Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie beginnt mit einer Fotoserie bei Weibo. Darauf zu sehen sind junge deutsche Männer. Einigen Kommentatoren, es sind wohl meist jüngere Frauen, gefallen diese Bilder sehr. Sie schreiben:
„Ich dreh durch. Die sehen so gut aus.“ „Lecker, die Jungs!“ „Der auf dem letzten Bild, der mit den spitzen Eckzähnen, der ist so süß, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft.“
Diese Männer heißen aber nicht Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, oder Miroslav Klose. Sie tragen Name wie Karl Brommann, Maximilian Mayerli und Michael Wittmann. Sie waren hochrangige Mitglieder der deutschen Reichswehr oder der SS und sie tragen dunkle Uniformen. Dass diese Männer hauptberuflich mit Krieg und Völkermord beschäftigt waren, scheint die chinesischen Kommentatorinnen nicht allzu sehr zu stören. Oder sie wissen es einfach nicht. Kann es sein, dass der millionenfache Mord an den Juden und der Zweite Weltkrieg, also unsere urdeutschen Verbrechen an der Menschlichkeit, in ihrem Schulunterricht nicht thematisiert worden sind? Kann das sein? Das frage ich mich.
Fast alle gebildeten Chinesen wissen sehr genau Bescheid über Willi Brandts Kniefall in Warschau, weil sie diese Geste als Beispiel für das deutsche Unrechtsbewusstsein ansehen und so eine Geste noch immer von den Japanern erwarten. Aber wissen die jungen Chinesen denn gar nicht, wofür Willi Brandt dort um Vergebung gebeten hat? Wissen sie nichts von den Opfern, denen er dort seine Ehre erwies? Wissen sie nichts über das rassistische Menschenbild der Nazis und dessen Folgen? Offenbar nicht.
Denn wie erklärt man sonst die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie? Ich habe von dieser Geschichte zum ersten Mal erfahren, als in meinem Büro das Telefon klingelte. Die Verwaltungsangestellte in meiner Universität bat mich, meinen Pass mit dem aktualisierten Visum abzuholen. Ich ging einige Schritte über den Campus und klopfte an der Tür zum Gemeinschaftsbüro des Auslandsamtes. Ein älterer Herr öffnete. Ich kenne ihn schon länger und er hat mich immer mit einer etwas sonderbaren Hochachtung behandelt. Dieser Mann sieht für einen Chinesen etwas ungewöhnlich aus. Seine Gesichtszüge sind fast europäisch und seine leicht ergrauten Haare sind nicht vollkommen schwarz sondern spielen ins bräunliche. Man könnte ihn für einen Mischling halten, ein Mischblut, wie es im Chinesischen richtig heißt und vielleicht spielt diese Tatsache eine Rolle.
Wenn ich in seinem Büro war, sah er manchmal Filme auf seinem Computer oder blätterte in Antiquitäten-Magazinen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, erklärt er fast feierlich, dass er Deutschland und die Deutschen sehr verehre. Er bat, mich Platz zu nehmen, bot mir Tee an und gab mir Bonbons, die nach gegorener Milch schmeckten. Dann sprach er von Deutschland und den Deutschen, den deutschen Tugenden und unserer Aufrichtigkeit. Am liebsten mag er China, sagte er, aber am zweitbesten sind die Deutschen. Die Japaner, die mag er gar nicht.
Beim zweiten Mal, als ich in diesem Büro war, hob er den Daumen und sagt unverständliche Namen. Er sagte Heerman Gelin(赫尔曼•戈林) und Yuesefu Gepeier (约瑟夫•戈培尔) und er sagte auch Ensite Luomu (恩斯特•罗姆). Gelin ist der Beste. Gelin. Gelin. Kennst du Gelin? Immer wieder sagt er diesen Namen und er hob den Daumen. Seine Kollegin – die manchmal mit einer Gurken-Masken auf ihrem Schreibtischstuhl döste – schüttelte den Kopf. Sie sagte, dass ihr Kollege ein Deutschland-Fetischist sei. Ich wusste nicht genau, was das sein sollte. Und weil ich immer noch nicht verstand, was er mir mit den komischen Namen sagen wollte, ging er zu seinem Aktenschrank und holte eine Tüte hervor. In der Tüte waren DVDs und auf all diesen DVDs waren bekannte Nazi-Größen abgebildet. Eine davon zog er hervor und zeigt darauf. Gelin, Gelin, das ist der Beste, sagte er und tippte mit dem Finger auf Herrmann Göring. Herrmann Göring stand breitgrinsend in seiner weißen Sonntagsuniform neben einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe. Göring war der Lieblingsnazi des freundlichen Chinesen aus dem Auslandamt meiner Universität.
Wenn man länger in China lebt, dann lernt man, dass es viele Chinesen gibt, die Sympathie für Hitler hegen. Man hält Hitler oft – ähnlich wie Mao Zedong – für einen Mann, der die Kraft hatte, den Lauf der Geschichte zu verändern. Diese sogenannte „großen“ Männer werden oft nicht moralisch beurteilt, sondern aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihrem Talent, die Menschen zu bewegen und zu steuern.
Ich versuche dann meist in aller Kürze zur Klärung der Sachlage beizutragen und vermittele mit einfachen Worten den deutschen Standpunkt, beziehungsweise den Standpunkt der meisten Deutschen mit einem Intelligenzquotienten, der höher ist als die Raumtemperatur. „Hitler nicht gut. Hitler, böser Mann“, sage ich dann zu den Taxifahrern und Gemüsehändlern mit nationalsozialistischer Gesinnung. So leicht lassen sich chinesische Hitler-Fans allerdings – wie offensichtlich überall auf der Welt – nicht bekehren.
Als ich zum dritten Mal im Büro dieses älteren Herrn im Auslandsbüro war, erzählte er mir dann von Hitlers chinesischer Familie. Hitler sei in seiner Wiener Zeit in einer finanziellen Notsituation gewesen und eine chinesische Familie mit dem Namen Zhang habe ihn bei sich aufgenommen und seine Studiengebühren bezahlt. Er erzählt mir, in dieser Zeit habe Hitler auch angefangen, Tee zu trinken und die Werke des Sunzi, also dessen „Kunst des Krieges“ zu studieren. Hitler sei so sehr von China so fasziniert gewesen, dass es sein Plan war, so soll es eine enge Vertraute des Führers berichtet haben, die Welt zwischen dem Volk der Chinesen und dem Volk der Deutschen aufzuteilen. Alles östlich von Pakistan, erzählte mir der freundliche Herr aus dem Auslandsamt der Universität, sollte den Chinesen unterstellt werden und alles westlich davon dem Führer. Und während er das sagte, hatte er ein Strahlen in den Augen
Ich hielt den alten Mann für vollkommen verrückt, bis ich auf einen Text aufmerksam wurde, der seit 2009 im chinesischen Internet zirkuliert und der genau diese krude Geschichte detailliert erzählt. Bei dem sozialen Netzwerk „Kaixin“ wurde die Geschichte vom sinophilen Hitler 170.000 Mal gelesen und 40.000 Mal kommentiert.
Dieser Text geistert auch heute noch durch die Mikroblogs und trägt weiterhin dazu bei, die Hitler-Figur aus ihrem historischen Kontext zu lösen und zu mythisieren. So ist das chinesische Internet eben, könnte man meinen. Alles, was irgendwie in vorhandene Denkmuster passt, verbreitet sich wie ein Virus. Und weil das nicht immer im Sinne der chinesischen Regierung ist, bemüht man sich, bisher vollkommen vergeblich, die brodelnde Gerüchteküche unter Kontrolle zu bringen. Liebe chinesische Regierung. Macht es euch doch nicht so schwer. Das Prinzip heißt Aufklärung und es beruht darauf, sich über die Dinge in dieser Welt zu informieren. So und jetzt gut zugehört: Ich zeig Euch mal, wie das funktioniert. Die Fakten:
Abgesehen davon, dass Hitler im Zweiten Weltkrieg ein Verbündeter der Japaner war und damit politisch die Mitschuld trägt an den grausamen Verbrechen am chinesischen Volk, wie dem Massaker in Nanjing, gibt es noch weitere Belege für die Unsinnigkeit der Aussage, dass Hitler eigentlich ein „Freund Chinas“ war. Als zum Beispiel der Deutsche John Rabe 1938 nach Deutschland zurückkehrte und Hitler in zahllosen und heute gut dokumentierten Briefe um Hilfe für das chinesische Volk bat und über die Gräueltaten der Japaner auf Vorträgen berichtete, als er Hitler also um Unterstützung für das chinesische Volk bat, wurde er von der Geheimpolizei verhaftet.
Unter den Opfern des Nationalsozialismus waren auch Chinesen. Mehrere hundert Chinesen, die damals in Berlin und Hamburg lebten, waren nach dem Machtantritt der Nazis ständig in Lebensgefahr. Durch die Rassenpolitik verschärfte sich ihre Situation. Viele wurden verhaftet und ausgewiesen, anderen gelang es, rechtzeitig unterzutauchen oder zu flüchten, aber für zwanzig Gefangene gab es keine Rettung und sie starben während der Zwangsarbeit.
Sicher, die Idee, dass Hitler ein stiller China-Verehrer gewesen sein soll und in seinem Memoiren über seine liebevolle asiatische Ersatzfamilie geschrieben hat, klang für mich vom ersten Moment wie ein reines Hirngespinst. Nicht zuletzt deswegen, weil die einzigen existierenden Memoiren Hitlers, die Hitler-Tagebücher, eine dreiste Fälschung waren. Aber auch die Art und Weise wie der chinesische Internet-Text geschrieben wurde, lässt vermuten, dass jemand ganz bewusst eine Lüge in die Welt gesetzt hat, aus welchen Gründen auch immer.
Ich habe mich aber nicht damit begnügt, diese These ungeprüft als Unfug abzutun, sondern ich habe mir Hitlers Buch „Mein Kampf“ besorgt, denn dieser Text ist ja das Einzige, was mit dem Wort Memoiren gemeint sein könnte. Ich hab „Mein Kampf“ nach Stichworten wie „China“, „Chinesen“ und „Sunzi“ durchsucht. China kommt nur ein einziges Mal darin vor und zwar als banales Beispiel für ein großes Land. Auch das Wort „Chinesen“ erwähnt Hitler nur ein Mal, nämlich als er seine Rassenlehre erläutert und feststellt, dass es ein vollkommener Irrtum sei, anzunehmen, dass ein Chinese, oder ein Neger (sic) durch das Erlernen der deutschen Sprache, zu einem Deutschen werden könne, weil das Deutsch-Sein eben im Blut und nicht in der Sprache sei. Hitler argumentiert in diesem Zusammenhang, dass eine Zuwanderung bzw. eine Durchmischung des deutschen Blutes langfristig dazu führen würde, dass Deutschland sich abschafft. Na, das kennen wir ja.
Über die Kriegs-Lehre des Sunzi verliert Hitler in „Mein Kampf“ kein einziges Wort. Und auch wenn die chinesischen Hitler-Fans das vielleicht nicht so toll finden: Hitlers Weltanschauung, seine rassistische Verachtung von Menschen, die kein rein-germanisches Blut in den Adern haben, ist nicht von der chinesischen Kultur beeinflusst. Das hat der sich ganz alleine ausgedacht, oder von anderen rassistischen Wirrköpfen kopiert.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich hier erwähnen möchte. Vor kurzem hat ein chinesischer Wissenschaftler einen Vortrag auf Deutsch gehalten, in dem er Belege dafür präsentiert hat, dass es während der Hitler-Diktatur eine Reihe von militärischen, kulturellen, aber auch menschlichen Kontakten zwischen China und Deutschland gab. Er hat Fotos, Tagebucheinträge und Dokumente präsentiert. Ich erinnere mich auch, dass er von deutsch-chinesischen Ehepaaren berichtet hat, die in dieser Zeit fast unbehelligt leben konnten. Ich zweifle kaum an der Echtheit der Dokumente, was mich bei dem Vortrag nur sehr befremdet hat, ist die Tatsache, dass der chinesische Wissenschaftler auf die historisch belegten Verbrechen des Hitler-Regimes am chinesischen Volk so gut wie nicht eingegangen ist.
Sicher macht man es sich zu leicht, wenn man ein Regime, einen Politiker, eine Epoche historisch eindeutig einordnet oder wie in diesem Fall vielleicht sogar dämonisiert. Aber man muss doch zunächst mit der Darstellung der wesentlichen Ereignisse beginnen, um dann dem Schwarz-Weiß-Bild auch die nötigen Grautöne hinzufügen zu können.