#1 Netzchinesisch Buzz – Douyin

Douyin (抖音) bedeutet auf Chinesisch „schütteln Töne“ und so ist es auch. Und Douyin ist schnell, sehr schnell. Als hätte Youtube vergessen, sein Ritalin zu nehmen. Zu Beginn wundert man sich noch, warum gerade diese App so durch die Decke geht, aber nach etwa fünf Minuten hat man etwas gefunden, was einem gefällt. Ein ziemlich dicker junger Mann tanzt, Landschaft, Berge, Bungee-Jumping. Eine Frau malt ein Aquarell, Play-Back-Sänger, Witze, Make-Up-Tutorials, Tanzeinlagen. Alles trommelt auf die Hirnrinde, fast immer im Takt der Musik, die den meisten Videos hinterlegt ist.

Die meisten, die Douyin ausprobiert haben, sagen, dass es süchtigt macht. Die App ist eine Synapsenspülung, die man vom Zappen im Fernsehen kannte, und die man im Social Media durch heftiges Durchwischen des News-Feeds erreichen konnte. Aber Douyin hat einige Features, die das Ganze eine Nummer schneller machen:

 

  • Anders als z.B. bei Youtube scrollt man bei Douyin durch die Videos, die sofort starten. Was einem nicht gefällt, wischt man weg. Dadurch wird man mit Videocontent geradezu bombardiert.
  • Die Videos sind alle im Hochformat. Die Plattform hat keine Wurzeln in der Computerwelt, nur das Smartphone ist das Medium.
  • Die meisten Videos sind nur 15 Sekunden lang. Ein Blick, ein Lacher, ein Tanzmoove und das war es auch schon wieder. Nichts kann langweilen.
  • Der Algorithmus achtet sehr genau darauf, was man wie lange ansieht und was man favorisiert. Schnell bekommt man Videos in den Feed, die nach den eigenen Vorlieben ausgesucht sind.
  • Aufnehmen geht kinderleicht. Mit dem Smartphone hat man ein Video in wenigen Minuten aufgenommen, mit Musik hinterlegt und bearbeitet.
  • Es gibt zahlreiche Filter, die einen sofort jünger, schlanker und attraktiver aussehen lassen. Die meisten Protagonisten der Videos haben Comic-artige Züge.

Hier ein Showreel:

 

Inzwischen hat sich die Plattform erweitert. Live-Streaming ist eines der Features, die hinzugekommen sind. Luxus-Marken machen dort Werbung. Eine Version unter dem Namen TikTok lässt sich in den Appstores außerhalb des chinesischen digitalen Ökosystems herunterladen. TikTok hat aktuell die höchsten Downloadzahlen aller Nicht-Spiele-Apps weltweit.

 

 

#3 Schönes neues China: Kein Artenschutz für Hasenväter

 

Unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Da sind wir nicht so streng. Es ist doch auch wichtig, dass einem der Job Spaß macht. Er kann es sich also selbst aussuchen. Zahnarzt oder Rechtsanwalt. Und er hat auch noch ein bisschen Zeit. Er ist zwei. Sein kleiner Bruder hat leider nicht mehr so viel Freiheit. Wenn der Große Zahnarzt werden möchte, und im Moment sieht es so aus, dann wird der Kleine Rechtsanwalt. Als Familie sind wir sonst etwas zu einseitig ausgerichtet.

Das Ganze war ein Kompromiss. Die Eltern von Ehefrau sind da nicht so tolerant. Den Beruf selbst wählen? Nein, soetwas wissen die Eltern doch viel besser. Die berufliche Laufbahn liegt sicher und sanft in den sorgenden Händen der Familie. Und wenn man die lieben Kleinen auf einen steinigen Karriereweg schickt, sollte man nicht kurz vor dem Bewerbungsgespräch anfangen. Das Rennen wird am Anfang verloren, sagt man in China und so wird also von Beginn an trainiert, geschult, geschunden, gelehrt und geschlagen. Aber immer im Sinne der Kinder. Sie werden es einem danken. Eines Tages, wenn Sie einen guten Job haben, ihre düstere Kindheit vorüber und die Narben verheilt sind, dann werden sie froh sein, dass wir unnachgiebig mit ihnen waren. Dass man für die Familie, das ganze Land und natürlich auch für die Kinderchen selbst das meiste aus ihnen herausgeholt hat. Und ach, was werden mit dieser Methode für Fortschritte erzielt. Fortschritte, von denen die Kuscheltierpädagogen des Westens nur träumen können.

Vor inzwischen fast zehn Jahren, da ging ein Raunen durch die deutschen Lande. Hast du es schon vernommen? Hast du es schon gehört? Es ist unglaublich! Die Chinesen! Ja, in Shanghai, da haben sie mitgemacht beim amtlich zertifizierten Bildungsarmdrücken der Weltjugend, auch bekannt als PISA. Und bei dieser weltumspannenden Schul-Spartakiade hat nun die chinesische Volksrepublik, vertreten durch eine Mannschaft aus kurzsichtigen und humorlosen Lernautomaten gleich auf Anhieb den ersten Platz gemacht. Weltspitze in den Disziplinen Lesen, Rechnen, fleißig sein. Die Chinesen! Nein, doch, oh! Wer hätte das gedacht.

Und es ist ja wirklich auch der Wahnsinn. Was der Chinese nicht alles lernen kann, wenn, und das bleibt zu beachten, ja wenn er denn nur früh genug damit anfängt. Was Xiao Wang nicht gelernt hat, das wird Lao Wang erst recht nicht lernen, auch wenn man es in seinen Schädel kloppt. Nein, dann ist es zu spät und das Leben verhunzt. Das kann passieren, muss aber nicht, wenn man, wie schon gesagt, einfach ganz früh anfängt. Und mit früh meine ich hier nicht den Kindergarten oder die Vorschule. Denn dort gibt es in China bereits die ersten Prüfungen.

Bildungbiografien beginnen in China deutlich vor der Geburt. Tai Jiao ist das Stichwort. Das klingt ein bisschen wie Tai Qi, ist aber kein Schattenboxen. Tai Jiao bedeutet „Embryoerziehung“ und es ist genau das. Vorgeburtliche Erziehung. Mozart am Schwangerschaftsbauch. Es sollen schon Gedichte rezitierende Ehemänner am Bauch der Gattin gesichtet worden sein, Bauchnabel als Mikrophon. Wichtig ist auch, dass die werdende Mutter sich während der Schwangerschaft ausreichend geistig betätigt, denn auf diese Weise lernt das Kind gleich mit.

Früh übt sich, wer eine Tigermutter sein will. Apropos Tiger: Der Text von Bruder Jakob geht auf Chinesisch so: „Zwei Tiger, zwei Tiger, laufen schnell, laufen schnell. Einer ohne Ohren, einer ohne Schweif. Sehr seltsam. Sehr seltsam.“ Daran musste ich manchmal denken, als ich das Buch von Amy Chua gelesen habe. Auf Deutsch heißt es „Die Mutter des Erfolgs“, im Original trägt es den schönen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mom“. Ich musste beim Lesen an dieses Kinderlied mit den zerzausten Tigern denken, weil vieles in dem Buch auch sehr seltsam ist. Hinzu kommt, dass die arme Autorin von bösen Gutmenschen-Westeltern immer wieder ganz schön hart rangenommen und arg zugerichtet wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.

Die Grundthese des Buches geht in etwa so: Wenn sich deine Kinder fragen, ob das jetzt ein Bootcamp ist, oder das eigene Zuhause, dann läufts mit der Erziehung. Westliche Eltern sorgen sich um die Psyche der Kinder. Chinesische Eltern nicht. Sie setzen Stärke voraus. Keine Schwäche. Chinesen verlangen erstklassige Noten in allen Fächern, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Ist ein Kind nicht spitzenklasse, gehen sie davon aus, dass es sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen und zu beschädigen. Das steht da so in diesem Buch!

In dem Buch sitzt Amy Chua einmal mit unchinesisch sozialisierten Hasenmüttern gesellig zusammen. Ganz beiläufig erzählt die heroische Tigermutter, dass sie ihre Tochter hin und wieder als „menschlichen Müll“ bezeichnet, wenn ihren Ansprüchen an angemessene Menschendressur nicht genüge getan wird. Und da empören sich die kuschelpädagogisch verhätschelten Westmütter derart. Eine dieser verweichlichten Psycho-Mamas verlässt sogar die Tupperparty. Um Himmels Willen! Aber warum wollen sie denn nicht verstehen, dass Amy Chua selbst, gequält und gedemütigt von ihren eigenen Eltern es ohne Tortur niemals geschafft hätte, jene anerkennungsgeile, inzwischen sogar weltweit bekannte Erfolgsfetischistin zu werden, die sie ist. Auch sie hat all das doch nur erreichen können durch die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche, ihrer Individualität und Persönlichkeit. Und dass das nichts als wohlstandsverwarloster Firlefanz ist, weiß doch jeder. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach Schulnoten, Klavierpokalen und der Färbung der Abdrücke am Geigenhals. Und das ist doch alles nur der Anfang.

In einigen chinesichen Schulen gibt es jetzt Gesichtserkennungssoftware, die die Ausdruck auf Aufmerksamkeit analysiert. Da lässt sich in Sachen Kinderdressur noch einiges optimieren im schönen neuen China. Von nichts kommt nichts. Wenn man Fußballprofi werden will, dann muss man doch auch die Schindereien eines Felix Magath ertragen. Und wenn man ein gutes, angepasstes, auf Unterordnung gedrilltes Mädchen werden möchte – und wer um Himmels willen möchte das nicht – der wird es, wenn nicht jetzt, doch ganz bestimmt im Nachhinein einsehen, dass die Mutter zur Furie werden musste.

Aber unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Der zweite hat es da nicht ganz so leicht.

#2 Schönes neues China: Die Geburt der Deunesen

 

Wir haben jetzt zwei Söhne. Zwei deunesische Stammhalter. Zwei kleine Kaiser. In China ist das gerade in den großen Städten immer noch sehr selten. Denn obwohl die Ein-Kind-Politik im Jahre 2015 vollständig beendet wurde, bekommen Großstadtchinesen selten mehr als ein Kind. Zu teuer.

Unser erster Sohn ist in Berlin geboren. Der zweite in Beijing. Einiges war bei beiden Geburten gleich. Einiges ist ja immer gleich. So hat sich Dingding bei beiden Schwangerschaften immer plötzlich übergeben. Im Auto oder auch in die Einkaufstüten. Ihr wurde auch immer wieder ganz „windelig“, wie sie es nannte.

Einiges war aber auch ganz anders. Für die erste Geburt in Berlin war Schwiegermutter Laoma eigens aus China angereist, als Yuesao: Wochenbettlerin. Hebammen gibt es in China nicht wirklich. Dafür ist aber die Nachsorge um so sorgenvoller.

Es ist soweit. Wir sind im Martin-Luther-Krankenhaus und Laomao sitzt neben mir. Sie sagt, dass es doch viel besser wäre, wenn Ehefrau ihr Kind in China bekommen würde. Bei Problemen könnte man die Verwandten fragen. Die würden schon wissen, was zu tun ist. Ich sage nichts, weil ich der Meinung bin, dass die Verwandten von Ehefrau regelmäßig Hokuspokus mit Medizin verwechseln. Stattdessen zeige ich Laoma das CTG, an das Ehefrau angeschlossen ist und das etwas ganz Wichtiges misst. „Hier, diese Zahl, die zeigt an, wie hoch das CGT ist“, erkläre ich und tippe an den Apparat, bei dem sofort ein rotes Warnlicht aufleuchtet. Daraufhin stürmt eine Ärztin herein, schimpft mit mir und geht wieder. Kurz darauf ist sie wieder da. Dingding hatte einen Blasensprung. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragt Laoma Chinesisch. „Ach“, sagt die Ärztin mit Berliner Dialekt „Ick mach hier jetzt erst mal det CTG zu Ende und denn gucken wa. Ick hör hier erst uf, wenn jemand davonschwimmt.“ „Was hat die Ärztin denn denn gesagt?“, fragt Laoma. Ich übersetze die Diagnose und aber meine Schwiegermutter versteht sie nicht. Berliner Humor lässt sich schwer ins Chinesische übersetzen. Ohnehin ist eine Geburt in einem deutschen Krankenhaus für Chinesen eine Herausforderung.

Als wir den Kreissaal zum ersten Mal besichtigten, ist Ehefrau überrascht. Es gibt einen Gymnastikball, eine Badewanne und eine Sprossenwand. „Man kann det och in Bett tun“, sagt die Schwester. „Det muss aber nicht.“ „Das ist ja wie im Puff in Dongguan“ sagt Ehefrau auf Chinesisch und als die Ärztin fragt, was sie gesagt habe, antworte ich. „Sie findet es sehr schön.“ Denn auch Tianjiner Humor ist schlecht zu übersetzen.

Dingding und ich waren vorher bei einem Schwangerschaftsvorbereitungskurs. Zusammen. Beide. Eine Tatsache, die bei meinen chinesischen Verwandten große Verwunderung auslöste. Chinesische Männer beschäftigen sich mit einer Geburt normalerweise eher indirekt. Und Schwangerschaftsvorbereitung besteht in China vor allem darin, der Frau orakelnde Ernährungstipps zu geben. Es wird zum wichtigsten Thema überhaupt, welche Tier- und Pflanzenarten aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt herangeschafft werden könnten. Großtanten sind sich ganz sicher, dass dieses oder jenes getrocknete Kraut oder Tier sich ausgesprochen positiv auf die Schwangerschaft auswirkt. Ich habe zwei Wochen vor der Geburt auf einem russischen Fischmarkt in Berlin nach einer Art Forelle mit vier Bauchflossen gesucht. Dass Dingding auch auf Ratschläge von geschulten Ärzten hörte, löste bei der chinesischen Verwanschaft Unverständnis aus. Und dass ein Mann, um Gottes Willen ein Mann, bei der Geburt dabei sein möchte und deswegen fachliches Vorwissen erwirbt, das ist äußerst ungewöhnlich.

Dabei war er sehr hilfreich, unser deutscher Hechelkurs. Auch wenn, wie die Hebamme uns aufklärte, da heutzutage gar nicht mehr gehechelt wird. Es sei denn man kommt zu spät und ist ganz außer Atem. Aber wir haben in dem Kurs ganz andere Sachen gelernt. Über den menschlichen Körper und das Leben im Allgemeinen. So eine Geburt hat etwas sehr Dramatisches. All die Schmerzen. Es geht um Leben und Tod. Fast so wie in der zweiten Staffel von Breaking Bad oder in der ersten von Game of Thrones.

Deutsche Hebammen sind im Allgemeinen recht verspielt in der Sprache. „Sternengucker“ nennen sie die Kinder, die mit dem Gesicht nach oben geboren werden. Eine „Glückshaube“ ist eine nicht geplatzte Fruchtblase. Unsere Hebamme Linda hatte ein Talent, die Dinge auf den Punkt zu bringen. „Jede Frau hat einen Topf voller Wehen“, sagte sie. „Darum sollte man sich immer freuen, wenn eine kommt. Wenn der Topf leer ist, hat man es geschafft. Mehr kommen dann nämlich nicht.“ „Wehen sind keine Einzelgänger“, sagte sie auch. „Sie kommen im Rudel.“ Und: „Die Atmung der Frau ist wie ein Treppengeländer, an dem man sich festhält.“ Ganz wichtig war Linda auch das Vertonen der Wehen, also der konstruktive Umgang mit dem Geschrei der werdenden Mutter. „Vertonen, das ist ganz wichtig“, sagte sie. „Wehen muss man besonders am Ende immer vertonen. Aber ausschließlich mit Vokalen. Nie mit Konsonanten. Das stört bloß.“

Chinesische Frauen, so hat es mir Dingding erklärt und vorgemacht, vertonen die Wehen traditionell auch. Aber statt Vokale zu benutzen, beschimpfen bei den vor der Tür wartenden Ehemann. „Du bist an allem Schuld. Verdammter Mistbock. Alles nur wegen Dir. Ich hasse Dich.“ So klingen die vertonten Wehen im Reich der Mitte.

Eine thematische Vorbereitung auf eine Geburt findet in China normalerweise nicht statt. Das überlässt man den Ärzten und die wiederum nehmen da im Zweifelsfall dann auch lieber das Skalpell, als der Frau beim Vertonen der Wehen zuzuhören. China hat neben Brasilien die weltweit höchste Rate an Kaiserschnitten. Annähernd jedes zweite Kind kommt so auf die Welt.

Unser zweiter Sohn hat dann in einem Privatkrankenhaus in Peking das Licht der Welt erblickt. Auch wenn ich in meinen acht China-Jahren die meiste Zeit privat versichert war, bin fast nur in die gewöhnlichen Krankenhäuser gegangen. Wenn einem nichts Ernstes fehlt, ist es auch ganz lustig dort. Denn weil es in China keine niedergelassenen Ärzte gibt, geht man auch mit einer Erkältung dorthin. Im Winter sind die Gänge unbeheizt und die Menschen laufen in dicken Jacken über die Flure. Auf den Wartebänken sitzen Patienten mit Infusionschläuchen in den Armen. Denn in China bekommen eigentlich bei jeder Krankheit zuerst einmal eine Infusion. Und wenn man eine schwerere Krankheit hat, gibt man dem Arzt auf jeden Fall umgehend einen roten Umschlag mit einer ausreichend hohen Bargeldsumme. Denn sollte man das nicht machen, kann man kaum damit rechnen, dass sich jemand die Mühe einer fachgerechten Behandlung macht. Geburten finden in diesen Krankhäusern in gemeinschaftlichen Kreissälen statt und sein Essen muss man selbst mitbringen.

Für die Ankunft unseres zweiten Kindes sollte es dann aber ein Privatkrankenhaus sein: Family United. Und das war dann auch ganz schick und sauber mit eigenem Zimmer und Essen. Ungewöhnlich war nur, dass man die Geburt als Paket kaufen konnte. In China gibt es keinen Frisör, keinen Kinderspielplatz, keinen Fußmassagesalon und kein Café, in dem einem nicht die einfache, gehobene oder VIP-Mitgliedschaft nahegelegt wird. Natürlich immer verbunden mit kostenlosen Extras, Rabattaktionen und Vorzugsbehandlungen. Dass wir uns nun aber auch bei der Geburt zwischen Standard, Premium und Luxus entscheiden mussten, irritierte mich etwas. Konseqent und durchdacht fand ich allerdings die Preisgestaltung. Bei Zwillingsgeburten wurde für das zweite Kind nur die Hälfte berechnet, erklärte uns der Sales-Berater von Family United. Auch für jedes weitere Mehrlingskind galt die Aktion. Dingding und ich berieten uns kurz – das war ja wirklich ein gutes Angebot – entschieden uns dann aber in Ermangelung eines weiteren zu gebährenden Kindes für das Standard-Paket einfacher Ausführung.

#1 Schönes neues China: Ehefrau schlägt Auto

 

Ehefrau schlägt Auto und ich stehe dumm in der Gegend herum. So wie ich, seit wir wieder in China sind, sehr häufig dumm in der Gegend herumstehe. Ehefrau heißt ja eigentlich Ding, also im Doppeldiminuitiv dann Dingding. Aber seit wir verheiratet sind, ist mir das ziemlich egal. Wie sie heißt, meine ich. Denn wir sind verheiratet und nennen uns nicht mehr beim Namen. Meine Frau hat angefangen. Erst hat sie mich konsequent nur noch „Laogong“ also „Ehemann“ genannt und seit dem ersten Kind dann nur noch „Baba“. Wenn sie jetzt über mich spricht, dann sagt sie nur noch „Aiwen ta Ba“, also „Vater des Aiwen“, abgeleitet vom Namen unseres Erstgeborenen. Das ist in China vollkommen normal. Ich habe mir aber trotzdem mehrfach meinen ursprünglichen Eigenamen zurückgewünscht. Erfolglos. Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als mich den alltagskonfuzianistischen Kosekonventionen anzupassen. Ehefrau wird schon sehen, was sie davon hat.

Ein weißer Tiguan rollt auf uns zu. Ehefrau hat ihn mit ihrem Smartphone und Didi gerufen oder „herbeigeschlagen“, wie sie es auf Chinesisch so schön sagt. Früher, da schlug man sich in Peking ein Taxi. Da war das Schlagen von Autos noch echte Handarbeit. Mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, stoppte man einen der zahlreichen grüngelben Wägelchen. Dann musste man nur noch andere potenzielle Fahrgäste, die auf ein Taxi warteten, anschreien oder sich mit ihnen prügeln und schon saß man bequem im wohlig nach Knoblauch und Schweiß riechenden Hyundai. Wenn der Fahrer nicht wusste, wo der Ort liegt, an den man reisen wollte, hat er einfach einen Cousin dritten Grades angerufen und nach dem Weg gefragt. Diese Zeiten sind vorbei, in jedem Fall dann, wenn man Ehemann von Ehefrau ist.

Denn jetzt, jetzt gibt es Didi. Nein, nicht Didi Hallervorden, aber mindestens genau so bekloppt. Didi ist eine App, mit der private Kleinstunternehmer digital zu einer Beförderungsfahrt gerufen werden können. Ursprünglich hat sich das System jemand in Amerika ausgedacht und „Ueber“ genannt. Weil aber die Kommunistische Partei Chinas Unternehmen wie Ueber für digitalimperialistisches Teufelszeug hält, hat man ihnen den Marktzugang verwehrt. Deshalb floriert in Peking, Shanghai und all den anderen schönen Megacities jetzt nur noch Didi. Also quasi: Didi, der Doppelgänger. Von Ueber, jetzt…

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sage ich. „Heute ist kein Feiertag, es regnet nicht und es ist Mittagszeit. Zur Mittagszeit pflegt der Chinese pünklich zu essen. Da fährt er nicht mit dem Taxi“, erkläre ich. „Ja, aber eben auch kein Taxifahrer fährt mit dem Taxi“, erwidert meine Ehefrau. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich will mich überhaupt niemals streiten. Und so stehe ich dann eben dumm in der Gegend herum, während ein leeres Taxi nach dem anderen an uns vorüberfährt, bis dann viel später eben jener weiße Wagen in unsere Straße einbiegt.

Der fabrikneue VW Tiguan rollt langsam auf uns zu. Wir befinden uns zwischen dem Diplomatic Compound und dieser Mall, in der ein Schwimmbad, einen Fat-Burger, einige Beauty-Solons, einen Maßschneider und unseren Familienarzt Dr. Diedrich gibt. Es sind nur einige hundert Meter zwischen der Straßenecke und unserem Standort vor der Mall, aber schon auf dieser kurzen Strecke hat sich hinter dem Wagen ein Stau gebildet. Am Steuer des Autos sitzt eine Dame mittleren bis gehobenen Alters, die uns verstörend unsicher anlächelt und zuwinkt. Sie ist dann auch sichtlich erleichtert, als sie feststellt, dass wir ihre Fahrgäste sind, zu denen ihr Navigationssystem sie geleiten sollte. „Gefunden, geglückt, alles wird gut“, spricht es aus ihrem Gesicht mit einem Strahlen, das unverzüglich wieder verschwindet, als Ehefrau ihr gestikulierend deutet, dass sie doch bitte eine Kehrtwende, machen möge, um auf unsere Seite zu gelangen: einen U-Turn, wie es Neudeutsch so schön heißt. „Wenden?“ „Ich?“ „Mit diesem Ungetüm?“ „Das ist nicht Euer Ernst!“ spricht ihr erschrockenes Gesicht nun ganze Horror-Bände. Weil wir aber mit dem Kinderwagen und dem Schwangerschaftsbauch, den Ehefrau seit einigen Monaten stets mit sich durch die Gegend trägt, nicht mitten auf der Straße in einen weißen Tiguan einsteigen können, legt unsere Didi-Chaufferin aufgeregt und krachend einen, ich vermute den dritten Gang ein. Zeitlupisch bewegt sich der Wagen dann in wenigen Quantensprüngen pro Minute vorwärts und die Fahrerin vollführt offensichtlich das erste Wendemanöver ihres Lebens. Die Leute in den Autos dahinter sind inzwischen wütend ausgestiegen. Aber als sie die Hilflosigkeit der alten Dame bemerken, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als der Frau einweisend über die Straße zu helfen. Auch in der anderen Fahrtrichtung staut sich jetzt der Verkehr. Und dann doch. Die gemeinsamen Anstrengungen haben Erfolg: Wenden in vierundsechzig Zügen. Es ist vollbracht und kurz darauf setzt der Tiguan den Blinker und legt am Bordstein vor der Mall am.

„Taiyanggong?, fragt sie ängstlich, denn das ist die Adresse, die Didi ihr angezeigt hat. Unser Zuhause. Der Ort, an den es uns zieht, bepackt mit Einkaufstüten und Kindern in Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen. „Taxi!“, rufe ich verzweifelt. „Taxi! Taxi! Taxi!“ Ein freies Taxi hält hinter dem Tiguan, aber Ehefrau sagt, ich solle das doch bitte lassen. Ich solle kein Taxi schlagen, sonst schlüge sie vielleich doch noch mich, denn jetzt sei er ja da, unser digital bestellter Chauffeurservice. So bewege man sich eben als moderner Großsstadtchinese in der schönen neuen Welt. „Luohou“ sei ich, sagt sie „zurückgeblieben“, „rückständig“ „abgehängt“. Ich sah wärhenddessen dem davonfahrenden Taxi hinterher und verfrachtete unseren Erstgeborenen, unseren bald auch noch Zweitgeboreren samt Mutter und auch den Kinderwagen in den Tiguan und setzte mich neben die rüstige Fahranfängerin auf den Beifahrersitz. Die gute Frau nahm mich jedoch kaum wahr, hatte sie doch das On-Board-Navi und das Handy-Navi gleichzeitig eingeschaltet. Umgehen konnte sie mit keinem der beiden. Ehefrau und ich wiesen ihr den Weg. Am Autobahnkreuz Sanyuanqiao ordnete sie sich trotzdem falsch ein. Und wir fuhren eine Weile auf dem Highway Richtung Flughafen, wenden unmöglich.

An dieser Stelle muss ich aus dem autobiographischen Modus in den fiktionalen wechseln, weil ich keinen in China gültigen Führerschein besitze, es mir darum untersagt ist, hier Auto zu fahren und ich natürlich niemals das Gesetz brechen würde. Mein fiktionales Ich, mit der schwangeren Ehefrau, dem schlafenden Erstgeborenen, der rüstigen aber verzweifelte Dame im Tiguan ihres Neffen auf dem Weg zum Flughafen, bittet also die Fahrerin rechts ranzufahren und anzuhalten. Mein Erzähl-Ich übernimmt kurzerhand von der erleichterten Didi-Novizin das Steuer und fährt die Familie nach Hause. Dort angekommen, bietet das Ich dann der Fahrerin an, sie nach Hause ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ein Angebot, dass sie ohne zu Zögern annimmt. Von dort aus übernimmt dann wieder das biografische Ich. Und eben dieses Ich stoppt mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, eines der zahlreichen vorbeifahrenden Taxis um im trauten Heim auf dem Handy der Eefrau die Didi-Rechnung des heutigen Tages bestaunen zu dürfen.

Die Drahtpenismänner

Eigentlich wollte ich ja im Moment nicht mehr so viel zum Thema „China“ bloggen, nun kann man aber einige Sachen auch nicht einfach für sich behalten, oder? Herr Poettgen von Stimmen aus China war zum Beispiel so freundlich, mich mit einem Artikel auf die chinesische Version von „Knallerfrauen“ aufmerksam zu machen. Der  epochemachende Erfolg der deutschen Comedy-Serie „Knallerfrauen“, die in chinesischen sozialen Netzwerken und auf Video-Plattformen geteilt wurde, war nicht zu übersehen. Schon Christian Y. Schmidt hat sich einst an einer Übersetzung des Titels versucht und ist bei „Drahtpenisfrauen“ gelandet. Das ist etymologisch zwar mehr als zweifelhaft, trifft aber eine ganze Reihe der Konnotationen des chinesischen Modewortes und Internetphänomens „Diaosi“ sehr gut. Die chinesische Fassung der „Drahtpenisfrauen“ hingegen war mir bisher unbekannt. Eine Fassung mit deutschen Untertiteln ist bereits bei Youtube gelandet (weil ich urheberrechtliche Bedenken habe, dazu nur ein Link und kein eingebettetes Video)

„Stimmen aus China“ hat ein Interview mit dem Schauspieler Dong Chengpeng geführt, das ich hier mit dem größten Vergnügen teile. Sehr schön. Auch die Aussprache.

Interview: Zombie-Attacke bei Weibo?

Nachdem ich mich nun so viele Jahre zu weltbewegenden Fragen in der Badewanne selbst interviewt habe, hat sich nun endlich jemand meiner erbarmt. Maximilian Kalkhof, einer der Autoren von Stimmen aus China, hat mich für das Webmagazin „Tintenkiller“ befragt. Das Interview war Teil einer Recherche zu der Frage, welchen Einfluss Sina Weibo denn tatsächlich auf die chinesische Öffentlichkeit hat. Den vollständigen Artikel „Sina Weibo – Leichen im Keller“ findet man hier. Wie immer würde ich mich über Kommentare, Meinungen und Kritik freuen.

Chinabildblog: Die geschlagene Gurke und die ewige Ente

Journalisten haben es schwer. Die Welt ist groß und sie sind klein. Gerade in China, dem Land in dem eigentlich niemand genau weiß, was wirklich passiert und jeder sich aus ungesicherten und fragwürdigen Informationen die Ereignisse so gut es geht zusammenreimt, ist es keine einfache Aufgabe, einen Job auszuüben, bei dem es auf Objektivität und sachorientierte Information ankommt.

Wenn man dann auch noch für eine Leserschaft schreibt, die über China nicht sonderlich viel mehr weiß, als dass dort die vielen bunten und giftigen Plastikspielsachen herkommen, dann kann man schon verstehen, dass der eine oder andere Bericht nicht gerade pulitzerpreisverdächtig ist. Und wenn man dann außerdem, wie ein großer Teil der westlichen China-Berichterstatter, nicht über die sprachlichen Kenntnisse verfügt, um dem gesellschaftlichen Leben zumindest als Beobachter zu folgen, ja was soll denn dabei auch herauskommen? Ach, Sie glauben, China-Korrespondenten sollten doch wohl chinesische Zeitungen lesen können? Nun ja, ein anderes Thema. Und es gibt ja auch viele deutsche Journalisten, die ihre Sache sehr gut machen. Johnny Erling, Mark Siemons und Felix Lee gehören z.B. zu dieser Spezies. Auch die schwierigen Umstände, unter denen in China gearbeitet wird, sollen hier nicht unterschlagen werden.

Der Marco-Polo-Effekt

Zu der allgemein misslichen Lage in China kommt aber nun noch etwas hinzu. Der „Marco-Polo-Effekt“, wie ich es nennen möchte, verliert allmählich seine Wirkung. Dieser Effekt hat sich Tausende von Jahren segensreich auf das Ansehen der Berichterstatter aus fremden Ländern ausgewirkt und wird nun durch das Internet und den grenzüberschreitenden Informationsverkehr in Echtzeit stark abschwächt. Gemeint ist Folgendes: Je weiter das Land entfernt ist, aus dem du berichtest, desto geringer ist die Chance, dass jemand noch während deiner Lebenszeit etwaige Ammenmärchen und Plattitüden, die du aufgetischt hast, entlarvt und desto weniger Mühe musst du dir geben, die Wahrheit in ihrer ganzen vertrackten Komplexität zu beachten.

Das ist vorbei, seit das Internet der Zeitung einen unregulierbaren Feedback-Kanal spendiert hat. Die Ansprüche sind seitdem gestiegen und ich sehe kaum, dass der Journalismus darauf in irgendeiner Weise angemessen reagiert.

Zwei Geschehnisse, die während meiner Arbeit als Dozent an einer chinesischen Universität passiert sind, sollen hier nur als Beispiel dafür stehen, warum ich die Ansicht für falsch halte, dass unser westlich geprägtes Mediensystem samt seiner verholzten Wurzeln in der Papierzeit noch zeitgemäß ist.

Die geschlagene Gurke

Anfangen möchte ich mit dem Ehec-Skandal. Damals, als dieser Keim die ersten Todesopfer in Deutschland forderte, berichteten auch die chinesischen Medien darüber. Was mich allerdings sehr störte, war der Unterton der Berichterstattung: „Seht her, das passiert nicht nur bei uns, sondern auch im angeblich so sicheren Westen.“

Als ich damals ins Seminar kam, sprach mich ein Student auf den Skandal an. Er sagte: „Herr Hänke, haben Sie schon gehört? In Deutschland ist das Essen auch nicht sicher. Die spanischen Gurken sind giftig.“

Ich habe dann zunächst einmal versucht zu erklären, dass die chinesischen Staatsmedien diesen Vorfall benutzen, um die eigenen Verhältnisse, die mit kaum Deutschland zu vergleichen sind, zu relativieren. Ich habe erzählt, dass das deutsche Gesundheitsamt mit ziemlicher Sicherheit kaum einen chinesischen Betrieb genehmigen würde. Ich habe behauptet, dass das Ausmaß der chinesischen Lebensmittelskandale die deutschen Verhältnisse bei weitem übertrifft. Ich habe über das Milchpulver, die Restöl-Verwertung, den gefälschten Alkohol und all die widerlichen Dinge gesprochen, die täglich in Chinas nahrungsmittelverarbeitendem Gewerbe geschehen. Ich habe gesagt, dass der TÜV, Foodwatch und ein funktionierendes Lebensmittelkontrollsystem in China mit Sicherheit mehr Menschenleben retten würden, als alle Menschenrechtsorganisationen dieser Erde zusammengenommen. Ich habe behauptet, dass in China in jeder Stunde mehr Menschen an vergiftetem Essen sterben, als in Deutschland in einem ganzen Jahr.

Aber dann habe ich auch noch etwas anderes behauptet. Ich habe gesagt, dass ich es für ausgesprochen wahrscheinlich halte, dass – trotz der Panikmache, trotz der Vernichtung riesiger Mengen an Lebensmitteln, trotz der Bilder der mutmaßlich giftigen Gurken neben tausendfachen Vergrößerungen der gefährlichen Keime – die spanischen Gurken damit gar nichts zu tun haben. Ich war mir da irgendwie sicher. Denn zu diesem Zeitpunkt handelte es sich ja um einen bloßen Verdacht, der von SpiegelOnline, dem hypernervösen Zappelphillip der deutschen Medienlandschaft, mediendramaturgisch ausgeschlachtet wurde.

Ich sollte Recht behalten. Die arme Gurke war unschuldig und bis heute ist wohl nicht endgültig geklärt, wer für den durch Panikmache entstandenen Schaden haften soll. Ab diesem Zeitpunkt sagten die Studenten immer, wenn ich zu weit vom Thema abkam: „Er schlägt schon wieder die Gurke.“ „Geschlagene Gurke“ ist ein Gericht der chinesischen Küche.

Der Ehec-Fall mag in seiner Ausprägung einige Besonderheiten haben, typisch für das deutsche Mediensystem ist aber, dass Skandalisierungen, Panik-Mache, Ungenauigkeiten bei der Präsentation von Fakten und vor allem die Übernahmen ungesicherter Informationen einen vernunftorientierten Diskurs oft geradezu unmöglich werden lassen, im Zeitalter der Echtzeitkommunikation ganze Lawinen von Informationsmüll lostreten können und es kaum Mechanismen gibt, die den Prozess verlangsamen.

Die ewige Ente

Die zweite Geschichte, die mit meiner Arbeit und mit der China-Berichterstattung noch viel mehr zu tun hatte, nenne ich die ewige Ente. Es war in der Zeit vor der Olympiade. Damals erhielt ich plötzlich und für mich ziemlich unerwartet von Freunden aus Deutschland E-Mails, in denen ich gefragt wurde, ob die chinesische Regierung mich denn auch bald aus dem Land werfen würde. In China hätte man doch jetzt alle ausländischen Studenten ausgewiesen.

Ich hatte damals auch von Visa-Problemen gehört. Insbesondere vor den Olympischen Spielen schien man strenger vorzugehen. Vielleicht versuchte man aber auch einfach, bei der Visa-Vergabe internationale Standards zu erreichen, denn meine Erfahrung sagt mir, dass es in China viele Wege gibt, die offiziellen Bestimmungen zu umgehen. Zwar geschieht es nicht selten, dass Ausländer in China gezwungen werden, das Land zur Visa-Verlängerung zu verlassen. Meist reicht jedoch ein Kurz-Trip nach Hongkong und das Problem ist gelöst.

Sicher gab und gibt es oft Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums, aber wer jemals erlebt hat, welche bürokratischen Hürden chinesische Studenten nehmen müssen, die nach Deutschland einreisen möchten, der wird verstehen, dass gerade Deutsche in dieser Frage nicht unbedingt mit Anschuldigungen um sich werfen sollten.

Um die Geschichte abzukürzen: Die DPA-Meldung, auf der die Medienberichterstattung der Tageszeitungen und Online-Medien beruhte, war eine Falschmeldung – eine Ente. An der ganzen Geschichte war im Grunde nichts dran. Dass sich sachliche Fehler in die Berichterstattung einschleichen, ist ja nichts Außergewöhnliches. Jedem Journalisten, sei er noch so gewissenhaft, unterlaufen Fehler. Allerdings ist in diesem Fall das Ausmaß schon sehr erschreckend. Eine offizielle Anweisung, die ausländischen Studenten während der Olympischen Spiele auszuweisen, ist ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass ich mich damals gefragt habe, welche Vorstellung denn in den Köpfen der Verantwortlichen vorherrscht – und wie der Unsinn dort hineingekommen ist -, wenn sie so einen Unfug einfach unreflektiert übernehmen, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Die Olympischen Spiele wurden in China auch vom einfachen Volk als eine Gelegenheit gesehen, sich der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Viele Zuschauer hätten sich mehr Offenheit und Herzlichkeit und weniger bombastischen Perfektionismus gewünscht und auch ich fand die offizielle Inszenierung der chinesischen Nation teilweise sehr abweisend. Allerdings herrschte damals in der gesamten Bevölkerung eine nahezu fanatische Freude, jetzt einmal selbst Gastgeber einer solchen globalen Veranstaltung zu sein. Ganze Horden von Freiwilligen bereiteten den Empfang der internationalen Besucher vor. Eine Anweisung, ausländische Studenten auszuweisen, hätte niemand in China ernsthaft befürwortet. Das hätte man wissen können. Das nehme ich den deutschen Medien, insbesondere dem Spiegel, der damals gerade den Weltkrieg um Wohlstand ausgerufen hatte, bis heute übel.

Und warum die „ewige“ Ente? Ganz einfach: Das Netz vergisst nichts, zumindest dann nicht, wenn man es nicht explizit dazu auffordert. Und bis auf SpOn hat sich bis heute kein Online-Medium die Mühe gemacht, diesen Unfug zu korrigieren.

Und somit bleibt diese hektisch herausposaunte Legende für immer im Netz der kollektiven Erinnerung hängen. Die Ausweisung der Gaststudenten während der Olympiade gehört heute zu China wie die Glückskekse nach dem Essen. Ach, in China gibt es gar keine Glückskekse? Nein? Das ist ja ein Ding!

Hier die ewigen Enten:

 

Die Ruhe. Das Nichts-Tun

„Dao ke dao, fei chang dao“, sagte Doktor Cao. Er sagte es nachdenklich und auch sein Ellenbogen schob sich deutlich langsamer zwischen meine Lendenwirbel. Ich hatte diesen Satz gelesen, als ich noch im Vorzimmer wartete, während Doktor Cao, die Nackenmuskulatur einer zierlichen jungen Frau massierte, auf deren bunt-lackierten Fingernägeln kleine, funkelnde Schmetterlinge um eine Blume kreisten.

Der Begleiter der jungen Frau spielte währenddessen Golf auf seinem I-Phone. Ich saß auf einer rissigen Ledercouch und sah mich im Vorzimmer um. Die Tapeten waren vergilbt und auf dem schwarzen Rattan der Möbel lag eine dicke Schicht aus Staub. An der Wand hing ein Bild mit Meridianen, die sich durch den Körper zogen, wie Ameisentunnel durch den Waldboden. Nachdem ich mir die verschiedenen Geräte, die sonderbaren Schröpfkugeln, die Schabmesser und die Saugpumpen angesehen hatte, die auf einem Regal aufgereiht waren, fielen mir die Bücher auf, die in einem Zeitungsständer neben der Couch lagen. Ich nahm wahllos eins heraus. Es war das „Dao De Jing“, ein Ur-Text der Taoisten, und als ich das Buch aufschlug, las ich diesen Satz. „Dao ke dao, fei chang dao“

Als Doktor Cao dann seine Arbeit an der Nackenmuskulatur beendet hatte und die junge Dame sich von ihrem Begleiter ihre französische Handtasche geben ließ, um zu bezahlen, ging mir der Satz immer noch durch den Kopf. Das Mädchen mit den Schmetterlingshänden war gegangen und Doktor Cao, der eigentlich kein Doktor ist, sondern ein blinder Masseur, ließ mich rufen. Man pflegt ja chinesischen Sprache oft sehr höfliche Umgangsformen und so sagte der Rezeptionist: „Doktor Cao, dein ausländischer Freund, der Lehrer Han ist da.“

Ich lernte Doktor Cao kennen, als meine Eltern mich während der olympischen Spiele besuchten. Weil der Sommer in Beijing wie immer unerträglich heiß war, beschloss damals meine Mutter, auch nachts die Klimaanlage auf eine Temperatur einzustellen, bei der selbst Eskimos ihre Pelzkapuzen tief ins Gesicht gezogen hätten. Mein Vater hat schon sehr lange immer mal wieder Rückenprobleme, dieses Mal waren es ernste. Er hatte sich, wie Doktor Cao es ausdrückte, „Kälte gefangen“. Vielleicht kam noch hinzu, dass die Matratze des Gästebettes an traditionelle chinesische Foltergerätschaften erinnerte und die Sprungfedern an einigen Stellen deutliche Abdrücke auf dem Laken hinterließen. Mein Vater jedenfalls schaffte es an diesem Tag kaum aus dem Bett. Die meiste Zeit konnte er sich nur mit Hilfe eines Rollkoffers durch die Wohnung bewegen, den er als Gehwagen zweckentfremdet hatte. Zwar war der Urlaub meiner Eltern bald zu Ende, aber es war kaum vorstellbar, wie mein gebückter Vater in diesem Zustand die Strapazen der Heimreise überstehen sollte. Wir brauchten Hilfe.

Die Massagepraxis, in der Doktor Cao arbeitet, hatte damals gerade erst aufgemacht. Sie war mir sofort aufgefallen, schließlich habe ich die Rückenprobleme meines Vaters geerbt. Ich zögerte damals allerdings, das Wohlbefinden meines oder des Rückens meines Vaters noch einmal in die Hände eines blinden Masseurs zu legen. Mit blinden Masseuren hatte ich keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Ein einziger Besuch dort hatte mich in mehrerer Hinsicht stark überfordert. Und erst die Bekanntschaft mit Doktor Cao ermöglicht es mir, bei dem Thema „Blinder Masseur“ nicht mehr sofort an die Worte „röhren“ und „Kamel“ zu denken.

Jiang Li, meine Kollegin, die zur Aufbesserung ihres kargen Universitätsgehaltes hin und wieder Übersetzungen anfertigte und der ich oft dabei half, hatte mir einmal eine SMS mit folgendem Inhalt geschickt. „Welches Geräusch macht ein Kamel?“ Es dauerte etwas, bis ich verstand, was sie meinte und dass sie bei einer Übersetzung auf eine Schwierigkeit gestoßen war. „Evtl. röhren; wie ein Hirsch“, war meine Antwort. Und während meines ersten Besuches bei einem blinden Masseur, da dachte ich: „Das passt. Dieser Masseur röhrt wie ein Kamel.“

Der junge Mann, der mich massieren sollte, war eindeutig blind. Nicht alle blinden Masseure in China sind auch wirklich blind, aber dieser war es. Nachdem ich der Empfangsdame in meinem damals noch sehr schlechten Chinesisch irgendwann erfolgreich vermitteln konnte, dass ich eine Rückenmassage wollte, kam dieser junge Mann. Ich lag schon auf der Liege, als er den Raum betrat. Seine Augen lagen tief im Kopf hinter einem milchigen Schleier. Er war insgesamt von einer bemitleidenswerten Gestalt. Doch so sehr er mir auch Leid tat, so sehr ekelte ich mich vor ihn und den Geräuschen, die er machte.

Vor meiner Zeit in China war das Thema „Massage“ ist in meinem Gehirn in einer ganz bestimmten Region abgespeichert – der „Wellness-Plätschermusik-Ayuweda-Öl-Ecke“. Doch die Erfahrungen, die ich in China gemacht habe, zwangen mich, das ursprüngliche Konzept deutlich weiter zu fassen.

Es begann mit einem Rumpeln im Magen des Masseurs. Ich lag auf dem Bauch und mein Gesicht befand sich in der runden Aussparung der Massage-Liege. Ich schloss meine Augen und versuchte das Rumpeln zu ignorieren. Masseure in China wollen sich während der Arbeit meist ein bisschen unterhalten, entweder weil sie es für höflich halten, oder um die Gelegenheit zu nutzen, etwas von einem weitgereisten Fremden über seine ferne Heimat zu erfahren. Dieser Masseur sagte nichts. Nur sein Magen gab langgezogene, säufzende Laute von sich. Dann rülpste der Masseur. Ich vermutete zunächst, er habe etwas schwer Verdauliches gegessen hatte. Und es ist ja nicht selten, dass Menschen in China auch in der Öffentlichkeit laut rülpsen. Ich hatte sogar einmal eine Studentin, die aus irgendeinem Grund in fast jedem Unterricht rülpste. Also dachte ich mir bei diesen Geräuschen zunächst nicht viel.

Dann rumpelte es wieder. Das Rülpsen wurde lauter. Und es wurde länger. Hörbar bahnten sich Unmengen von Gasen ihren Weg aus dem Körper des blinden Masseurs. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es körperlich möglich ist, in so kurzer Zeit so viel Gas im Magen zu erzeugen. Eine Stunde lang lag ich auf der Liege, mit dem Gesicht nach unten. Etwa alle dreißig Sekunden rumpelte es, woraufhin jedes Mal ein unglaublich langgezogener Rülpser folgte, der an die durchschnittliche Lautstärke eines röhrenden Kamels bei weitem übertraf und dessen Geräusch bei mir unverzüglich einen starken Würgreflex auslöste. Eine Stunde lag auf der Liege und kämpfte mit meinem Brechreiz. Ich war unfähig aufzustehen, weil der Mann mir Leid tat.

Vielleicht hätte ich diesem Mann, der durch seine Blindheit und seine sonderbare Krankheit vom Schicksal besonders hart geschlagen war, irgendwie helfen können. Vielleicht war dieses Rülpsen ja auch nur temporär. Vielleicht hätte ich mich auch überwinden können. Ich hätte mir beim nächsten Mal extra-dicke Oropax mitnehmen und während der Massage eine Traumreise zu leichtbekleideten Hula-Mädchen an Palmenstränden machen können. Die Wahrheit jedoch ist: Ich habe es nicht gemacht. Ich bin nie wieder zu diesem Masseur gegangen, weil ich mich vor ihm geekelt habe.

Und als dann mein Vater fragte, ob das nicht eine Massagepraxis gewesen sein, deren Leuchtreklame die grauen Betonwände des Treppenhausen in regelmäßigen Abständen in grünes und rotes Neonlicht tauchte, da dachte ich an die Worte „röhren“ und „Kamel“ und an meinen Brechreiz und an milchige Augen und zögerte. Aber weil mein Vater in den letzten Tagen einen Rollkoffer als Gehwagen benutzte, fortwährend die Erfindung der Klimaanlage verfluchte und der häusliche Frieden meiner Eltern ernsthaft auf dem Spiel stand, überwand ich meine inneren Widerstände und meldete meinen Vater bei dem blinden Masseur im ersten Stock an.

Die Rückenschmerzen meines Vaters schmolzen unter den Händen von Doktor Cao, wie Erbsen-Eis in praller Mittagssonne und jedes Mal wenn wir später telefonierten, fragt er mich, wie es seinem kleinen Masseur geht. Und auch Doktor Cao fragte mich oft nach dem Wohlbefinden meines Vaters. Und ich fragte mich, ob Doktor Cao, der mit seinen Händen in kürzester Zeit die Verspannungen findet, ohne dass man etwas sagen muss, jedes Mal bei meinem Rücken an den Rücken meines Vaters denkt und dadurch dessen Zukunft sehen kann. Doktor Cao und ich reden über Vieles, aber das habe ich ihn noch nie gefragt.

Doktor Cao wurde vor sechsundzwanzig Jahren in einem kleinen Ort nicht weit von Taiyuan in der Prozinz Shanxi geboren. Seine Mutter war Krankenschwester und wenn ich es richtig verstanden habe, arbeitete sein Vater in einem Steinbruch und starb bei einem Unfall als Doktor Cao sieben Jahre alt war. Er war ein normales Kind, fleißig in der Schule und gut zu seinen Eltern. Kurz nachdem sein Vater gestorben war, begannen seine Augen sich zunehemend zu verschlechtern. Kein Arzt konnte den Grund dafür herausfinden und noch vor seinem neunten Geburtstag konnte er den hellsten Sonnenschein nicht von der tiesten Nacht unterscheiden. Seine Mutter war eine starke Frau und gewohnt „Bitterkeit zu essen“. Sie kümmerte sich um ihn, kochte ihm morgens, mittags und abends etwas zu essen. Aber als sie merkte, dass ihre Kräfte nachließen, wusste sie, dass sie sich trennen mussten. In dem kleinen Ort würde Doktor Cao nicht für sich selbst sorgen können. Über eine Bekannte stellte sie einen Kontakt nach Beijing her, wo ihr Sohn an einer Schule für Masseure eine kurze Ausbildung machte. Danach fand er eine Anstellung in dieser kleinen Massagepraxis, die er so gut wie nie verlässt. Er isst, was seine Kollegen für ihn kochen und er schläft nachts auf einer der Massageliegen.

„Dao ke dao fei chang dao“, sagte Doktor Cao. „Dieser Satz sagt Vieles. Es geht um die Mitte, um das Zentrum, in dem die Ruhe liegt.“

„Die Ruhe?“, fragte ich.
„Ja. Die Ruhe. Das Nichts-Tun“, antwortete er.
„Das kann ich gut. Das ist ja nicht schwer“, warf ich ein. Ich verfügte damals noch über zu wenig Sprachkenntnisse, um eine ernsthafte Diskussion längere Zeit am Leben zu halten.
„Ja, das kannst du gut. Darum ist dein Rücken auch so krumm. Weil du dich nicht bewegst.“
„Dann haben alle Taoisten also Rückenschmerzen“, versuchte ich diesen Gedanken weiter zu entwickeln.
„Nein“, sagte Doktor Cao ruhig.
„Aber was ist denn dieses Dao nun eigentlich?“ fragte ich.
„Das ist es ja eben. Das Dao passt irgendwie nicht in die Sprache und die Worte. Nicht einmal in die chinesische. Das ist die eigentliche Bedeutung des Satzes.“

Dieses Mal sprachen wir weniger als sonst. Doktor Cao interessiert sich sehr für Sprachen und fragte mich oft nach den Worten. Er hat über das Radio etwas Englisch gelernt und ist fasziniert von fremden Klängen und seltsamen Bedeutungen. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieser kleine, blinde Mann viel mehr von Sprache versteht, als die meisten Studenten, die beim mir studiert haben. Aber dieses Mal redeten wir wenig.

Der iMönch und das Affentheater

Yancan Fashi ist ein ganz besonderer Mönch, eine Art IMönch. Denn er hat sich zum Ziel gesetzt, die Weisheit des Buddhismus auf allen zur Verfügung stehenden Wegen zu verbreiten. Weil Weibo, die niemals ruhende Quasselmaschine, das unglaublichste aller derzeit auf diesem Planeten existierenden Medien ist, M-bloggt er. Na, was denn auch sonst? Und weil er nicht nur als Lebensberater und Seelenbeistand den Menschen Vieles zu geben hat, sondern auch noch ein lustiger Typ ist, lieben ihn die Menschen in China.

Ist das wirklich der wahre Grund, warum Yancan Fashi praktisch über Nacht zu einer Berühmtheit geworden ist, die in Fernseh-Shows auftritt? Wie kann es sein, dass er in kürzester Zeit über 2 Millionen Follower auf seinem Weibo versammelt hat? Vielleicht liegt es ja auch ein bisschen an dem folgenden Video. Nicht nur die Affenbande, die ihm zu schaffen macht, ist ein absolutes Highlight der jüngeren Weibo-Historie. Es ist vor allem sein mit ernster Miene vorgetragenes buddhistisches Gedicht über einen heiligen Berg. Denn das Komische daran ist, dass der liebe Mann sich zwar sehr viel Mühe gibt, aber am Hochchinesisch kläglich scheitert. Nicht, dass ich das beurteilen könnte, aber ich habe mir sagen lassen, dass sein breiter Hebei-Dialekt samt seiner falschen Töne unglaublich komisch klingt. Aber sehen Sie selbst!

Ein langer Kommentar zu „Hitlers chinesische Familie“

<ein Gastbeitrag von 乡下人进城 (anonym)>

Anmerkung: Der folgende Text ist eine Reaktion auf den am 27. Juni 2012 auf doppelpod.com veröffentlichten Artikel „Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie“. Er ist anonym auf dem Sina-Blog von 乡下人进城 (ein Landbewohner zieht in die Stadt) erschienen und der Betreiber des Blogs hat zugestimmt, dass der Text hier veröffentlicht werden kann.

Die komische Hitler-Verehrung bei manchen Chinesen hängt sicher mit fehlenden historischen Kenntnissen zusammen. Persönlich Erfahrenes spielt dabei aber ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch wenn viele meiner Landsleute Deutschland sympathisch finden, ist Deutschland von China doch weit entfernt und man hat deshalb kaum persönlichen Zugang. Was man an Deutschland erleben konnte, war lange Zeit nur das legendäre „Made in Germany“ bzw. irgendeine alte Legende darüber. Ich kann mich z.B. bis heute an einen Spruch meines Großvaters erinnern: „Deutsche sind anständige Leute. Sie zahlen gut, wenn man ordentlich arbeitet. Die Japaner aber, die sind alle Schweine!“ Er war in seinen jungen Jahren Eseltreiber und hatte sowohl Deutsche, die in der Gegend ein Kohlenrevier besessen hatten, erlebt, als auch später die Japaner, die das Kohlenwerk besetzten. Als er mir seine Ansichten erzählte, kam ich gar nicht erst darauf, diesem Schwarz-Weiß-Bild irgendetwas entgegenzusetzen. Denn ich wusste zwar vom bösen Nazi-Deutschland, doch es war für mich nichts weiter als der abstrakte Begriff „Faschismus“ und ein paar Daten, die in keiner Verbindung zu mir standen. Japan war hingegen etwas Anschauliches: das war das Massengrab, das die japanische Besatzung im Kohlenrevier hinterlassen hatte. Darin lagen Schicht über Schicht Skelete von Zwangsarbeitern. An den Überresten konnte man teilweise erkennen, auf welche Weise sie gequält getötet worden waren.

Später, als die Reform- und Öffnungspolitik sich umzusetzen begann, wurde auf die chinesisch-japanische Freundschaft geschworen und das Massengrab wurde zugeschüttet. Trotz Freundschaftspropaganda änderte sich mein Japan-Bild nicht. Im Gegenteil, die Antipathie gegen Japan wuchs, und wächst noch immer. Von Japan ist kein Willi-Brandt-Kniefall gekommen, nicht einmal eine offizielle Bitte um Entschuldigung. Unter den Japanern, die ich kennengelernt habe, sind diejenigen Ausnahmen, die etwas Genaueres über die Verbrechen der japanischen Armee in China wissen. Zugleich ist aber auch der Unmut gegen die chinesische Regierung gewachsen, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss man rechtlich aufarbeiten und man kann sie nicht einfach mit Freundschaftsbeteuerungen zudecken. Umso mehr ärgere ich mich, wie ein Japaner wie 加藤嘉一 sich in China erlaubt, in aller Öffentlichkeit Kriegsverbrechen der japanischen Armee zu verharmlosen – dafür hat er sogar Unterstützer bekommen, in China selbst!

Und das Deutschland-Bild? Es hat sich differenziert und ist vielschichtiger geworden. In Deutschland bin ich Liebhaber der deutscher Sprache und Literatur geblieben, aber das Nazi-Deutschland ist nicht mehr abstrakt. Nicht nur ehemalige KZ habe ich besichtigt, sondern auch Holocaust-Überlebende oder ihre Nachfahren habe ich kennengelernt, selbst mit Nachfahren von dieser oder jener Nazi-Größe habe ich gesprochen. Wenn man so was erfahren hat, kann man einen Hitler nicht mehr verehren, selbst wenn so manche Stellungnahmen des Zentralrats der Juden in Deutschland zu irgendeinem Anlass nerven. Wenn man dazu dann auch noch die Tagebücher von einem Victor Klemperer liest, zerplatzen so manche Legenden über die Nazi-Zeit von selbst.

Andererseits, wie Deutsche die Hitler-Verehrung in China verwunderlich finden, finde ich es genauso verwunderlich, wie wenig man in Deutschland über die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg weiß. Ich frage mich manchmal, ob die Deutschen in Japan immer noch das „Land des Lächelns“ sehen und ob sie noch immer japanische Kultur hochjubeln, wenn sie nur wüssten, wie japanische Unternehmen bzw. ihre Vorgängerunternehmen zu ihrer verbrecherischen Geschichte stehen. Noch mehr wundere ich mich, warum so demokratisch aufgeklärte Deutsche ausgerechnet einem Gottkönig und Ex-Sklavenhalter so eifrig hinterherlaufen. So scheint es mir, dass es in beiden Ländern, wenn auch unter unterschiedlichen Voraussetzungen, doch an Wissen und Informationen mangelt. In beiden Ländern gibt es z.B. kaum Informationen darüber, dass solche Zen-Meister wie Suzuki Daisetsu 铃木大拙, der nicht nur von Heidegger hochgelobt wurde, sondern auch zusammen mit Erich Fromm das einflussreiche Buch „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ schrieb, sich aktiv am Shinto-Faschismus beteiligten. Nicht besser die Informationslage darüber, dass der Rassenwahn der Nazis seine Wurzel hat nicht nur im Vulgär-Darwinismus, sondern auch im Esoterik-Sumpf einer Madame Blavatsky/Theosophie und eines Rudolf Steiner/Anthroposophie, vor allem aber auch im jahrtausendlangen christlichen Antijudaismus, der durch die Reformatoren wie Martin Luther nur noch verstärkt wurde. Was wir hören, ist, der Zen-Buddhismus sei, wie der Lamaismus auch, friedliebend und gewaltfrei; der Faschismus sei Ungeist des Atheismus und die christlichen Kirchen seien Opfer dieser Gewaltherrschaft.

Es reicht nicht, lediglich zu sagen, dass so etwas mich ankotzt. Wichtig ist, dass einfache Menschen die Möglichkeiten bekommen, sich über ihre eigenen Erfahrungen auszutauschen. Persönliche Kontakte erleichtern oft den Zugang zum Wissen, und Wissen, das ist die einzige wirklich effektive Waffe gegen Dummheit und Vorurteile.