Der iMönch und das Affentheater

Yancan Fashi ist ein ganz besonderer Mönch, eine Art IMönch. Denn er hat sich zum Ziel gesetzt, die Weisheit des Buddhismus auf allen zur Verfügung stehenden Wegen zu verbreiten. Weil Weibo, die niemals ruhende Quasselmaschine, das unglaublichste aller derzeit auf diesem Planeten existierenden Medien ist, M-bloggt er. Na, was denn auch sonst? Und weil er nicht nur als Lebensberater und Seelenbeistand den Menschen Vieles zu geben hat, sondern auch noch ein lustiger Typ ist, lieben ihn die Menschen in China.

Ist das wirklich der wahre Grund, warum Yancan Fashi praktisch über Nacht zu einer Berühmtheit geworden ist, die in Fernseh-Shows auftritt? Wie kann es sein, dass er in kürzester Zeit über 2 Millionen Follower auf seinem Weibo versammelt hat? Vielleicht liegt es ja auch ein bisschen an dem folgenden Video. Nicht nur die Affenbande, die ihm zu schaffen macht, ist ein absolutes Highlight der jüngeren Weibo-Historie. Es ist vor allem sein mit ernster Miene vorgetragenes buddhistisches Gedicht über einen heiligen Berg. Denn das Komische daran ist, dass der liebe Mann sich zwar sehr viel Mühe gibt, aber am Hochchinesisch kläglich scheitert. Nicht, dass ich das beurteilen könnte, aber ich habe mir sagen lassen, dass sein breiter Hebei-Dialekt samt seiner falschen Töne unglaublich komisch klingt. Aber sehen Sie selbst!

Zensur Spezial: Chinas Versuch, die Online-Gerüchte zu stoppen, ist so schwammig wie der “Krieg gegen den Terror”

Der folgende Text ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines Artikels von Steven Millward, der so freundlich war, einer Veröffentlichung hier auf Doppelpod zuzustimmen (Übersetzung: Sven Hänke). Der Originaltext „China’s Attempt to Banish Online Rumors is as Vague as the War On Terror“ erschien heute auf techinasia.com.

Die “Internet Society of China’ (ISC) hat heute ein Papier mit dem Titel “Vorschläge zur Verhinderung von Internet-Gerüchten” (chinesische Fasung hier) herausgegeben, das durch Aufklärungs- bzw. Erziehungsmaßnahmen und strengere Regularien die Verbreitung von Tratsch und Gerüchten im streng kontrollierten chinesischen Internet verhindern will. Nur neun Tage nachdem die Behörden die beiden größten chinesischen Mirkoblogs bestraft haben, weil diese nicht in der Lage waren, politische Gerüchte zu unterbinden, erinnern diese Aktionen an den berüchtigten “Krieg gegen den Terror”, in dem die Bush-Administration versucht hat, alle Schurken zu bekämpfen, die ihr schaden könnten.

Das Problem ist nur, dass sowohl Gerüchte als auch der Terrorismus abstrakte Konzepte sind, und man schwerlich einen Krieg gegen ein Konzept gewinnen kann. Ebenso wie ein ungerechter Krieg eine neue Generation von Widersachern hervorbringt, die sich zu extremen Handlungen gedrängt fühlen, wird auch diese neue Welle des Durchgreifens, der Regulationen und der Zensur zu noch weniger Transparenz in der chinesischen Politik und im Internet führen und die Netizens zur Produktion von noch mehr Gerüchten nötigen. Chinesische Mikroblogs wie Sina und Tencent haben bereits eine hohe Anzahl an Mitarbeitern, die mit der Selbst-Zensur, der Sperrung von Nutzern und der Löschung von Posts beauftragt sind. Sie löschen Nachrichten mit Schlüsselwörtern, die die “Soziale Stabilität” bedrohen. Die neue Propaganda-Parole “Soziale Stabilität” ist mehrmals in dem ISC-Papier genannt. Hinzu kommt die neue Klarnamen-Richtlinie für die Mikroblogs, die die Gerüchte eindämmen soll. Denn dadurch sollen sich die Nutzer für den Inhalt der Tweets verantwortlich fühlen – oder eingeschüchtert. Aber Sina und Tencent werden überflutet mit Posts und die häufigste Strafe ist derzeit lediglich die Löschung der entsprechenden Nachrichten. Die Nutzer der Mikroblogs wissen das und verbreiten daher weiterhin Gerüchte – auch politische und trotzen damit der finsternen Dunkelheit der fehlenden Transparenz, die sowohl bei der Regierung als auch den On- und Offline-Medien vorherrscht, welche sich entweder der Regulierung unterwerfen, oder sich in die Gefahr begeben, ihre Geschäftsgrundlage zu verlieren.

Und so steht nun also ein “Krieg gegen die Gerüchte” bevor, der sich durch eine weitgehendere Überwachung von normalen Bürgern auszeichnet und jedermann pauschal unter Verdacht gestellt wird. Auch das erinnert an den “Krieg gegen den Terror”, bei dem die USA und Großbritannien ihren Polizeiapparat aufrüsteten. Im Westen setzte man immer fortgeschrittenere Technologien, wie die Gesichtserkennung und den Ganzkörper-Scanner ein. China hingegen hat die Medien bereits weitgehend unter Kontrolle. Man muss diese also eigentlich nur auf die Mikroblogs ausdehnen. Das Problem ist nur, dass es kaum noch etwas gibt, was noch unternommen werden kann. Den jüngsten Gerüchten über einen Staatsstreich wurde mit der bereits erwähnten Kommentarsperre und der Verhaftung von sechs Personen begegnet, die aktiv an der Verbreitung der Gerüchte beteiligt waren. Was soll man denn noch tun? Hunderte einsperren? Eine eingebaute Verzögerung der Verbreitung der Nachrichten in den Mikroblogs implementieren? Fordern, dass die Nutzer ihre Tweets per Fax an das lokale Polizei-Büro schicken? OK, der letzte Vorschlag war nicht ernst gemeint. Aber im Ernst: Wie soll man Fortschritte bei der Bekämpfung von Online-Gerüchten machen, wenn die chinesischen Internetnutzer keinen Lichtstrahl am Horizont sehen in Bezug auf die Authoritäten selbst?

Zensur Spezial: Tencent und Sina Weibo deaktivieren die Kommentarfunktion der chinesischen Mikroblogs

Als ich vor einiger Zeit in meinem Sina-Mikroblog eine Nachricht von einem mir unbekannten Nutzer erhielt, wunderte ich mich kurz über die seltsame Frage, die mir gestellt wurde. „Gab es in Peking wirklich einen Putsch?“, wollte jemand von mir wissen. Ich hielt es für einen Scherz oder einen – weil die Frage auf Deutsch gestellt wurde – nicht gerade unwahrscheinlichen Übersetzungsfehler. Ich hatte diese Nachricht schon beinahe vergessen, doch einige Tage später fingen die englischsprachigen Blogs und Online-Medien an, über diese Putsch-Gerüchte in den Mikroblogs zu berichten – über wilde Spekulationen darüber, dass hinter den verschlossenen Mauern des Regierungssitzes ein Staatsstreich stattgefunden haben soll. Und dann dauerte es noch eine Weile, bis die deutschen Medien diese Gerüchte wiederum bei ihrer China-Berichterstattung aufgriffen. Bisher gibt es weder von offizieller chinesischer Seite, noch von unabhängigen Berichterstattern irgendwelche Anzeichen dafür, dass diese Gerüchte mehr sind, als die typisch chinesischen Internetgeschichten, die sich meist wie ein Lauffeuer verbreiten und an denen oft genug nichts dran ist. Befeuert wurden die jüngsten Geschichten sicherlich durch Spekulationen über die politischen Hintergründe der recht spektakulären Absetzung des bei weiten Teilen der Bevölkerung bekannten, maoistisch orientierten Politikers Bo Xilai.

Schneeballsytemschlacht

Normalerweise würde ich mich einfach darüber ärgern, dass viele Journalisten offenbar nichts Besseres zu tun haben, als sich an der virtuellen “Stillen Post” zu beteiligen. Aber dieses Putsch-Gerücht hat offenbar ein Nachspiel. Die chinesische Regierung scheint sich tatsächlich auf eine Schneeballsystemschlacht einlassen zu wollen. Die aktuellen Gerüchte wurden zum Anlass genommen, strenger gegen deren Verbreitung vorzugehen. Seit heute Morgen kann ich in meinem Mikroblog bei sina.com keine Tweets mehr kommentieren. Und das geht nicht nur mir so. Wie die staatliche Zeitung “China Daily” in ihrer Online-Ausgabe mitteilt, wurden als Strafmaßnahme für die Verbreitung von Gerüchten die beiden großen Mikroblogs bei sina.com und tencent.com angewiesen, ihre Kommentarfunktion für fünf Tage stillzulegen. Laut dem ebenfalls staatlichen Medium “China Radio International” wurden im Zuge des Vorgehens gegen Gerüchte sechszehn Webseiten vom Netz genommen und sechs Personen wegen der Verbreitung von Online-Gerüchten festgenommen.

Salz wird euch nicht schützen!

Die chinesische Regierung, die ja die Medien stark in ihrer Berichterstattung einschränkt und auf verschiedenste Weise die Inhalte zensiert, führt schon seit längerem eine Kampagne gegen die Verbreitung von Unwahrheiten. Zum einen werden Gerüchte aktiv gelöscht, zum anderen wird versucht, aktiv “Aufklärung” zu betreiben. Weil die meisten Chinesen aber aus guten Gründen an der Objektivität der offiziellen Medien zweifeln, werden viele als wichtig eingestufte Informationen weiterhin durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben. So fürchtete man während der japanischen Reaktorkatastrophe auch in China die Gefahren des Fall Outs. Irgendwann kam dann das Gerücht auf, dass der Verzehr von gewöhnlichem Kochsalz ein effizienter Schutz gegen Verstrahlung sei. Innerhalb eines Tages waren daraufhin in Peking sämtliche Salzvorräte der Supermärkte leergekauft. Die offiziellen Medien strahlten zahllose Sondersendungen aus, um dieses unsinnige Gerücht und die dadurch ausgelösten Panikkäufe zu verhindern.

Only good news are good news

Vorkommnisse wie diese zeigen, dass Gerüchte in China tatsächlich eine reale Gefahr für Leib und Leben darstellen können. Mit Panikreaktionen großer Bevölkerungsteile ist in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern schließlich nicht zu spaßen. Die Reaktion der Regierung auf Gerüchte ist jedoch weitgehend hilflos und zeigt nur, dass man dort die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hat. Denn der Grund, warum in China die Menschen viel stärker als im Westen geneigt sind, auch den wildesten Gerüchte Glauben zu schenken, liegt eindeutig an der stark eingeschränkten Pressefreiheit. Durch eine freie Berichterstattung werden ja auch die Wahrheiten ans Licht fördert, die nicht im Sinne der Regierung sind. In China hingegen wird die Informationsweitergabe der Medien oft gedeckelt und „harmonisiert“, wie es im chinesischen Internetjargon heißt. Die Nachrichten der offiziellen Medien bestehen daher noch immer zu einem überwiegenden Teil aus Erfolgsmeldungen. Im modernen Journalismus westlicher Prägung sagt man „Only bad news are good news“, weil oft nur das Skandalöse, das Gefährliche, das Böse es in die sensationsgierigen Medien schafft. Für die weitgehend harmonisierte chinesische Medienlandschaft gilt das genaue Gegenteil: „Only good news are good news“. Wenn aber die Menschen kein Vertrauen in die Fähigkeit der Medien haben, über Skandale zu berichten, werden sie sich die Informationen über Umweltrisiken, politische Fehlentwicklungen, Gefahren für die Gesundheit und all die anderen Dinge, die unabdingbar Teil moderner Gesellschaften sind, zwangsläufig aus anderen – seriösen und unseriösen – Quellen besorgen.

Der Streisand-Effekt – Don’t think of an Elephant!

Ich halte die Regulierungs- und Zensurmaßnamen im chinesischen Internet, die derzeit angewendet werden, für insgesamt eher wirkungslos. Die Sperrung von Suchbegriffen, die Löschung von Tweets, und nun die “Bestrafung” der Mikroblogbetreiber durch Deaktivierung der Kommentarfunktion werden weder die Debatten unterbinden, noch Gerüchte vermindern. Die chinesischen Internetbenutzer haben bisher noch immer einen Weg gefunden, die Maßnahmen zu umgehen. Die Bemühungen, eine offene, kontroverse und teilweise sicherlich auch unsachliche Debatte über gesellschaftliche und politische Themen zu verhindern, werden langfristig so erfolgreich sein wie die Aufforderung, nicht an einen Elefanten zu denken. Denn ein Effekt, der in Zeiten des Internets immer wichtiger wird und den es bei jedem Versuch der Regulierung zu bedenken gilt, ist der so genannten Streisand- Effekt.

Als Streisand-Effekt wird bezeichnet, wenn durch den Versuch, eine Information zu unterdrücken, genau das Gegenteil erreicht wird, nämlich die Information besonders bekannt gemacht wird. Seinen Namen verdankt der Effekt Barbra Streisand, die den Fotografen Kenneth Adelman und die Website Pictopia.com 2003 erfolglos auf 50 Millionen US-Dollar verklagte, weil eine Luftaufnahme ihres Hauses zwischen 12.000 anderen Fotos von der Küste Kaliforniens auf besagter Website zu finden war. Damit stellte sie aber erst die Verbindung zwischen sich und dem abgebildeten Gebäude her, woraufhin sich das Foto nach dem Schneeballprinzip im Internet verbreitete.
http://de.wikipedia.org/wiki/Streisand-Effekt

Langfristig wird der Streisand-Effekt in China dazu führen, dass die Bevölkerung sich genau für die Themen besonders stark interessiert, die auf dem Index stehen. Welche Worte bei den Weibos zensiert werden, lässt sich schon heute auf vielen Internetseiten nachlesen und je aktiver und vehementer die Regierung gegen diese wahlweise auf Tatsachen oder Unsinn basierenden Diskussionen vorgeht, desto mehr wird die Öffentlichkeit zu diesen Themen herausfinden wollen. Möglichkeiten dazu bietet das Internet genug. Auch das zensierte.

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UPDATE (16:33):
Sina Weibo erlebt gerade das, was vom Sprachlog vor kurzem zum Anglizismus des Jahres 2011 gekürt wurde: Einen veritablen „Shitstorm“. Denn zwar wurde die Kommentarfunktion deaktiviert, aber beim „reposten“ kann man immer noch seine Meinung hinzufügen. Und davon wird jetzt ausführlich Gebrauch gemacht, um sich über diese sonderbare Form der Gerüchtebekämpfung entweder aufzuregen oder einfach nur zu amüsieren.

Das Mädchen aus Foshan und die Hoffnung

Es gibt Dinge, Bilder, Nachrichten, die sind ein Zeichen, das man nicht übersehen kann. Dieses Zeichen ist grausam. Ich hoffe mit den Eltern, dass Yueyue, das kleine Mädchen aus Foshan wieder gesund wird.

Die chinesische Gesellschaft hat ein großes Problem. Und dieses Problem ist die Rechtsunsicherheit. Wenn ein 2-jähriges Kind von einem Lastwagen überfahren wird, 18 Menschen vorbeigehen und niemand hilft, bis es schließlich ein zweites mal überrollt wird, dann ist das eine unmenschliche Handlung, die nur sehr schwer rationell erklärbar ist. Warum sehen so viele Menschen in China einfach weg? Sind sie kaltherzig?

Vielleicht. Vielleicht haben sie aber auch eine tiefsitzende Angst, die sie daran hindert, zu helfen. Viele Chinesen haben Angst sich einzumischen, weil das Rechtssystem in China nicht konsequent genug auf der Unschuldsvermutung beruht. Sie glauben, ein verletztes Kind könnte einem zur Last gelegt werden, wenn man in ein kompliziertes Geschehen wie einen Unfall involviert ist. Laut chinasmack.com wurde 2006 in Nanjing ein Mann verurteilt, der einer verletzten Frau geholfen hat. Ob diese Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, ist kaum nachvollziehbar. Aber sie spiegelt doch mit Sicherheit die Erfahrungen und Ängste der Chinesen wider.

Das Ignorieren des Leides hat nichts mit kulturellen Eigenheiten zu tun, sondern mit einem durch langjährige Erfahrung antrainierten Misstrauen gegenüber der Objektivität von Entscheidungsinstanzen. Solange es in China zu wenige gut ausgebildete und unabhängige Richter gibt, die nur dann jemanden verurteilen, wenn dessen Schuld zweifelsfrei bewiesen ist, werden vielen Menschen sich fürchten. Und wer die deutsche Geschichte kennt, der weiß, dass es mit Sicherheit kein kulturelles Phänomen ist, die Augen vor dem Schrecken und Leid zu verschließen.

Die Nutzer von Weibo verschließen ihre Augen nicht. Sie sehen sich geschockt und betroffen die Bilder an, die Sina auf seinem offiziellen Video-Tweet zeigt (Warnung: dem Link folgt das schockierende Video), und kommentieren zu Tausenden das schreckliche Ereignis.

Weibos Welt – Mikroblogs verändern die chinesische Gesellschaft

„Mikroblog“ ist in China zum Wort der Jahres 2010 gewählt worden. Diese Auszeichnung ist eines von vielen Anzeichen dafür, dass sich in der Volksrepublik ein medialer Wandel vollzieht, den man mit gewisser Berechtigung als Twivolution bezeichnen kann. Das chinesische Wort für Mikroblog lautet Weibo (微博) und wird fast gleich ausgesprochen wie das Wort für Schal (围脖). Im Internet hat sich dewegen die Bezeichnung „einen Schal weben“ (织 围脖) als Schlagwort für etwas durchgesetzt, das zu einem wichtigen öffentlichen Informationskanal geworden ist.

Mikroblogs sind soziale Netzwerke, die nach dem Vorbild von Twitter funktionieren und erlauben es den Benutzern, sich durch einen Kurznachrichtendienst miteinander zu vernetzen. Twitter selbst ist zwar seit 2009 chinaweit blockiert, die Dienste von chinesischen Anbietern jedoch erfreuen sich rasant steigenden Zuwachsraten. Die großen Online-Portale wie Sina.com, QQ.com und Sohu.com bieten Mikroblogs bereits seit 2007 an, aber der große bis heute andauernde Boom begann eigentlich erst vor zwei Jahren. In diesem Zeitraum ist die Anzahl der chinesischen Mikroblog-User von 8 Millionen auf inzwischen über 75 Millionen gewachsen. Blogs von chinesischen Berühmtheiten haben schon jetzt eine Reichweite, die viele Fernsehsender in den Schatten stellt. Der derzeit beliebteste Blog ist der von Chinas Sport-Nationalhelden, dem Hürdenläufer Liu Xiang (刘翔). Er hat fast 12 Millionen Fans, wie die chinesische Bezeichnung für Abonennten eines Blogs lautet. Aber auch der auf dem zweiten Platz liegende ehemalige Microsoft- und Google-Manager Li Kaifu (李开复) hat aktuell bei QQ.com über 11 Millionen Fans. Fast genau so viele haben Barack Obama und Brittney Spears bei Twitter – wenn man sie zusammenzählt.

Die Mikrobloggs werden in China wie überall auf der Welt genutzt, um alle, die sich für die eigenen Erlebnissen und Gedanken interessieren, auf dem Laufenden zu halten. Geschrieben wird über das eigene Alltagsleben, die beliebtesten Internetvideos und die neuesten Trends innerhalb und außerhalb der Netzwelt. In zunehmendem Maße werden die Mikroblogs aber auch genutzt, um Kommentare zu aktuellen Geschehnissen abzugeben, über die in den Staatsmedien nicht oder nur sehr wenig berichtet wird. Seit die Olympiade und die Weltausstellung vorrüber sind und die Konflikte in Tibet und Xinjiang das Land und die Weltöffentlichkeit etwas weniger in Atem halten, sind es immer seltener die konventionellen Massenmedien, die die Themen der politischen Diskussion vorgeben, sondern die Blogs und Mikroblogs im Internet.

Jin Yong wurde am 06.12 von chinesischen Blogs verstorben.

Zwar werden die Einträge, wenn sie sensible Themen betreffen, immer wieder von den Betreibern der Seite gelöscht – oder wie es in der chinesischen Internetsprache heißt: harmonisiert – aber diese Maßnahmen können es nicht verhindern, dass viele brisante und kontroverse Themen und Ereignisse einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden. Die chinesische Twivolution, so wie sie sich abzeichnet, zeigt jedoch im Gegensatz zu anderen Ländern derzeitig kaum die Tendenz zu einem revolutionären Umbruch. Es handelt sich auch in den Augen vieler chinesischer Intellektueller eher um einen langfristigen Transformationsprozess hin zu einer informierten Gesellschaft mit einer pluralistischen öffentlichen Meinung.

Dabei leisten Blogger augenscheinlich einen wertvollen Beitrag zu mehr Transparenz. Die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit durch die Blogger verringert bereits jetzt die Gefahr, dass Skandale „unter den Teppich gekehrt“ werden, weil sie nicht den Interessen der Regierung entsprechen und staatliche Medien oft nicht die Form von investigativem Journalismus betreiben, wie er in vielen anderen Ländern üblich ist. Die jüngsten Ereignisse beim sogenannten Ligang-Gate haben gezeigt, dass soziale Netzwerke, Blogs und immer mehr auch die Mikroblogs derzeit in China oft einen schnelleren Zugang zu gesellschaftlich relevanten Informationen bieten als die konventionellen Medien.

Die kürzlich von einem Beijinger Sozialwissenschaftler ins Leben gerufene Online-Kampagne zur Suche nach entführten Kindern, die in einigen Fällen zum betteln gewungen wurden, hat viele Menschen auf das Problem aufmerksam werden lassen. Viele User trugen aktiv zu der Suche bei, indem sie dem Aufruf folgten und Fotos von bettelnden Kindern auf der Mikroblog-Seite veröffentlichten. Diese Suche führte tatsächlich zu Ergebnissen und mindestens ein Vater konnte seinen entführten Sohn wieder in die Arme schließen. Der wahrscheinlich jedoch viel größere Erfolg dieser Aktion ist jedoch, dass sich die chinesische Öffentlichkeit mit diesem wichtigen Thema beschäftigt. Kinder, die von skrupellosen Erwachsenen zum Betteln missbraucht werden, sind in chinesischen Großstädten eine erschreckende Realität. Und nur eine möglichst breite gesellschaftliche Diskussion wird Wege finden können, diesen Kindern auch langfristig zu helfen.

Die alternativen Informationskanäle bergen jedoch auch Gefahren. Die Anonymität und Flüchtigkeit des Mediums Internet hat wie überall auf der Welt auch in China zur Folge, dass auch Unwahrheiten und Gerüchte sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Ein Beispiel aus der jüngeren Zeit ist ein Ereignis, das als „Jin Yong wurde verstorben“ (金庸 “被辞世”) in den Wortschatz der chinesischen Internetgemeinschaft Eingang gefunden hat. Im letzen Dezember verbreitete sich eines Nachts ein Gerücht, das schon am nächsten Morgen die Vögel von den Dächern zwitscherten: „Jin Yong, geboren am 22. März 1924, verstarb am 6. Dezember um 19.07 Uhr in einem Hongkonger Krankenhaus.“ Während einige Mikroblogger den Wahrheitsgehalt der Nachricht anzweifelten, schrieben andere bereits die ersten Nachrufe auf Jin Yong, den Schöpfer der klassischen Kungfu-Literatur. Und Meister Jin selbst? Der war weder tot, noch hatte er die Chance, zu der Nachricht von seinem plötzlichen Ableben eine angemessene Stellungnahme abzugeben.

Zusatz (27.05.2011, 13.53 GMT+8, korrigiert 27.05.2011, 20.50 GMT+8 )

Ich muss allerdings zu meiner Schande eingestehen, dass ich bisher keine Versuche unternommen habe, diese Variante der Geschichte zu überprüfen. Mir fehlt als Blogger einfach die Zeit. Ob Jin Yong gestorben ist oder nicht? Ich weiß es einfach nicht. In einem Vortrag, den ich im German Center, Beijing von der Vize-Präsindetin Yu Wei (于威) des chinesischen Online Big-Players sohu.com gehört habe, habe ich erfahren, dass viele chinesische Online-Medien für ihre Nachrichtenagebote wohl bald ganz auf Journalisten verzichten werden und stattdessen die User durch Mikroblogs die Nachrichten selbst generieren sollen. Das halte ich für eine schlechte Idee. Wenn man nicht die Gerüchteküche, die Anschuldigungen, die Propagenda und den ganzen anderen Unsinn im Internet ganz klar und eindeutig von den verifizierten Nachrichten trennt, dann sind das natürlich keine Nachrichten. (Wenn man den Lesern klar macht, dass die zusammengestellten Informationen keinen Anpruch auf Korrektheit haben, dann ist das OK. Ob man damit seine Marke als „Portal“ gegen die Konkurrenz behauptet kann, ist allerdings zweifelhaft)

Diese Idee von sohu.com ist sogar noch schlechter als der Trend, in Deutschland die Inhalte zu immer größeren Teilen ungeprüft von Nachrichtenagenturen zu übernehmen. Der Journalist muss in Zeiten, in denen die Medienproduktionsmittel ohnenhin in den Händen des Volkes sind, eine ganz andere Rolle einnehmen als früher. Als der Buchdruck erfunden wurde, hat der Kantor seine Predigerrolle eingebuesst – zu Recht. Und heute, wo der Zugang zur Produktion und Rezeption von Medien auf der ganzen Welt frei ist/sein wird, sind die Ansprüche an den Informationsgehalt von Nachrichten deutlich gestiegen. Diese Ansprüche müssen erfüllt werden, weil der Journalismus sich sonst auf lange Sicht womöglich selbst abschafft. Der Kapitän im Meer der Informationen ist gefragt. Und das mehr denn je. Für alles andere werden die Leute in einigen Jahren wahrscheinlich kein Geld mehr aus geben.