Das Lächeln der jungen Frau Liu und die Selbstkultur

Es ist nicht lange her, da schwappte eine Welle der Aufregung durch den chinesischen Makrokosmos der Mikroblogs. In einer Fernsehsendung hatten sich zwei ungleiche Kontrahenten über mehrere Runden ganz unverhofft ein verbales Duell geliefert, das streckenweise an Spannung mit einem guten Boxkampf mithalten konnte. An den Computern in ganz China saßen die Punktrichter, die mit ihren 140-Zeichen-Analyen darüber entschieden, wer als Sieger aus dem Schlagabtausch hervorgegangen ist. Das Votum der Mikroblogs war eindeutig: Die junge Frau Liu.

Die überwältigende Mehrzahl der Mikroblogs, in denen derzeit noch in großer Zahl das aufstrebenden Bürgertum seine Stimme findet und zu denen Chinas politische und wirtschaftliche Elite ebenso wie die Landbevölkerung erst langsam einen Zugang entwickelt, votierte in Online-Umfragen für die junge Frau und sympathisierte mit ihrer direkten, an Dreistigkeit grenzenden Schlagfertigkeit. Und halb China versuchte sich an der Analyse dieser für chinesische Verhältnisse sehr offenen Konfrontation. Hier nun meine Analyse.

Zunächst die Vorgeschichte: Auf einem Tianjiner Fernsehsender, der auch überregional zu empfangen ist, war eine neue Show angelaufen, in der junge Menschen auf der Suche nach beruflicher Veränderung sich den harten Fragen einer Jury aus erfolgreichen Geschäftsleuten stellen müssen. Die Show funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie DSDS und all die anderen Mittelmaß produzierenden Durchlauferhitzer fragwürdiger Talente. Auch die chinesischen Fernsehsender setzen bei der Unterhaltung auf die demokratischen Entscheidungen des Publikums, wenn es darum geht, Ausschau zu halten nach originellen Gesangsstimmen und perfekten Modellmaßen. Und wie überall sonnen sich die Teilnehmer für kurze Zeit in ihrer landesweiten Popularität, um dann alsbald wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Der größte Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Casting-Industrie besteht derzeit jedoch darin, dass die chinesische Unterhaltungsbranche kaum Anstalten macht, die in Deutschland üblichen, sadomasochistisch geprägten Elemente dieser Fernsehgattung zu kopieren. In China gibt es keine Unterhaltungssendungen, derer Prinzip es ist, die Entwürdigung und Erniedrigung medial inszenierter Verlierertypen als postsatirisches Schauspiel zu vermarkten. Auch die niedersten aller Mediengeschöpfe, jene Moderatoren, die Mobbing, Schadenfreude und Beleidigungen unter dem Deckmantel der Ironie zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen, gibt es in China nicht. Vielleicht muss man sagen: Noch nicht.

Nicht, dass es in China keinen Spott gäbe, der sich über die Skurrilen und Verkorksten ausschütten lässt. Das chinesische Internet ist voll von Selbsdarstellern, die sich vollkommen freiwillig auf der Suche nach ein wenig Ruhm an den virtuellen Pranger stellen, bloß um von der Internetgemeinde mit Schmutz beworfen zu werden. Aber im Staatsfernsehen, in dem sich die Kräfte des Marktes nur in den Werbepausen ein wenig austoben können und die oft brutale Realität Chinas nur selten hinter den Weichzeichner-Orgien der Fernsehregisseure hervortritt, da gibt es für die Schande keine Öffentlichkeit. Auch in den Talk-Shows tragen die Menschen, die sich seelischen entblößen und die dadurch Opfer ihrer eigenen Lebenswelt werden könnten, sehr oft Masken, damit sie nicht erkannt werden.

Nun könnte man annehmen, dass Zhang Shaogang, der Medienprofi, der auch schon als gestrenges Jury-Mitglied einer Casting-Show für Nachwuchsmoderatoren in Erscheinung getreten ist, in der Fernsehsendung “Feichang Moshu (非你莫属)“ einfach ein bisschen Krawall anzetteln wollte und die mediengerechte Kontroverse bewusst gefördert hat, als er die junge, selbstbewusste Kandidatin Liu Lili abstrafte, wie ein unangenehmer Oberlehrer eine aufsässige Siebenjährige. Vieles spricht jedoch dafür, dass es Zhang Shaogang nicht auf den bloßen Show-Effekt angelegt hat, als er die Fernsehsendung zu einem Gerichtshof über Liu Lilis Lebenseinstellung werden ließ. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen „echten“ Konflikt gehandelt hat.

Der Konflikt, der zwischen den beiden ausgetragen wurde, ist vielleicht auch ein Konflikt, der etwas über die nationale Psyche Chinas zu Tage gefördert hat, das wie ein verdrängtes Kindheitstrauma die moderne chinesische Gesellschaft begleitet. Ich denke, dass Liu Lilis Auftreten, das für jüngere Menschen in China in keiner Weise ungewöhnlich ist, einen Bruch mit der herkömmlichen Einstellung der Chinesen zum westlichen Ausland darstellt. Es geht im Grunde aber auch um eine viel tiefer gehende Frage.

Chinas junge Generation lebt seit frühester Kindheit in engem Kontakt mit ausländischen, kulturellen Erzeugnissen und viele haben eine enge, emotionale Bindung zu nicht originär chinesischen Lebenseinstellungen entwickelt. Die spannende Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Jugend in der Zukunft weiterhin dem Bedürfnis der älteren Generationen nachkommen wird, die Welt fast zwanghaft aus chinesischer Perspektive wahrzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich genug über China weiß, um mir die Rolle eines Psychiaters zuzutrauen, aber was soll’s. Ich nehme ja kein Geld dafür.

Die 24-jährige Liu Lili hat in ihrer Kindheit drei Jahre in Neuseeland verbracht und offensichtlich hat diese Zeit sie sehr geprägt. Sie stammt aus der Provinz Hubei und stellt sich zu Beginn der Sendung selbst vor. Sie hat an der Fremdsprachenhochschule in Beijing einen Bachelor in Englisch gemacht und sagt über sich selbst, dass es ihr positivster Charakterzug sei, die Dinge direkt beim Namen zu nennen.

Direktheit als positiver Charakterzug einer Chinesin? Wenn es eines gibt, das Chinesen, besonders die Frauen normalerweise als ungehobelt ablehnen, dann ist es doch die Geradlinigkeit und Direktheit. Was die Chinesen gern als “Hanxu (涵蓄)“ bezeichnen und womit viele auch mit Stolz die chinesische Kommunikationskultur charakterisieren, ist eine Indirektheit, die es gerade Ausländern sehr schwer macht, sich in der Gedankenwelt der Chinesen zurecht zu finden. Liu Lili will das nicht. Sie will direkt sein.

Ansonsten erscheint Liu Lili zunächst als normale junge Frau, die erzählt, dass sie manchmal auch auf den eher trashigen Look (臭美) steht, gerne Shakespeare liest, aber am allerliebsten in den Mikroblogs surft. Sie sieht sich selbst als „Workaholic“, nimmt das Leben jedoch auch nicht zu schwer.

Der Moderator der Show scheint jedoch von Anfang an keinen besonderen Gefallen an ihrem Auftreten zu finden. Als Liu Lili mit den Moderatoren in eine Art Streitgespräch gerät, ob sie nicht doch eher die Sonette von Shakespeare meint, die es ihr angetan haben und nicht die „Helden-Couplets“, von denen auch die Jury noch nie etwas gehört hat, fällt sie bei der Erklärung kurz ins Englische. Sie sagt „It’s kind of like…“.

Auch wenn man das Gefühl hat, dass Liu Lili ein wenig mit ihren Englischkenntnissen und ihrem Auslandsaufenthalt im fernen Neuseeland kokettiert, so wirkt es auf mich noch lange nicht so affektiert wie die Gespräche, die man oft in den Einkaufzonen der Großstädte mitverfolgen kann. Shanghais und Beijings „Upper-Nose-Class“ hat es sich doch schon lange zur Sitte gemacht, englische Worte und ausländische Urlaubsaufenthalte in Gespräche zu streuen wie Schokoladenstreusel auf den Cappuccino von Starbucks. Über dieses Phänomen lacht man sich im Internet seit längerem kaputt und keiner hat es besser auf den Punkt gebracht, als die landesweit bekannte Schwester „hold住“ , die grell geschminkt in einem bizarren Chinglisch von ihrem Shopping-Trip in Paris berichtet.

Auch wenn die chinesische Regierung im letzten Jahr beschlossen hat, das lateinische Alphabet aus Zeitungstexten herauszuhalten, sieht die sprachliche quasi-bilinguale Realität der Großstädte doch ganz anders aus. Das junge China jedenfalls liebt den Mix mit dem Ausland ebenso wie das klassischste aller chinesischen Club-Getränke: schottischen Whisky mit grünem Eistee.

Aber der Moderator Zhang Shaogang hält nichts von Mischungen. Er ist Chinese, und im Verlaufe des Gespräches sieht er es offenbar als eine Art Dienst am Vaterland, auch Liu Lili daran zu erinnern, dass Chinesen nicht aus ihrer Haut können. Denn als Liu Lili über ihre Zeit in Neuseeland berichtet und erzählt, dass sie nicht zu lange von China fortbleiben könne, weil in Neuseeland der Lebensrhythmus einfach zu langsam ist, wird der Moderator zum Oberlehrer des chinesischen Nationalstolzes.

Hier der Dialog:

Moderator (finster): „Warte mal, warum habe ich das Gefühl, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft, wenn ich mich mit dir unterhalte? Wenn ich mit meinen Freunden spreche, frage ich sie wohl kaum ´Hallo, was hältst du eigentlich von China?` Das ist unser Land. Wenn wir in der Heimat sind, müssen wir dann noch darüber sprechen, als wäre es ein Eigenname (用大写来称呼) ?“

Liu Lili: „Wenn Sie über China sprechen und das Wort ´Heimatland` benutzen, ist das doch auch ein Eigenname.“ (Das Publikum raunt)

Moderator (sauer): „Ich sage: ´Wir hier`“

Liu Lili: „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass man sich hier etwas gewählter ausdrücken sollte. Darum habe ich dieses rhetorische Mittel gewählt. Ich sieze sie ja schließlich auch.“

Moderator: „So, wie du mit mir sprichst, lässt es mich wieder kalt erschaudern. Zuerst sei bitte nicht so verkrampft und als nächstes: Sprich einfach normal, OK?“

Im weiteren Verlauf des Gespräches weist der Moderator Liu Lili noch mehrmals zurecht und kritisiert ihre Aggressivität. Liu Lili hingegen fühlt sich von den Fragen des Moderators und auch von der Jury angegriffen und unter Druck gesetzt. In einer Szene wird sie aufgefordert, sich doch auch mal von ihrer natürlichen Seite zu zeigen und zu lächeln. Als sie das dann tut, ist sich der Moderator nicht zu schade, ihr Lächeln als „gruselig“ zu beschreiben.

Auch in keiner der weiteren Diskussionen hält Liu Lili es für angebracht, auf die Kritik reuig und demütig zu reagieren, sondern stuft die Kritik ihrerseits als unangemessen ein. Und ein Aspekt fällt auf: Die Kritik der Juroren bezieht sich in keinem der Fälle auf ihre Fähigkeiten. Stattdessen sind sie der Auffassung, Liu Lili habe ein Problem mit ihrer Einstellung. Sie sehen es als Affront an, dass Liu Lili dieses Vorstellungsgespräch nutzt, ihre Schlagfertigkeit und ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Liu Lili verlässt die Show, nachdem das einstimmige Votum der Jury entschieden hat, dass sie als Mitarbeiterin absolut ungeeignet ist. Ein Juror ergreift kurz das Wort für sie und erklärt die aktuelle Missstimmung mit kulturellen Unterschieden, die er Liu Lilis Auslandserfahrung zuschreibt. Aber am Ende knipst auch er das Licht aus.

Wie komme ich nun darauf, diesen Zwist so weit auszulegen, dahinter mehr als nur die Animositäten eines selbstverliebten Moderators und einer mit der Herde blökenden Schafs-Jury zu sehen? Nun, der Satz, der den Moderator so sehr aufgeregt hat, dass er seiner Moderatorenrolle in keiner Weise mehr gerecht wurde, war Liu Lilis politisch inkorrekter Satz, der nicht mit „Wir Chinesen…“ begann. Sattdessen beschreibt Liu Lili China mit einer gewissen Distanz, die fast schon einen Tabubruch in der chinesischen Gesellschaft darstellt.

Chinesen sprechen über ihre Landsleute so gut wie nie in der dritten Person. Die Deutschen können das sehr gut (wie dieser Satz zweifelsfrei belegt) und tun sich oft eher etwas schwer, sich als Kollektiv zu verstehen; in China ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Für diesen Kollektivierungsdruck, der die nationale Identität Chinas begleitet, finden sich im Alltagsleben und in politischen Entwicklungen in China viele Anzeichen.

Ich denke, dass die Situation ein wenig vergleichbar ist mit der Situation in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Die Generation meines Großvaters weigerte sich noch vollkommen, die Lebens- Arbeits- und Essgewohnheiten, die plötzlich nach Deutschland schwappten, zu akzeptieren. Man konstruierte ein Deutschlandbild, das an der Realität der jungen Menschen, die mit Coca Cola und dem „American Way of Life“ als Teil ihres Lebens groß geworden sind, vollkommen vorbei lief. Dieses Bild hielt sich nicht sehr lange. Wenn die deutsche Kultur nicht in der Lage gewesen wäre, auch Elvis, Marylin Monroe und die Beatles in ihren Kanon aufzunehmen, dann hätte sich die Jugend von ihr abgewandt.

Ich behaupte keinesfalls, dass die Geschichte von Liu Lili nur unter diesem Aspekt gedeutet werden kann, aber sowohl in ihrer spontanen und direkten Art, ihrer Biographie als auch in ihrer Sprache – bei dem Namen Shakespeare geht ihr das Englische Original deutliche flüssiger von den Lippen, als die korrekt sinisierte Lehnübersetzung Shashibiya (莎士比亚) – stellt Liu Lili ihre Identifizierung mit dem Ausland unter Beweis, die vielen Chinesen suspekt ist.

Die aktuelle Kulturpolitik Chinas, die immer stärker betont, den chinesischen Charakter der Kultur vor ausländischen Einflüssen zu bewahren, spricht eine ähnliche Sprache. Aber – und das ist denke ich der Kern dieses Konfliktes – die Abschottungsbemühungen und die Besinnung auf das genuin Chinesische, deuten wohl eher auf ein unterbewusstes Wissen um den Verlust der Anziehungskraft des chinesischen Kollektivwesens traditioneller Prägung hin. Kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nur sehr schwer durch Restriktionen beeinflussen. Eventuell ist es möglich, durch Tabuisierungen von Lebens- und Denkweisen für eine Weile zu verhindern, dass eine Strömung zu einem Strom wird. Auf lange Sicht aber sind sowohl Politik als auch die versammelten Traditionsbewahrer recht machtlos, gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Durchmischungen zu verhindern, insbesondere wenn der Gral, den sie hüten, seinen Glanz verloren hat.

Welcher chinesische Jugendliche wird denn davon abzuhalten sein, über die Frechheiten, die direkte Art des Humors und die Dreistigkeit der Comic-Figuren im „Kungfu-Panda“ zu lachen, wenn die chinesische Variante ein uninspirierter und schlecht animierter Kungfu-Hase mit öden Gags ist. Das chinesische Wir-Gefühl wird nur dann in der Globalisierung seinen Platz finden können, wenn es flexibler wird und fremde Einflüsse auch auf kultureller Ebene als etwas Gutes anerkennt.

Falls irgendeine Knalltüte auf die lustige Idee kommen sollte, diesen Text ins Chinesische zu übersetzen, um mir eine Horde der immer noch zahlreichen, nationalstolzen Internetkaputtnicks auf den Hals zu hetzen, hier noch mal Klartext: Ich will hier keinesfalls der Überlegenheit der westlichen Kultur das Wort reden. Im Gegenteil – ich bin eher der Meinung, dass der gesellschaftliche Eskapismus, die Verabsolutierung der Ironie und ein falsch verstandener Liberalismus große Teile der westlichen Populärkultur zu einer von Zynikern bewohnten, intellektuellen Wüste verwandelt hat, in der selbst bei Regen oft nur noch Unkraut gedeiht. Die Chinesen sollten einen Teufel tun, so etwas Unsinniges wie beispielsweise das Privatfernsehen westlicher Prägung zu vermissen, denn Trash braucht keine Öffentlichkeitsarbeit.

Aber: Gute Dinge sind gut, egal aus welchem Land sie kommen. Schlechte Dinge sind schlecht, egal wer sie sich ausgedacht hat. Dinge vermischen sich und mit ein wenig Abstand, mit einer gesunden Distanz zu seinem Land sieht man die Dinge besser. Wenn man sich nicht in jeder Hinsicht als Chinese fühlt, dann ist das normal und es wird Zeit, die Idee von China aus der panikartigen Umklammerung seiner konservativsten Kräfte zu befreien. Das gilt im Grunde ja für jede Kultur. Auch bei der deutschen Debatte um die Leitkultur und um das angebliche Multi-Kulti-Desaster wird gerne übersehen, dass der einzige Weg, eine Kultur zu fördern über dessen Weiterentwicklung, Öffnung und Anpassung an die komplexe Wirklichkeit geht. Kulturbewahrung ist immer auch ein aktiver Transferprozess und bedarf der Aktualisierung und einer bewussten Integration von äußeren Einflüssen in das vorhandene Werteumfeld.

Ich habe inzwischen fast zwanzig Prozent meines Lebens in China verbracht und auch wenn ich zu vielem in China keinen emotionalen Zugang entwickle, fühle mich irgendwie zu zwanzig Prozent als Chinese. Daran ändert auch nicht, dass kein Chinese einem Deutschen, der nicht in China geboren ist und der somit kein „Ahne des Drachen“ ist, jemals gestatten würde zu sagen: „Wir Chinesen…“.

Rajvinder Singh hat geschrieben, dass jeder Mensch eine Selbstkultur hat, die uns davor bewahrt, alte Muster bis in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Menschen entwickeln aus interkulturellen Erfahrungen, denen wir alle ausgesetzt sind, eine eigene Kultur, die über die kollektive Identität hinausgeht. Nur wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, die zunehmend globalisierte Selbstkultur ihrer Menschen in den langen Strom der Geschichte zu integrieren, werden die Menschen auch in Zukunft etwas haben, das sie für bewahrenswert halten.

Ist es nicht seltsam, dass China, eine Nation, die sich mit ihrer ganzen Kraft der Entwicklung und der Idee der besseren Zukunft verschrieben hat, ihre nationale Identität vor allem auf der langen Geschichte und Tradition aufbaut? Manchmal kommt es mir so vor, als laufe China mit großen Schritten in Richtung Zukunft. Weil aber niemand sehen möchte, wie diese Zukunft wirklich aussieht – wie die neue Zeit immer mehr auch den Menschen verändert – hat man sich umgewandt, den Blick in die Vergangenheit gerichtet und läuft einfach rückwärts mit großen Schritten weiter.

Manchmal wird diese Verdrängung sichtbar. Wenn zum Beispiel ein chinesischer Moderator nicht in der Lage ist, auf selbstbewusstes und unabhängiges Auftreten mit Souveränität und sachlicher Kritik zu antworten und stattdessen eine vorgeblich falsche Einstellung zum Anlass nimmt, sich selbst zu erhöhen, wird er es kaum schaffen, dieses „Wir-Gefühl“ zu fördern, das er so vehement einfordert.

Das Ende der Geschichte: Liu Lili hat inzwischen ein Job-Angebot einer großen chinesischen Zeitschrift, deren Verantwortliche ihre Eigenständigkeit zu schätzen wissen.