander ab, ohne sich mit lästiger Recherche-Arbeit aufzuhalten. Hier nur einige exemplarisch:

Im Vergleich zu den US-amerikanischen Seiten sind die deutschen Medien allerdings etwas im Verzug. Dort wurde bereits vor einigen Tagen darüber berichtet. Verwunderlich ist das nicht, denn von denen schreibt man seine China-Nachrichten offensichtlich ab:

Die „Huffington Post“, die auch darüber berichtete, hat den Unfug inzwischen korrigiert und als Satire ausgewiesen. Es wäre zu hoffen, dass man das in den deutschen Medien dann auch noch kopiert. Und vielleicht ändert dann ja auch James Cameron, der Regisseur von „Titanic“, noch seine Meinung.

They were affraid, that Chinese men would actually be reaching out towards the screen. This is true. You can’t make this up.
Sie hatten Angst, dass die chinesischen Männer ihre Hände zum Bildschirm hin ausstrecken würden. Das ist die Wahrheit. Das kann man sich nicht ausdenken.

Doch James. Man kann.

Zensur Spezial: Chinas Versuch, die Online-Gerüchte zu stoppen, ist so schwammig wie der “Krieg gegen den Terror”

Der folgende Text ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines Artikels von Steven Millward, der so freundlich war, einer Veröffentlichung hier auf Doppelpod zuzustimmen (Übersetzung: Sven Hänke). Der Originaltext „China’s Attempt to Banish Online Rumors is as Vague as the War On Terror“ erschien heute auf techinasia.com.

Die “Internet Society of China’ (ISC) hat heute ein Papier mit dem Titel “Vorschläge zur Verhinderung von Internet-Gerüchten” (chinesische Fasung hier) herausgegeben, das durch Aufklärungs- bzw. Erziehungsmaßnahmen und strengere Regularien die Verbreitung von Tratsch und Gerüchten im streng kontrollierten chinesischen Internet verhindern will. Nur neun Tage nachdem die Behörden die beiden größten chinesischen Mirkoblogs bestraft haben, weil diese nicht in der Lage waren, politische Gerüchte zu unterbinden, erinnern diese Aktionen an den berüchtigten “Krieg gegen den Terror”, in dem die Bush-Administration versucht hat, alle Schurken zu bekämpfen, die ihr schaden könnten.

Das Problem ist nur, dass sowohl Gerüchte als auch der Terrorismus abstrakte Konzepte sind, und man schwerlich einen Krieg gegen ein Konzept gewinnen kann. Ebenso wie ein ungerechter Krieg eine neue Generation von Widersachern hervorbringt, die sich zu extremen Handlungen gedrängt fühlen, wird auch diese neue Welle des Durchgreifens, der Regulationen und der Zensur zu noch weniger Transparenz in der chinesischen Politik und im Internet führen und die Netizens zur Produktion von noch mehr Gerüchten nötigen. Chinesische Mikroblogs wie Sina und Tencent haben bereits eine hohe Anzahl an Mitarbeitern, die mit der Selbst-Zensur, der Sperrung von Nutzern und der Löschung von Posts beauftragt sind. Sie löschen Nachrichten mit Schlüsselwörtern, die die “Soziale Stabilität” bedrohen. Die neue Propaganda-Parole “Soziale Stabilität” ist mehrmals in dem ISC-Papier genannt. Hinzu kommt die neue Klarnamen-Richtlinie für die Mikroblogs, die die Gerüchte eindämmen soll. Denn dadurch sollen sich die Nutzer für den Inhalt der Tweets verantwortlich fühlen – oder eingeschüchtert. Aber Sina und Tencent werden überflutet mit Posts und die häufigste Strafe ist derzeit lediglich die Löschung der entsprechenden Nachrichten. Die Nutzer der Mikroblogs wissen das und verbreiten daher weiterhin Gerüchte – auch politische und trotzen damit der finsternen Dunkelheit der fehlenden Transparenz, die sowohl bei der Regierung als auch den On- und Offline-Medien vorherrscht, welche sich entweder der Regulierung unterwerfen, oder sich in die Gefahr begeben, ihre Geschäftsgrundlage zu verlieren.

Und so steht nun also ein “Krieg gegen die Gerüchte” bevor, der sich durch eine weitgehendere Überwachung von normalen Bürgern auszeichnet und jedermann pauschal unter Verdacht gestellt wird. Auch das erinnert an den “Krieg gegen den Terror”, bei dem die USA und Großbritannien ihren Polizeiapparat aufrüsteten. Im Westen setzte man immer fortgeschrittenere Technologien, wie die Gesichtserkennung und den Ganzkörper-Scanner ein. China hingegen hat die Medien bereits weitgehend unter Kontrolle. Man muss diese also eigentlich nur auf die Mikroblogs ausdehnen. Das Problem ist nur, dass es kaum noch etwas gibt, was noch unternommen werden kann. Den jüngsten Gerüchten über einen Staatsstreich wurde mit der bereits erwähnten Kommentarsperre und der Verhaftung von sechs Personen begegnet, die aktiv an der Verbreitung der Gerüchte beteiligt waren. Was soll man denn noch tun? Hunderte einsperren? Eine eingebaute Verzögerung der Verbreitung der Nachrichten in den Mikroblogs implementieren? Fordern, dass die Nutzer ihre Tweets per Fax an das lokale Polizei-Büro schicken? OK, der letzte Vorschlag war nicht ernst gemeint. Aber im Ernst: Wie soll man Fortschritte bei der Bekämpfung von Online-Gerüchten machen, wenn die chinesischen Internetnutzer keinen Lichtstrahl am Horizont sehen in Bezug auf die Authoritäten selbst?

Nachtrag: Der Gott des angebissenen Apfels

Die Nachricht schlug in China ein wie eine Bombe. Gott ist tot. Als Steve Jobs starb, da waren viele Chinesen verwirrt. Sicher, man hatte von seiner Krankheit gehört und man hatte wahrgenommen, dass er bei den Produktpräsentationen von Mal zu Mal gebrechlicher wirkte. Aber tot? Steve Jobs war also wirklich sterblich?

Steve Jobs wurde in China in einem Maße vergöttert, das noch weit über die kultische Verehrung hinausgeht, die man weltweit vor allem in den sogenannten Kreativberufen antrifft. Apple ist mehr als nur eine Firma, die Endgeräte ohne USB-Anschluss baut. Apple ist eine weltumspannende Religion. Ganz sicher. Und wer einmal dieses Leuchten in den Augen eines Grafikdesigners gesehen hat, wenn er sein neues 4S aus der medizinisch-neutral-weißen Verpackung herausnimmt und zum ersten Mal die Finger zärtlich über das Display gleiten lässt, der weiß, dass in Palo Alto keine Computer und Handys entworfen werden, sondern Visionen eines besseren Lebens, die aus den sphärischen Dimensionen der Cloud zu den Menschen gelangen.

Bisher hat sich China durch die Jahrtausende eigentlich gegenüber jeder Form des Glaubens an spirituelle Welten erfolgreich verschlossen. Oder aber die Religion wurde – wie der Buddhismus – so stark an die Gegebenheiten in China angepasst, dass von ihr nicht viel übrig blieb. Auch der Ausschließlichkeitsanspruch von Religionen wurde in China nie so stark betont wie in anderen Ländern. In den Tempeln sieht man auch heute noch Ahnenverehrung, Konfuzianismus und Buddhismus in einer bunten Mischung nebeneinander. Wie beim Kungfu existieren unzählige Schulen. Chinesen sehen meist keinen kategorischen Unterschied zwischen Religionen und warmen Wollsocken. Je mehr man davon hat, desto besser. Und nur weil man die eine Lehre bevorzugt, besteht für viele Chinesen noch lange kein Anlass, nicht auch die andere zu praktizieren. Ich habe einmal einer Studentin geholfen, sich für ein theologisches Promotionsstudium in Deutschland zu bewerben. In der Ausschreibung stand, dass die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion für ein Stipendium vorausgesetzt wird. Als ich sagte, dass sie sich daher leider nicht auf das Stipendium bewerben könne, sagte sie: „Warum? Ich kann doch vorher Christin werden? Oder gibt eine Aufnahmeprüfung?“

Das nun aber gerade der ewig rollbekragte Steve Jobs nach seinem Tod zum Messias der Chinesen geworden ist und in den Großstädten auf zahllosen Plakaten sein grüblerisches Lächeln verbreitet, ist ein wenig inkonsequent.

Schließlich muss man sich beim Thema Tibet von den meisten Chinesen anhören, dass die Gelbmützensekte um den Dalai Lama einst ein religiöses Sklavensystem geschaffen hat und es daher doch vollkommen hirnlos ist, diesen Vertreter einer Ausbeuterideologie zu verehren. Wenn Chinesen in Deutschland in der Exotik-Ecke des Buchladens den tibetischen Religionsführer auf den unzähligen Buchtiteln lächeln sehen, dann wundern sie sich über die Begeisterung, die diesem Mann entgegengebracht wird.

Nun sind zwar nicht alle Geschichten über die Zustände in den chinesischen Apple-Zulieferbetrieben auch nach dem Fakten-Check einer Spiegelgeschichte würdig. Aber unbestreitbar entstehen die paradiesischen Gewinnmargen der Firma mit dem angebissenen Apfel auch durch eine Art Sklavensystem. Apple floriert vor allem deswegen, weil chinesische Arbeitskräfte für einen Hungerlohn die Drecksarbeit machen. Nicht, dass die anderen globalen Firmen, die in China produzieren auch nur einen Deut besser wären. Nein, auch Samsung, Nokia und Siemens und die meisten anderen Konzerne, die in China fertigen lassen, sind auf dem Prinzip der Ausbeutung chinesischer Arbeitskräfte durch Niedriglöhne aufgebaut. Apple hat das Prinzip nur perfektioniert.

Aber warum lieben die Chinesen denn den Mann und seine Firma, für dessen Aktienkurssteigerung zahlreiche ihrer Landsleute in den Werkshallen schuften? Ich kann es mir eigentlich nur durch das Stockholm-Syndrom erklären. Oder durch die Tatsache, dass Apple die besten und schicksten Endgeräte ohne USB-Anschluss baut.

Zensur Spezial: Tencent und Sina Weibo deaktivieren die Kommentarfunktion der chinesischen Mikroblogs

Als ich vor einiger Zeit in meinem Sina-Mikroblog eine Nachricht von einem mir unbekannten Nutzer erhielt, wunderte ich mich kurz über die seltsame Frage, die mir gestellt wurde. „Gab es in Peking wirklich einen Putsch?“, wollte jemand von mir wissen. Ich hielt es für einen Scherz oder einen – weil die Frage auf Deutsch gestellt wurde – nicht gerade unwahrscheinlichen Übersetzungsfehler. Ich hatte diese Nachricht schon beinahe vergessen, doch einige Tage später fingen die englischsprachigen Blogs und Online-Medien an, über diese Putsch-Gerüchte in den Mikroblogs zu berichten – über wilde Spekulationen darüber, dass hinter den verschlossenen Mauern des Regierungssitzes ein Staatsstreich stattgefunden haben soll. Und dann dauerte es noch eine Weile, bis die deutschen Medien diese Gerüchte wiederum bei ihrer China-Berichterstattung aufgriffen. Bisher gibt es weder von offizieller chinesischer Seite, noch von unabhängigen Berichterstattern irgendwelche Anzeichen dafür, dass diese Gerüchte mehr sind, als die typisch chinesischen Internetgeschichten, die sich meist wie ein Lauffeuer verbreiten und an denen oft genug nichts dran ist. Befeuert wurden die jüngsten Geschichten sicherlich durch Spekulationen über die politischen Hintergründe der recht spektakulären Absetzung des bei weiten Teilen der Bevölkerung bekannten, maoistisch orientierten Politikers Bo Xilai.

Schneeballsytemschlacht

Normalerweise würde ich mich einfach darüber ärgern, dass viele Journalisten offenbar nichts Besseres zu tun haben, als sich an der virtuellen “Stillen Post” zu beteiligen. Aber dieses Putsch-Gerücht hat offenbar ein Nachspiel. Die chinesische Regierung scheint sich tatsächlich auf eine Schneeballsystemschlacht einlassen zu wollen. Die aktuellen Gerüchte wurden zum Anlass genommen, strenger gegen deren Verbreitung vorzugehen. Seit heute Morgen kann ich in meinem Mikroblog bei sina.com keine Tweets mehr kommentieren. Und das geht nicht nur mir so. Wie die staatliche Zeitung “China Daily” in ihrer Online-Ausgabe mitteilt, wurden als Strafmaßnahme für die Verbreitung von Gerüchten die beiden großen Mikroblogs bei sina.com und tencent.com angewiesen, ihre Kommentarfunktion für fünf Tage stillzulegen. Laut dem ebenfalls staatlichen Medium “China Radio International” wurden im Zuge des Vorgehens gegen Gerüchte sechszehn Webseiten vom Netz genommen und sechs Personen wegen der Verbreitung von Online-Gerüchten festgenommen.

Salz wird euch nicht schützen!

Die chinesische Regierung, die ja die Medien stark in ihrer Berichterstattung einschränkt und auf verschiedenste Weise die Inhalte zensiert, führt schon seit längerem eine Kampagne gegen die Verbreitung von Unwahrheiten. Zum einen werden Gerüchte aktiv gelöscht, zum anderen wird versucht, aktiv “Aufklärung” zu betreiben. Weil die meisten Chinesen aber aus guten Gründen an der Objektivität der offiziellen Medien zweifeln, werden viele als wichtig eingestufte Informationen weiterhin durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben. So fürchtete man während der japanischen Reaktorkatastrophe auch in China die Gefahren des Fall Outs. Irgendwann kam dann das Gerücht auf, dass der Verzehr von gewöhnlichem Kochsalz ein effizienter Schutz gegen Verstrahlung sei. Innerhalb eines Tages waren daraufhin in Peking sämtliche Salzvorräte der Supermärkte leergekauft. Die offiziellen Medien strahlten zahllose Sondersendungen aus, um dieses unsinnige Gerücht und die dadurch ausgelösten Panikkäufe zu verhindern.

Only good news are good news

Vorkommnisse wie diese zeigen, dass Gerüchte in China tatsächlich eine reale Gefahr für Leib und Leben darstellen können. Mit Panikreaktionen großer Bevölkerungsteile ist in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern schließlich nicht zu spaßen. Die Reaktion der Regierung auf Gerüchte ist jedoch weitgehend hilflos und zeigt nur, dass man dort die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hat. Denn der Grund, warum in China die Menschen viel stärker als im Westen geneigt sind, auch den wildesten Gerüchte Glauben zu schenken, liegt eindeutig an der stark eingeschränkten Pressefreiheit. Durch eine freie Berichterstattung werden ja auch die Wahrheiten ans Licht fördert, die nicht im Sinne der Regierung sind. In China hingegen wird die Informationsweitergabe der Medien oft gedeckelt und „harmonisiert“, wie es im chinesischen Internetjargon heißt. Die Nachrichten der offiziellen Medien bestehen daher noch immer zu einem überwiegenden Teil aus Erfolgsmeldungen. Im modernen Journalismus westlicher Prägung sagt man „Only bad news are good news“, weil oft nur das Skandalöse, das Gefährliche, das Böse es in die sensationsgierigen Medien schafft. Für die weitgehend harmonisierte chinesische Medienlandschaft gilt das genaue Gegenteil: „Only good news are good news“. Wenn aber die Menschen kein Vertrauen in die Fähigkeit der Medien haben, über Skandale zu berichten, werden sie sich die Informationen über Umweltrisiken, politische Fehlentwicklungen, Gefahren für die Gesundheit und all die anderen Dinge, die unabdingbar Teil moderner Gesellschaften sind, zwangsläufig aus anderen – seriösen und unseriösen – Quellen besorgen.

Der Streisand-Effekt – Don’t think of an Elephant!

Ich halte die Regulierungs- und Zensurmaßnamen im chinesischen Internet, die derzeit angewendet werden, für insgesamt eher wirkungslos. Die Sperrung von Suchbegriffen, die Löschung von Tweets, und nun die “Bestrafung” der Mikroblogbetreiber durch Deaktivierung der Kommentarfunktion werden weder die Debatten unterbinden, noch Gerüchte vermindern. Die chinesischen Internetbenutzer haben bisher noch immer einen Weg gefunden, die Maßnahmen zu umgehen. Die Bemühungen, eine offene, kontroverse und teilweise sicherlich auch unsachliche Debatte über gesellschaftliche und politische Themen zu verhindern, werden langfristig so erfolgreich sein wie die Aufforderung, nicht an einen Elefanten zu denken. Denn ein Effekt, der in Zeiten des Internets immer wichtiger wird und den es bei jedem Versuch der Regulierung zu bedenken gilt, ist der so genannten Streisand- Effekt.

Als Streisand-Effekt wird bezeichnet, wenn durch den Versuch, eine Information zu unterdrücken, genau das Gegenteil erreicht wird, nämlich die Information besonders bekannt gemacht wird. Seinen Namen verdankt der Effekt Barbra Streisand, die den Fotografen Kenneth Adelman und die Website Pictopia.com 2003 erfolglos auf 50 Millionen US-Dollar verklagte, weil eine Luftaufnahme ihres Hauses zwischen 12.000 anderen Fotos von der Küste Kaliforniens auf besagter Website zu finden war. Damit stellte sie aber erst die Verbindung zwischen sich und dem abgebildeten Gebäude her, woraufhin sich das Foto nach dem Schneeballprinzip im Internet verbreitete.
http://de.wikipedia.org/wiki/Streisand-Effekt

Langfristig wird der Streisand-Effekt in China dazu führen, dass die Bevölkerung sich genau für die Themen besonders stark interessiert, die auf dem Index stehen. Welche Worte bei den Weibos zensiert werden, lässt sich schon heute auf vielen Internetseiten nachlesen und je aktiver und vehementer die Regierung gegen diese wahlweise auf Tatsachen oder Unsinn basierenden Diskussionen vorgeht, desto mehr wird die Öffentlichkeit zu diesen Themen herausfinden wollen. Möglichkeiten dazu bietet das Internet genug. Auch das zensierte.

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UPDATE (16:33):
Sina Weibo erlebt gerade das, was vom Sprachlog vor kurzem zum Anglizismus des Jahres 2011 gekürt wurde: Einen veritablen „Shitstorm“. Denn zwar wurde die Kommentarfunktion deaktiviert, aber beim „reposten“ kann man immer noch seine Meinung hinzufügen. Und davon wird jetzt ausführlich Gebrauch gemacht, um sich über diese sonderbare Form der Gerüchtebekämpfung entweder aufzuregen oder einfach nur zu amüsieren.

Das Lächeln der jungen Frau Liu und die Selbstkultur

Es ist nicht lange her, da schwappte eine Welle der Aufregung durch den chinesischen Makrokosmos der Mikroblogs. In einer Fernsehsendung hatten sich zwei ungleiche Kontrahenten über mehrere Runden ganz unverhofft ein verbales Duell geliefert, das streckenweise an Spannung mit einem guten Boxkampf mithalten konnte. An den Computern in ganz China saßen die Punktrichter, die mit ihren 140-Zeichen-Analyen darüber entschieden, wer als Sieger aus dem Schlagabtausch hervorgegangen ist. Das Votum der Mikroblogs war eindeutig: Die junge Frau Liu.

Die überwältigende Mehrzahl der Mikroblogs, in denen derzeit noch in großer Zahl das aufstrebenden Bürgertum seine Stimme findet und zu denen Chinas politische und wirtschaftliche Elite ebenso wie die Landbevölkerung erst langsam einen Zugang entwickelt, votierte in Online-Umfragen für die junge Frau und sympathisierte mit ihrer direkten, an Dreistigkeit grenzenden Schlagfertigkeit. Und halb China versuchte sich an der Analyse dieser für chinesische Verhältnisse sehr offenen Konfrontation. Hier nun meine Analyse.

Zunächst die Vorgeschichte: Auf einem Tianjiner Fernsehsender, der auch überregional zu empfangen ist, war eine neue Show angelaufen, in der junge Menschen auf der Suche nach beruflicher Veränderung sich den harten Fragen einer Jury aus erfolgreichen Geschäftsleuten stellen müssen. Die Show funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie DSDS und all die anderen Mittelmaß produzierenden Durchlauferhitzer fragwürdiger Talente. Auch die chinesischen Fernsehsender setzen bei der Unterhaltung auf die demokratischen Entscheidungen des Publikums, wenn es darum geht, Ausschau zu halten nach originellen Gesangsstimmen und perfekten Modellmaßen. Und wie überall sonnen sich die Teilnehmer für kurze Zeit in ihrer landesweiten Popularität, um dann alsbald wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Der größte Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Casting-Industrie besteht derzeit jedoch darin, dass die chinesische Unterhaltungsbranche kaum Anstalten macht, die in Deutschland üblichen, sadomasochistisch geprägten Elemente dieser Fernsehgattung zu kopieren. In China gibt es keine Unterhaltungssendungen, derer Prinzip es ist, die Entwürdigung und Erniedrigung medial inszenierter Verlierertypen als postsatirisches Schauspiel zu vermarkten. Auch die niedersten aller Mediengeschöpfe, jene Moderatoren, die Mobbing, Schadenfreude und Beleidigungen unter dem Deckmantel der Ironie zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen, gibt es in China nicht. Vielleicht muss man sagen: Noch nicht.

Nicht, dass es in China keinen Spott gäbe, der sich über die Skurrilen und Verkorksten ausschütten lässt. Das chinesische Internet ist voll von Selbsdarstellern, die sich vollkommen freiwillig auf der Suche nach ein wenig Ruhm an den virtuellen Pranger stellen, bloß um von der Internetgemeinde mit Schmutz beworfen zu werden. Aber im Staatsfernsehen, in dem sich die Kräfte des Marktes nur in den Werbepausen ein wenig austoben können und die oft brutale Realität Chinas nur selten hinter den Weichzeichner-Orgien der Fernsehregisseure hervortritt, da gibt es für die Schande keine Öffentlichkeit. Auch in den Talk-Shows tragen die Menschen, die sich seelischen entblößen und die dadurch Opfer ihrer eigenen Lebenswelt werden könnten, sehr oft Masken, damit sie nicht erkannt werden.

Nun könnte man annehmen, dass Zhang Shaogang, der Medienprofi, der auch schon als gestrenges Jury-Mitglied einer Casting-Show für Nachwuchsmoderatoren in Erscheinung getreten ist, in der Fernsehsendung “Feichang Moshu (非你莫属)“ einfach ein bisschen Krawall anzetteln wollte und die mediengerechte Kontroverse bewusst gefördert hat, als er die junge, selbstbewusste Kandidatin Liu Lili abstrafte, wie ein unangenehmer Oberlehrer eine aufsässige Siebenjährige. Vieles spricht jedoch dafür, dass es Zhang Shaogang nicht auf den bloßen Show-Effekt angelegt hat, als er die Fernsehsendung zu einem Gerichtshof über Liu Lilis Lebenseinstellung werden ließ. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen „echten“ Konflikt gehandelt hat.

Der Konflikt, der zwischen den beiden ausgetragen wurde, ist vielleicht auch ein Konflikt, der etwas über die nationale Psyche Chinas zu Tage gefördert hat, das wie ein verdrängtes Kindheitstrauma die moderne chinesische Gesellschaft begleitet. Ich denke, dass Liu Lilis Auftreten, das für jüngere Menschen in China in keiner Weise ungewöhnlich ist, einen Bruch mit der herkömmlichen Einstellung der Chinesen zum westlichen Ausland darstellt. Es geht im Grunde aber auch um eine viel tiefer gehende Frage.

Chinas junge Generation lebt seit frühester Kindheit in engem Kontakt mit ausländischen, kulturellen Erzeugnissen und viele haben eine enge, emotionale Bindung zu nicht originär chinesischen Lebenseinstellungen entwickelt. Die spannende Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Jugend in der Zukunft weiterhin dem Bedürfnis der älteren Generationen nachkommen wird, die Welt fast zwanghaft aus chinesischer Perspektive wahrzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich genug über China weiß, um mir die Rolle eines Psychiaters zuzutrauen, aber was soll’s. Ich nehme ja kein Geld dafür.

Die 24-jährige Liu Lili hat in ihrer Kindheit drei Jahre in Neuseeland verbracht und offensichtlich hat diese Zeit sie sehr geprägt. Sie stammt aus der Provinz Hubei und stellt sich zu Beginn der Sendung selbst vor. Sie hat an der Fremdsprachenhochschule in Beijing einen Bachelor in Englisch gemacht und sagt über sich selbst, dass es ihr positivster Charakterzug sei, die Dinge direkt beim Namen zu nennen.

Direktheit als positiver Charakterzug einer Chinesin? Wenn es eines gibt, das Chinesen, besonders die Frauen normalerweise als ungehobelt ablehnen, dann ist es doch die Geradlinigkeit und Direktheit. Was die Chinesen gern als “Hanxu (涵蓄)“ bezeichnen und womit viele auch mit Stolz die chinesische Kommunikationskultur charakterisieren, ist eine Indirektheit, die es gerade Ausländern sehr schwer macht, sich in der Gedankenwelt der Chinesen zurecht zu finden. Liu Lili will das nicht. Sie will direkt sein.

Ansonsten erscheint Liu Lili zunächst als normale junge Frau, die erzählt, dass sie manchmal auch auf den eher trashigen Look (臭美) steht, gerne Shakespeare liest, aber am allerliebsten in den Mikroblogs surft. Sie sieht sich selbst als „Workaholic“, nimmt das Leben jedoch auch nicht zu schwer.

Der Moderator der Show scheint jedoch von Anfang an keinen besonderen Gefallen an ihrem Auftreten zu finden. Als Liu Lili mit den Moderatoren in eine Art Streitgespräch gerät, ob sie nicht doch eher die Sonette von Shakespeare meint, die es ihr angetan haben und nicht die „Helden-Couplets“, von denen auch die Jury noch nie etwas gehört hat, fällt sie bei der Erklärung kurz ins Englische. Sie sagt „It’s kind of like…“.

Auch wenn man das Gefühl hat, dass Liu Lili ein wenig mit ihren Englischkenntnissen und ihrem Auslandsaufenthalt im fernen Neuseeland kokettiert, so wirkt es auf mich noch lange nicht so affektiert wie die Gespräche, die man oft in den Einkaufzonen der Großstädte mitverfolgen kann. Shanghais und Beijings „Upper-Nose-Class“ hat es sich doch schon lange zur Sitte gemacht, englische Worte und ausländische Urlaubsaufenthalte in Gespräche zu streuen wie Schokoladenstreusel auf den Cappuccino von Starbucks. Über dieses Phänomen lacht man sich im Internet seit längerem kaputt und keiner hat es besser auf den Punkt gebracht, als die landesweit bekannte Schwester „hold住“ , die grell geschminkt in einem bizarren Chinglisch von ihrem Shopping-Trip in Paris berichtet.

Auch wenn die chinesische Regierung im letzten Jahr beschlossen hat, das lateinische Alphabet aus Zeitungstexten herauszuhalten, sieht die sprachliche quasi-bilinguale Realität der Großstädte doch ganz anders aus. Das junge China jedenfalls liebt den Mix mit dem Ausland ebenso wie das klassischste aller chinesischen Club-Getränke: schottischen Whisky mit grünem Eistee.

Aber der Moderator Zhang Shaogang hält nichts von Mischungen. Er ist Chinese, und im Verlaufe des Gespräches sieht er es offenbar als eine Art Dienst am Vaterland, auch Liu Lili daran zu erinnern, dass Chinesen nicht aus ihrer Haut können. Denn als Liu Lili über ihre Zeit in Neuseeland berichtet und erzählt, dass sie nicht zu lange von China fortbleiben könne, weil in Neuseeland der Lebensrhythmus einfach zu langsam ist, wird der Moderator zum Oberlehrer des chinesischen Nationalstolzes.

Hier der Dialog:

Moderator (finster): „Warte mal, warum habe ich das Gefühl, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft, wenn ich mich mit dir unterhalte? Wenn ich mit meinen Freunden spreche, frage ich sie wohl kaum ´Hallo, was hältst du eigentlich von China?` Das ist unser Land. Wenn wir in der Heimat sind, müssen wir dann noch darüber sprechen, als wäre es ein Eigenname (用大写来称呼) ?“

Liu Lili: „Wenn Sie über China sprechen und das Wort ´Heimatland` benutzen, ist das doch auch ein Eigenname.“ (Das Publikum raunt)

Moderator (sauer): „Ich sage: ´Wir hier`“

Liu Lili: „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass man sich hier etwas gewählter ausdrücken sollte. Darum habe ich dieses rhetorische Mittel gewählt. Ich sieze sie ja schließlich auch.“

Moderator: „So, wie du mit mir sprichst, lässt es mich wieder kalt erschaudern. Zuerst sei bitte nicht so verkrampft und als nächstes: Sprich einfach normal, OK?“

Im weiteren Verlauf des Gespräches weist der Moderator Liu Lili noch mehrmals zurecht und kritisiert ihre Aggressivität. Liu Lili hingegen fühlt sich von den Fragen des Moderators und auch von der Jury angegriffen und unter Druck gesetzt. In einer Szene wird sie aufgefordert, sich doch auch mal von ihrer natürlichen Seite zu zeigen und zu lächeln. Als sie das dann tut, ist sich der Moderator nicht zu schade, ihr Lächeln als „gruselig“ zu beschreiben.

Auch in keiner der weiteren Diskussionen hält Liu Lili es für angebracht, auf die Kritik reuig und demütig zu reagieren, sondern stuft die Kritik ihrerseits als unangemessen ein. Und ein Aspekt fällt auf: Die Kritik der Juroren bezieht sich in keinem der Fälle auf ihre Fähigkeiten. Stattdessen sind sie der Auffassung, Liu Lili habe ein Problem mit ihrer Einstellung. Sie sehen es als Affront an, dass Liu Lili dieses Vorstellungsgespräch nutzt, ihre Schlagfertigkeit und ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Liu Lili verlässt die Show, nachdem das einstimmige Votum der Jury entschieden hat, dass sie als Mitarbeiterin absolut ungeeignet ist. Ein Juror ergreift kurz das Wort für sie und erklärt die aktuelle Missstimmung mit kulturellen Unterschieden, die er Liu Lilis Auslandserfahrung zuschreibt. Aber am Ende knipst auch er das Licht aus.

Wie komme ich nun darauf, diesen Zwist so weit auszulegen, dahinter mehr als nur die Animositäten eines selbstverliebten Moderators und einer mit der Herde blökenden Schafs-Jury zu sehen? Nun, der Satz, der den Moderator so sehr aufgeregt hat, dass er seiner Moderatorenrolle in keiner Weise mehr gerecht wurde, war Liu Lilis politisch inkorrekter Satz, der nicht mit „Wir Chinesen…“ begann. Sattdessen beschreibt Liu Lili China mit einer gewissen Distanz, die fast schon einen Tabubruch in der chinesischen Gesellschaft darstellt.

Chinesen sprechen über ihre Landsleute so gut wie nie in der dritten Person. Die Deutschen können das sehr gut (wie dieser Satz zweifelsfrei belegt) und tun sich oft eher etwas schwer, sich als Kollektiv zu verstehen; in China ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Für diesen Kollektivierungsdruck, der die nationale Identität Chinas begleitet, finden sich im Alltagsleben und in politischen Entwicklungen in China viele Anzeichen.

Ich denke, dass die Situation ein wenig vergleichbar ist mit der Situation in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Die Generation meines Großvaters weigerte sich noch vollkommen, die Lebens- Arbeits- und Essgewohnheiten, die plötzlich nach Deutschland schwappten, zu akzeptieren. Man konstruierte ein Deutschlandbild, das an der Realität der jungen Menschen, die mit Coca Cola und dem „American Way of Life“ als Teil ihres Lebens groß geworden sind, vollkommen vorbei lief. Dieses Bild hielt sich nicht sehr lange. Wenn die deutsche Kultur nicht in der Lage gewesen wäre, auch Elvis, Marylin Monroe und die Beatles in ihren Kanon aufzunehmen, dann hätte sich die Jugend von ihr abgewandt.

Ich behaupte keinesfalls, dass die Geschichte von Liu Lili nur unter diesem Aspekt gedeutet werden kann, aber sowohl in ihrer spontanen und direkten Art, ihrer Biographie als auch in ihrer Sprache – bei dem Namen Shakespeare geht ihr das Englische Original deutliche flüssiger von den Lippen, als die korrekt sinisierte Lehnübersetzung Shashibiya (莎士比亚) – stellt Liu Lili ihre Identifizierung mit dem Ausland unter Beweis, die vielen Chinesen suspekt ist.

Die aktuelle Kulturpolitik Chinas, die immer stärker betont, den chinesischen Charakter der Kultur vor ausländischen Einflüssen zu bewahren, spricht eine ähnliche Sprache. Aber – und das ist denke ich der Kern dieses Konfliktes – die Abschottungsbemühungen und die Besinnung auf das genuin Chinesische, deuten wohl eher auf ein unterbewusstes Wissen um den Verlust der Anziehungskraft des chinesischen Kollektivwesens traditioneller Prägung hin. Kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nur sehr schwer durch Restriktionen beeinflussen. Eventuell ist es möglich, durch Tabuisierungen von Lebens- und Denkweisen für eine Weile zu verhindern, dass eine Strömung zu einem Strom wird. Auf lange Sicht aber sind sowohl Politik als auch die versammelten Traditionsbewahrer recht machtlos, gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Durchmischungen zu verhindern, insbesondere wenn der Gral, den sie hüten, seinen Glanz verloren hat.

Welcher chinesische Jugendliche wird denn davon abzuhalten sein, über die Frechheiten, die direkte Art des Humors und die Dreistigkeit der Comic-Figuren im „Kungfu-Panda“ zu lachen, wenn die chinesische Variante ein uninspirierter und schlecht animierter Kungfu-Hase mit öden Gags ist. Das chinesische Wir-Gefühl wird nur dann in der Globalisierung seinen Platz finden können, wenn es flexibler wird und fremde Einflüsse auch auf kultureller Ebene als etwas Gutes anerkennt.

Falls irgendeine Knalltüte auf die lustige Idee kommen sollte, diesen Text ins Chinesische zu übersetzen, um mir eine Horde der immer noch zahlreichen, nationalstolzen Internetkaputtnicks auf den Hals zu hetzen, hier noch mal Klartext: Ich will hier keinesfalls der Überlegenheit der westlichen Kultur das Wort reden. Im Gegenteil – ich bin eher der Meinung, dass der gesellschaftliche Eskapismus, die Verabsolutierung der Ironie und ein falsch verstandener Liberalismus große Teile der westlichen Populärkultur zu einer von Zynikern bewohnten, intellektuellen Wüste verwandelt hat, in der selbst bei Regen oft nur noch Unkraut gedeiht. Die Chinesen sollten einen Teufel tun, so etwas Unsinniges wie beispielsweise das Privatfernsehen westlicher Prägung zu vermissen, denn Trash braucht keine Öffentlichkeitsarbeit.

Aber: Gute Dinge sind gut, egal aus welchem Land sie kommen. Schlechte Dinge sind schlecht, egal wer sie sich ausgedacht hat. Dinge vermischen sich und mit ein wenig Abstand, mit einer gesunden Distanz zu seinem Land sieht man die Dinge besser. Wenn man sich nicht in jeder Hinsicht als Chinese fühlt, dann ist das normal und es wird Zeit, die Idee von China aus der panikartigen Umklammerung seiner konservativsten Kräfte zu befreien. Das gilt im Grunde ja für jede Kultur. Auch bei der deutschen Debatte um die Leitkultur und um das angebliche Multi-Kulti-Desaster wird gerne übersehen, dass der einzige Weg, eine Kultur zu fördern über dessen Weiterentwicklung, Öffnung und Anpassung an die komplexe Wirklichkeit geht. Kulturbewahrung ist immer auch ein aktiver Transferprozess und bedarf der Aktualisierung und einer bewussten Integration von äußeren Einflüssen in das vorhandene Werteumfeld.

Ich habe inzwischen fast zwanzig Prozent meines Lebens in China verbracht und auch wenn ich zu vielem in China keinen emotionalen Zugang entwickle, fühle mich irgendwie zu zwanzig Prozent als Chinese. Daran ändert auch nicht, dass kein Chinese einem Deutschen, der nicht in China geboren ist und der somit kein „Ahne des Drachen“ ist, jemals gestatten würde zu sagen: „Wir Chinesen…“.

Rajvinder Singh hat geschrieben, dass jeder Mensch eine Selbstkultur hat, die uns davor bewahrt, alte Muster bis in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Menschen entwickeln aus interkulturellen Erfahrungen, denen wir alle ausgesetzt sind, eine eigene Kultur, die über die kollektive Identität hinausgeht. Nur wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, die zunehmend globalisierte Selbstkultur ihrer Menschen in den langen Strom der Geschichte zu integrieren, werden die Menschen auch in Zukunft etwas haben, das sie für bewahrenswert halten.

Ist es nicht seltsam, dass China, eine Nation, die sich mit ihrer ganzen Kraft der Entwicklung und der Idee der besseren Zukunft verschrieben hat, ihre nationale Identität vor allem auf der langen Geschichte und Tradition aufbaut? Manchmal kommt es mir so vor, als laufe China mit großen Schritten in Richtung Zukunft. Weil aber niemand sehen möchte, wie diese Zukunft wirklich aussieht – wie die neue Zeit immer mehr auch den Menschen verändert – hat man sich umgewandt, den Blick in die Vergangenheit gerichtet und läuft einfach rückwärts mit großen Schritten weiter.

Manchmal wird diese Verdrängung sichtbar. Wenn zum Beispiel ein chinesischer Moderator nicht in der Lage ist, auf selbstbewusstes und unabhängiges Auftreten mit Souveränität und sachlicher Kritik zu antworten und stattdessen eine vorgeblich falsche Einstellung zum Anlass nimmt, sich selbst zu erhöhen, wird er es kaum schaffen, dieses „Wir-Gefühl“ zu fördern, das er so vehement einfordert.

Das Ende der Geschichte: Liu Lili hat inzwischen ein Job-Angebot einer großen chinesischen Zeitschrift, deren Verantwortliche ihre Eigenständigkeit zu schätzen wissen.