Mietfahrräder – Das geht vorüber!

Ich muss mich doch sehr wundern. Da hatte man sich darauf eingestellt, dass der Siegeszug des Automobils in China unumkehrbar, unaufhaltsam und zudem auch noch unheimlich ungesund ist. Und dann das.

Vor ein paar Wochen radelte ich noch eingequetscht zwischen einem zwölftonnenschweren Hausfrauenpanzer, einem buntlackierten Mätressenhobel und einem dieser übermotorisierten Beamtenkinderspielzeuge durch meine bläulich flimmernde pekinger Wahlheimat. Nur ganz selten zeichnete sich die Silhouette eines der wenigen keuchhustenden Leidensgenossen auf einem beinkraftbetriebenen Zweirad im Abgasdunst ab.

Dann geschah etwas, was sich in letzten Monaten zwar angedeutetet hatte, in diesem Ausmaß aber dann doch überraschend kam. Es kam der Mietfahrräder-Hype. In China gibt es ja meist nur Hype oder Untergang, Millionär oder Hungerlöhner. Ganz oder gar nicht. Und nun also ganz. Irgendein Geschäftsmann stellte ein paar Mieträder auf die Straße. Per App gemietet und mit dem Handy bezahlt. Ein Kuai in der Stunde.

Es kam gut an. Sehr gut sogar. Seit diesem Frühling ist ein großer Teil der wieder wachsenden Zahl an Fahrrädern auf den Straße Pekings gemietet.

Wieviele? Übertreibe ich? Kann es sein, dass das so schnell geht? Nun, ich sitze hier gerade in einem Cafe. Ich mach mal eben eine Strichliste, wie viele herkömmliche und wie viele Mietfahrräder hier vorbeikommen. Am Ende dieses Textes kommt dann die Auswertung.

Vor ein paar Monaten erzählten mir meine Studenten davon. Und ich dachte: Och ja, das kenn ich aus Deutschland. Diese Bahnfahrräder gibt es doch schon so lange, dass ich noch von Studentenpartys damit nach Hause geradelt bin. Und das ist wirklich schon eine ganze Weile her. Und so richtig durchgesetzt haben sie sich in Deutschland auch nicht. Ob das mal eine innovative Idee mit Potenzial ist?

Aber China ist eben auch nicht Deutschland. Denn wenn hier irgendetwas Neues auf den Markt kommt, dann will man es zumindest ausprobieren. Und so fahren in diesem Frühling eben Hunderte, Tausende, Millionen von Pekingern auf gelben, blauen, roten Mietfahrrädern durch die Stadt.

Was heißt das schon. Meist hält so ein Hype nicht lange an. Ich kenn mich da aus. Als damals alle anfingen, auf diesen komischen iPhones herumzuwischen, da hab ich auch sofort gewusst: Das hält nicht lange an. Das ist ein Hype. Der Mensch braucht Tasten. Und? Hab ich nicht Recht behalten?

Nun wie versprochen die Strichliste.

Wie viele konventionelle Fahrräder sind an meinem Fenster des Cafés in der Gouzidian-Straße vorbeigekommen?

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Und wie viele Mietfahrräder waren es?

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Aber das ist nur ein Hype. Das geht vorbei. Ich kenn mich da aus.

Neues vom Planeten Weibo: Die Ente bleibt draußen

Am vierundzwanzigsten Jahrestag des Tiananmen-Massakers haben sich die chinesischen Zensoren besondere Mühe gegeben, dass nun bloß keiner daran denkt, oder über das Thema diskutiert oder vielleicht sogar um die damals Gestorbenen trauert. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass nicht alle Chinesen an der Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse interessiert sind. Aber wie gestört muss jemand sein, der vorsorglich die Emoticon-Kerzen eliminiert, mit denen man sonst auf Weibo Trauer ausdrückt? Li Kaifu, dem derzeit fast 43 Millionen User folgen, hat das folgendermaßen kommentiert:

基于昨日大火,新浪今日收走了所有可能燃烧的表情。安全第一,谢谢新浪!
Wegen des großen Feuers gestern* hat Sina beschlossen, alle brennbaren Emoticons zu entfernen. Sicherheit geht vor, danke Sina!

Irgendjemand kam dann auf die Idee, das Gummi-Enten-Mem, das seit ein paar Wochen durch die sozialen Netzwerke schippert, mit dem Tank Man von 1989 zu kombinieren. Und was machen daraufhin die professionellen Zensurprofis der chinesischen Regierung? Sie sperren den Suchbegriff „Gummi-Ente“. Diese Art der Zensur ist in etwa so effektiv wie die Aufforderung, jetzt bitte nicht an einen Elefanten zu denken.

Lu Xun soll geschrieben haben, dass Lügen aus Tinte niemals Wahrheiten aus Blut auslöschen können. In Zeiten, in denen alle Tintenfässer dieser Welt, alle Druckerpressen dieses Universums nicht mehr vermögen als ein handelsübliches Smartphone, sollte man doch meinen, die chinesische Regierung würde etwas weniger idiotisch auf die neue Herausforderung reagieren. Tut sie aber nicht.

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*offensichtlich eine Anspielung auf den verheerenden Goßbrand in einem fleischverarbeitenden Betrieb am 3.Juni 2013

Die Popkultur als Brücke zwischen Ost und West

Der US-Chinesische Pop-Superstar Wang Lihong hat eine beeindruckende Rede an der Oxford-Universität gehalten. Er hält Softpower für eine Form des Geschichtenerzählens, die es schafft, dass man sich für etwas begeistern kann. Popkultur könne die Wände zwischen den Kulturen einreißen und uns zeigen, dass wir auch über Grenzen hinweg viel mehr Gemeinsamkeiten haben als Unterschiede. Die globalisierte Pop-Welt könne dazu beitragen, uralte Stereotype zu beseitigen. Im globalen Dorf sind wir alle Mitbewohner, die sich besser kennen lernen sollten. Regierung, Nationalitäten, Rassen, all das sind nur artifizielle Abgrenzungen, die uns davon abhalten, einander besser kennenzulernen.

Und um den Langnasen den Zugang zur chinesischen Popmusik zu erleichtern, hat er ein Mixtape mit Liedern, die er liebt, zusammengestellt.

Das Mixtape findet man hier.

Beep me if you can – Chinesischer Regisseur beschwert sich über die Zensur

Feng Xiaogang ist einer der wichtigsten Regisseure Chinas. Seine Filme sind oft getragen von einem humoristischen Blick auf Chinas gesellschaftliche Realität. Mit dem Publikumserfolg „If You Are The One“ (非诚勿扰) hat er einen Meilenstein geschaffen und die chinesische Romcom in die Moderne geführt. Welche Hindernisse es auf dem Weg zum erfolgreichen Filmemacher zu überwinden galt, hat er nun in seiner Rede anlässlich der Ehrung zum „Regisseur des Jahres“ der chinesischen Regisseur-Vereinigung offenbart. Die größte Qual war für ihn die Zensurbehörde, die sich immer wieder in sein Werk eingemischt hat.

Wenn man eine Anordnung erhält, ist es oft so lächerlich, dass man nicht weiß, ob man lachen oder weinen soll. Besonders dann, wenn man weiß, dass ein Detail gelungen ist und man gezwungen ist, dies in etwas Unsinniges zu ändern. Müssen sich die Regisseure in Hollywood so etwas gefallen lassen? Um genehmigt zu werden, muss ich meine Filme in einer Weise schneiden, die sie schlechter macht. Warum machen wir das mit? Ich glaube, der einzige Grund ist, dass wir ein Haufen Verrückter sind, die nichts aufhalten kann, Filme zu machen. (Aus Zeitgründen hier eine Übersetzung der englischen Transkription von TLN, die mit dem Original inhaltlich weitgehend übereinstimmt, jedoch im Detail vom Redetext abweicht)

Ich kann nur zu gut verstehen, was er meint. Regiearbeit besteht ja ohnehin oft aus einer Reihe von Kompromissen. Schauspieler, Produzenten und Drehbuchautoren müssen vom Regisseur überzeugt werden, damit ein Werk ensteht, das den eigenen Ansprüchen gerecht wird. Wenn dann noch eine Zensurbehörde, in der Entscheidungen getroffen werden, die jeder künstlerischen und rationalen Grundlage entbehren, darüber entscheidet, welche Themen auf welche Art und Weise behandelt werden dürfen, dann bricht das einem Regisseur mit Sicherheit das künstlerische Herz.

Zum ersten Mal hat sich ein Filmemacher öffentlich zu der chinesischen Zensur geäußert und die ungerechtfertigten Eingriffe der Instanzen der Macht in den künstlerischen Prozess beklagt. Wie grotesk und peinlich ist es, dass die Zensur es offenbar nicht lassen konnte, das Wort „Zensur“ mit einem Piep-Ton zu übertönen! Vielleicht hat JR Recht damit, dass die Außenwirkung von Repressionen den Machthabern weniger wichtig sind, als gemeinhin angenommen. Denn in einem authoritären Staat geht es meist einfach darum, Autorität unter Beweis zu stellen und Macht zu demonstrieren. Aber wie soll denn der Weg, den man eingeschlagen hat, auf diese Art und Weise weitergegangen werden? Der Weg in die rationale, erfolgsorientierte Industriegesellschaft, in der allein die Fähigkeit zur innovativen, eigenständigen Denkweise über Sieg und Niederlage entscheidet, kann nicht konsequent gegangen werden, wenn gesellschaftlich weiterhin Denkverbote akzeptiert werden.

Das ist in meinen Augen der wirkliche Hauptwiderspruch der modernen chinesischen Gesellschaft, der immer deutlicher zu Tage tritt. Wirklicher wissenschaftlicher Fortschritt, der dringend benötigt wird, um die nächste Etappe des wirtschaftlichen Aufbaus zu meistern, wird nicht erreicht werden, ohne eine grundlegende Hinterfragung von Autoritäten. Ebenso wie die Kunst kann auch die Wissenschaft nur in der Freiheit zu sich selbst finden. Gute Produkte, künstlerische wie industrielle, dürfen zwar aus Kompromissen hervorgegangen sein. Aber sie erlauben nicht, dass man im Sinne der Macht die falschen Entscheidungen trifft. Ein autoritäres System ist per Definition nicht innovativ. Je mehr Menschen sich jedoch der Innovation und damit auch dem gesellschaftlichen Fortschritt jenseits des „Blut-und-Schweiß-GDPs“ verpflichtet fühlen, desto weniger werden sie bereit sein, willkürliche Entscheidungen zu akzeptieren.

Chinabildblog: Die geschlagene Gurke und die ewige Ente

Journalisten haben es schwer. Die Welt ist groß und sie sind klein. Gerade in China, dem Land in dem eigentlich niemand genau weiß, was wirklich passiert und jeder sich aus ungesicherten und fragwürdigen Informationen die Ereignisse so gut es geht zusammenreimt, ist es keine einfache Aufgabe, einen Job auszuüben, bei dem es auf Objektivität und sachorientierte Information ankommt.

Wenn man dann auch noch für eine Leserschaft schreibt, die über China nicht sonderlich viel mehr weiß, als dass dort die vielen bunten und giftigen Plastikspielsachen herkommen, dann kann man schon verstehen, dass der eine oder andere Bericht nicht gerade pulitzerpreisverdächtig ist. Und wenn man dann außerdem, wie ein großer Teil der westlichen China-Berichterstatter, nicht über die sprachlichen Kenntnisse verfügt, um dem gesellschaftlichen Leben zumindest als Beobachter zu folgen, ja was soll denn dabei auch herauskommen? Ach, Sie glauben, China-Korrespondenten sollten doch wohl chinesische Zeitungen lesen können? Nun ja, ein anderes Thema. Und es gibt ja auch viele deutsche Journalisten, die ihre Sache sehr gut machen. Johnny Erling, Mark Siemons und Felix Lee gehören z.B. zu dieser Spezies. Auch die schwierigen Umstände, unter denen in China gearbeitet wird, sollen hier nicht unterschlagen werden.

Der Marco-Polo-Effekt

Zu der allgemein misslichen Lage in China kommt aber nun noch etwas hinzu. Der „Marco-Polo-Effekt“, wie ich es nennen möchte, verliert allmählich seine Wirkung. Dieser Effekt hat sich Tausende von Jahren segensreich auf das Ansehen der Berichterstatter aus fremden Ländern ausgewirkt und wird nun durch das Internet und den grenzüberschreitenden Informationsverkehr in Echtzeit stark abschwächt. Gemeint ist Folgendes: Je weiter das Land entfernt ist, aus dem du berichtest, desto geringer ist die Chance, dass jemand noch während deiner Lebenszeit etwaige Ammenmärchen und Plattitüden, die du aufgetischt hast, entlarvt und desto weniger Mühe musst du dir geben, die Wahrheit in ihrer ganzen vertrackten Komplexität zu beachten.

Das ist vorbei, seit das Internet der Zeitung einen unregulierbaren Feedback-Kanal spendiert hat. Die Ansprüche sind seitdem gestiegen und ich sehe kaum, dass der Journalismus darauf in irgendeiner Weise angemessen reagiert.

Zwei Geschehnisse, die während meiner Arbeit als Dozent an einer chinesischen Universität passiert sind, sollen hier nur als Beispiel dafür stehen, warum ich die Ansicht für falsch halte, dass unser westlich geprägtes Mediensystem samt seiner verholzten Wurzeln in der Papierzeit noch zeitgemäß ist.

Die geschlagene Gurke

Anfangen möchte ich mit dem Ehec-Skandal. Damals, als dieser Keim die ersten Todesopfer in Deutschland forderte, berichteten auch die chinesischen Medien darüber. Was mich allerdings sehr störte, war der Unterton der Berichterstattung: „Seht her, das passiert nicht nur bei uns, sondern auch im angeblich so sicheren Westen.“

Als ich damals ins Seminar kam, sprach mich ein Student auf den Skandal an. Er sagte: „Herr Hänke, haben Sie schon gehört? In Deutschland ist das Essen auch nicht sicher. Die spanischen Gurken sind giftig.“

Ich habe dann zunächst einmal versucht zu erklären, dass die chinesischen Staatsmedien diesen Vorfall benutzen, um die eigenen Verhältnisse, die mit kaum Deutschland zu vergleichen sind, zu relativieren. Ich habe erzählt, dass das deutsche Gesundheitsamt mit ziemlicher Sicherheit kaum einen chinesischen Betrieb genehmigen würde. Ich habe behauptet, dass das Ausmaß der chinesischen Lebensmittelskandale die deutschen Verhältnisse bei weitem übertrifft. Ich habe über das Milchpulver, die Restöl-Verwertung, den gefälschten Alkohol und all die widerlichen Dinge gesprochen, die täglich in Chinas nahrungsmittelverarbeitendem Gewerbe geschehen. Ich habe gesagt, dass der TÜV, Foodwatch und ein funktionierendes Lebensmittelkontrollsystem in China mit Sicherheit mehr Menschenleben retten würden, als alle Menschenrechtsorganisationen dieser Erde zusammengenommen. Ich habe behauptet, dass in China in jeder Stunde mehr Menschen an vergiftetem Essen sterben, als in Deutschland in einem ganzen Jahr.

Aber dann habe ich auch noch etwas anderes behauptet. Ich habe gesagt, dass ich es für ausgesprochen wahrscheinlich halte, dass – trotz der Panikmache, trotz der Vernichtung riesiger Mengen an Lebensmitteln, trotz der Bilder der mutmaßlich giftigen Gurken neben tausendfachen Vergrößerungen der gefährlichen Keime – die spanischen Gurken damit gar nichts zu tun haben. Ich war mir da irgendwie sicher. Denn zu diesem Zeitpunkt handelte es sich ja um einen bloßen Verdacht, der von SpiegelOnline, dem hypernervösen Zappelphillip der deutschen Medienlandschaft, mediendramaturgisch ausgeschlachtet wurde.

Ich sollte Recht behalten. Die arme Gurke war unschuldig und bis heute ist wohl nicht endgültig geklärt, wer für den durch Panikmache entstandenen Schaden haften soll. Ab diesem Zeitpunkt sagten die Studenten immer, wenn ich zu weit vom Thema abkam: „Er schlägt schon wieder die Gurke.“ „Geschlagene Gurke“ ist ein Gericht der chinesischen Küche.

Der Ehec-Fall mag in seiner Ausprägung einige Besonderheiten haben, typisch für das deutsche Mediensystem ist aber, dass Skandalisierungen, Panik-Mache, Ungenauigkeiten bei der Präsentation von Fakten und vor allem die Übernahmen ungesicherter Informationen einen vernunftorientierten Diskurs oft geradezu unmöglich werden lassen, im Zeitalter der Echtzeitkommunikation ganze Lawinen von Informationsmüll lostreten können und es kaum Mechanismen gibt, die den Prozess verlangsamen.

Die ewige Ente

Die zweite Geschichte, die mit meiner Arbeit und mit der China-Berichterstattung noch viel mehr zu tun hatte, nenne ich die ewige Ente. Es war in der Zeit vor der Olympiade. Damals erhielt ich plötzlich und für mich ziemlich unerwartet von Freunden aus Deutschland E-Mails, in denen ich gefragt wurde, ob die chinesische Regierung mich denn auch bald aus dem Land werfen würde. In China hätte man doch jetzt alle ausländischen Studenten ausgewiesen.

Ich hatte damals auch von Visa-Problemen gehört. Insbesondere vor den Olympischen Spielen schien man strenger vorzugehen. Vielleicht versuchte man aber auch einfach, bei der Visa-Vergabe internationale Standards zu erreichen, denn meine Erfahrung sagt mir, dass es in China viele Wege gibt, die offiziellen Bestimmungen zu umgehen. Zwar geschieht es nicht selten, dass Ausländer in China gezwungen werden, das Land zur Visa-Verlängerung zu verlassen. Meist reicht jedoch ein Kurz-Trip nach Hongkong und das Problem ist gelöst.

Sicher gab und gibt es oft Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums, aber wer jemals erlebt hat, welche bürokratischen Hürden chinesische Studenten nehmen müssen, die nach Deutschland einreisen möchten, der wird verstehen, dass gerade Deutsche in dieser Frage nicht unbedingt mit Anschuldigungen um sich werfen sollten.

Um die Geschichte abzukürzen: Die DPA-Meldung, auf der die Medienberichterstattung der Tageszeitungen und Online-Medien beruhte, war eine Falschmeldung – eine Ente. An der ganzen Geschichte war im Grunde nichts dran. Dass sich sachliche Fehler in die Berichterstattung einschleichen, ist ja nichts Außergewöhnliches. Jedem Journalisten, sei er noch so gewissenhaft, unterlaufen Fehler. Allerdings ist in diesem Fall das Ausmaß schon sehr erschreckend. Eine offizielle Anweisung, die ausländischen Studenten während der Olympischen Spiele auszuweisen, ist ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass ich mich damals gefragt habe, welche Vorstellung denn in den Köpfen der Verantwortlichen vorherrscht – und wie der Unsinn dort hineingekommen ist -, wenn sie so einen Unfug einfach unreflektiert übernehmen, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Die Olympischen Spiele wurden in China auch vom einfachen Volk als eine Gelegenheit gesehen, sich der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Viele Zuschauer hätten sich mehr Offenheit und Herzlichkeit und weniger bombastischen Perfektionismus gewünscht und auch ich fand die offizielle Inszenierung der chinesischen Nation teilweise sehr abweisend. Allerdings herrschte damals in der gesamten Bevölkerung eine nahezu fanatische Freude, jetzt einmal selbst Gastgeber einer solchen globalen Veranstaltung zu sein. Ganze Horden von Freiwilligen bereiteten den Empfang der internationalen Besucher vor. Eine Anweisung, ausländische Studenten auszuweisen, hätte niemand in China ernsthaft befürwortet. Das hätte man wissen können. Das nehme ich den deutschen Medien, insbesondere dem Spiegel, der damals gerade den Weltkrieg um Wohlstand ausgerufen hatte, bis heute übel.

Und warum die „ewige“ Ente? Ganz einfach: Das Netz vergisst nichts, zumindest dann nicht, wenn man es nicht explizit dazu auffordert. Und bis auf SpOn hat sich bis heute kein Online-Medium die Mühe gemacht, diesen Unfug zu korrigieren.

Und somit bleibt diese hektisch herausposaunte Legende für immer im Netz der kollektiven Erinnerung hängen. Die Ausweisung der Gaststudenten während der Olympiade gehört heute zu China wie die Glückskekse nach dem Essen. Ach, in China gibt es gar keine Glückskekse? Nein? Das ist ja ein Ding!

Hier die ewigen Enten:

 

Das doppelte Gangnam

Noch immer scheint die ganze Welt nicht vom koreanischen Gangnam-Fieber geheilt. Vielleicht gibt es ja im tiefsten brasilianischen Urwald noch jemanden, der dieses Video noch nicht gesehen hat. Vielleicht. Bei Youtube allerdings ist inzwischen die 100-Millionen-Grenze im unnachahmlichen Hoppe-Hoppe-Reiter-Schritt genommen.

Doch halt. Unnachahmlich. Nicht unbedingt. Was haben die Netizens rund um den Planeten nicht alles angestellt mit diesem Video. Auch die chinesischen Video-Portale quellen geradezu über mit skurrilen Adaptionen. Beliebt sind der Obama-Style, eine technisch beeindruckende, aber fraglos vollkommen politisch-unkorrekte Fassung im Hitler-Style und eine Folkrock-Variante.

Doch die kommen alle nicht aus China. Das beeindruckendste Ergebnis der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem kollektiven Trash-Techno-Galopp aus China ist – böse Zungen würden behaupten erwartenswerterweise – eine Kopie. Aus Hongkong stammt die Version, bei der man schon sehr genau hinsehen muss, um sie vom Original zu unterscheiden.

Tatatatataaa und Hopp:

Die Ruhe. Das Nichts-Tun

„Dao ke dao, fei chang dao“, sagte Doktor Cao. Er sagte es nachdenklich und auch sein Ellenbogen schob sich deutlich langsamer zwischen meine Lendenwirbel. Ich hatte diesen Satz gelesen, als ich noch im Vorzimmer wartete, während Doktor Cao, die Nackenmuskulatur einer zierlichen jungen Frau massierte, auf deren bunt-lackierten Fingernägeln kleine, funkelnde Schmetterlinge um eine Blume kreisten.

Der Begleiter der jungen Frau spielte währenddessen Golf auf seinem I-Phone. Ich saß auf einer rissigen Ledercouch und sah mich im Vorzimmer um. Die Tapeten waren vergilbt und auf dem schwarzen Rattan der Möbel lag eine dicke Schicht aus Staub. An der Wand hing ein Bild mit Meridianen, die sich durch den Körper zogen, wie Ameisentunnel durch den Waldboden. Nachdem ich mir die verschiedenen Geräte, die sonderbaren Schröpfkugeln, die Schabmesser und die Saugpumpen angesehen hatte, die auf einem Regal aufgereiht waren, fielen mir die Bücher auf, die in einem Zeitungsständer neben der Couch lagen. Ich nahm wahllos eins heraus. Es war das „Dao De Jing“, ein Ur-Text der Taoisten, und als ich das Buch aufschlug, las ich diesen Satz. „Dao ke dao, fei chang dao“

Als Doktor Cao dann seine Arbeit an der Nackenmuskulatur beendet hatte und die junge Dame sich von ihrem Begleiter ihre französische Handtasche geben ließ, um zu bezahlen, ging mir der Satz immer noch durch den Kopf. Das Mädchen mit den Schmetterlingshänden war gegangen und Doktor Cao, der eigentlich kein Doktor ist, sondern ein blinder Masseur, ließ mich rufen. Man pflegt ja chinesischen Sprache oft sehr höfliche Umgangsformen und so sagte der Rezeptionist: „Doktor Cao, dein ausländischer Freund, der Lehrer Han ist da.“

Ich lernte Doktor Cao kennen, als meine Eltern mich während der olympischen Spiele besuchten. Weil der Sommer in Beijing wie immer unerträglich heiß war, beschloss damals meine Mutter, auch nachts die Klimaanlage auf eine Temperatur einzustellen, bei der selbst Eskimos ihre Pelzkapuzen tief ins Gesicht gezogen hätten. Mein Vater hat schon sehr lange immer mal wieder Rückenprobleme, dieses Mal waren es ernste. Er hatte sich, wie Doktor Cao es ausdrückte, „Kälte gefangen“. Vielleicht kam noch hinzu, dass die Matratze des Gästebettes an traditionelle chinesische Foltergerätschaften erinnerte und die Sprungfedern an einigen Stellen deutliche Abdrücke auf dem Laken hinterließen. Mein Vater jedenfalls schaffte es an diesem Tag kaum aus dem Bett. Die meiste Zeit konnte er sich nur mit Hilfe eines Rollkoffers durch die Wohnung bewegen, den er als Gehwagen zweckentfremdet hatte. Zwar war der Urlaub meiner Eltern bald zu Ende, aber es war kaum vorstellbar, wie mein gebückter Vater in diesem Zustand die Strapazen der Heimreise überstehen sollte. Wir brauchten Hilfe.

Die Massagepraxis, in der Doktor Cao arbeitet, hatte damals gerade erst aufgemacht. Sie war mir sofort aufgefallen, schließlich habe ich die Rückenprobleme meines Vaters geerbt. Ich zögerte damals allerdings, das Wohlbefinden meines oder des Rückens meines Vaters noch einmal in die Hände eines blinden Masseurs zu legen. Mit blinden Masseuren hatte ich keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Ein einziger Besuch dort hatte mich in mehrerer Hinsicht stark überfordert. Und erst die Bekanntschaft mit Doktor Cao ermöglicht es mir, bei dem Thema „Blinder Masseur“ nicht mehr sofort an die Worte „röhren“ und „Kamel“ zu denken.

Jiang Li, meine Kollegin, die zur Aufbesserung ihres kargen Universitätsgehaltes hin und wieder Übersetzungen anfertigte und der ich oft dabei half, hatte mir einmal eine SMS mit folgendem Inhalt geschickt. „Welches Geräusch macht ein Kamel?“ Es dauerte etwas, bis ich verstand, was sie meinte und dass sie bei einer Übersetzung auf eine Schwierigkeit gestoßen war. „Evtl. röhren; wie ein Hirsch“, war meine Antwort. Und während meines ersten Besuches bei einem blinden Masseur, da dachte ich: „Das passt. Dieser Masseur röhrt wie ein Kamel.“

Der junge Mann, der mich massieren sollte, war eindeutig blind. Nicht alle blinden Masseure in China sind auch wirklich blind, aber dieser war es. Nachdem ich der Empfangsdame in meinem damals noch sehr schlechten Chinesisch irgendwann erfolgreich vermitteln konnte, dass ich eine Rückenmassage wollte, kam dieser junge Mann. Ich lag schon auf der Liege, als er den Raum betrat. Seine Augen lagen tief im Kopf hinter einem milchigen Schleier. Er war insgesamt von einer bemitleidenswerten Gestalt. Doch so sehr er mir auch Leid tat, so sehr ekelte ich mich vor ihn und den Geräuschen, die er machte.

Vor meiner Zeit in China war das Thema „Massage“ ist in meinem Gehirn in einer ganz bestimmten Region abgespeichert – der „Wellness-Plätschermusik-Ayuweda-Öl-Ecke“. Doch die Erfahrungen, die ich in China gemacht habe, zwangen mich, das ursprüngliche Konzept deutlich weiter zu fassen.

Es begann mit einem Rumpeln im Magen des Masseurs. Ich lag auf dem Bauch und mein Gesicht befand sich in der runden Aussparung der Massage-Liege. Ich schloss meine Augen und versuchte das Rumpeln zu ignorieren. Masseure in China wollen sich während der Arbeit meist ein bisschen unterhalten, entweder weil sie es für höflich halten, oder um die Gelegenheit zu nutzen, etwas von einem weitgereisten Fremden über seine ferne Heimat zu erfahren. Dieser Masseur sagte nichts. Nur sein Magen gab langgezogene, säufzende Laute von sich. Dann rülpste der Masseur. Ich vermutete zunächst, er habe etwas schwer Verdauliches gegessen hatte. Und es ist ja nicht selten, dass Menschen in China auch in der Öffentlichkeit laut rülpsen. Ich hatte sogar einmal eine Studentin, die aus irgendeinem Grund in fast jedem Unterricht rülpste. Also dachte ich mir bei diesen Geräuschen zunächst nicht viel.

Dann rumpelte es wieder. Das Rülpsen wurde lauter. Und es wurde länger. Hörbar bahnten sich Unmengen von Gasen ihren Weg aus dem Körper des blinden Masseurs. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es körperlich möglich ist, in so kurzer Zeit so viel Gas im Magen zu erzeugen. Eine Stunde lang lag ich auf der Liege, mit dem Gesicht nach unten. Etwa alle dreißig Sekunden rumpelte es, woraufhin jedes Mal ein unglaublich langgezogener Rülpser folgte, der an die durchschnittliche Lautstärke eines röhrenden Kamels bei weitem übertraf und dessen Geräusch bei mir unverzüglich einen starken Würgreflex auslöste. Eine Stunde lag auf der Liege und kämpfte mit meinem Brechreiz. Ich war unfähig aufzustehen, weil der Mann mir Leid tat.

Vielleicht hätte ich diesem Mann, der durch seine Blindheit und seine sonderbare Krankheit vom Schicksal besonders hart geschlagen war, irgendwie helfen können. Vielleicht war dieses Rülpsen ja auch nur temporär. Vielleicht hätte ich mich auch überwinden können. Ich hätte mir beim nächsten Mal extra-dicke Oropax mitnehmen und während der Massage eine Traumreise zu leichtbekleideten Hula-Mädchen an Palmenstränden machen können. Die Wahrheit jedoch ist: Ich habe es nicht gemacht. Ich bin nie wieder zu diesem Masseur gegangen, weil ich mich vor ihm geekelt habe.

Und als dann mein Vater fragte, ob das nicht eine Massagepraxis gewesen sein, deren Leuchtreklame die grauen Betonwände des Treppenhausen in regelmäßigen Abständen in grünes und rotes Neonlicht tauchte, da dachte ich an die Worte „röhren“ und „Kamel“ und an meinen Brechreiz und an milchige Augen und zögerte. Aber weil mein Vater in den letzten Tagen einen Rollkoffer als Gehwagen benutzte, fortwährend die Erfindung der Klimaanlage verfluchte und der häusliche Frieden meiner Eltern ernsthaft auf dem Spiel stand, überwand ich meine inneren Widerstände und meldete meinen Vater bei dem blinden Masseur im ersten Stock an.

Die Rückenschmerzen meines Vaters schmolzen unter den Händen von Doktor Cao, wie Erbsen-Eis in praller Mittagssonne und jedes Mal wenn wir später telefonierten, fragt er mich, wie es seinem kleinen Masseur geht. Und auch Doktor Cao fragte mich oft nach dem Wohlbefinden meines Vaters. Und ich fragte mich, ob Doktor Cao, der mit seinen Händen in kürzester Zeit die Verspannungen findet, ohne dass man etwas sagen muss, jedes Mal bei meinem Rücken an den Rücken meines Vaters denkt und dadurch dessen Zukunft sehen kann. Doktor Cao und ich reden über Vieles, aber das habe ich ihn noch nie gefragt.

Doktor Cao wurde vor sechsundzwanzig Jahren in einem kleinen Ort nicht weit von Taiyuan in der Prozinz Shanxi geboren. Seine Mutter war Krankenschwester und wenn ich es richtig verstanden habe, arbeitete sein Vater in einem Steinbruch und starb bei einem Unfall als Doktor Cao sieben Jahre alt war. Er war ein normales Kind, fleißig in der Schule und gut zu seinen Eltern. Kurz nachdem sein Vater gestorben war, begannen seine Augen sich zunehemend zu verschlechtern. Kein Arzt konnte den Grund dafür herausfinden und noch vor seinem neunten Geburtstag konnte er den hellsten Sonnenschein nicht von der tiesten Nacht unterscheiden. Seine Mutter war eine starke Frau und gewohnt „Bitterkeit zu essen“. Sie kümmerte sich um ihn, kochte ihm morgens, mittags und abends etwas zu essen. Aber als sie merkte, dass ihre Kräfte nachließen, wusste sie, dass sie sich trennen mussten. In dem kleinen Ort würde Doktor Cao nicht für sich selbst sorgen können. Über eine Bekannte stellte sie einen Kontakt nach Beijing her, wo ihr Sohn an einer Schule für Masseure eine kurze Ausbildung machte. Danach fand er eine Anstellung in dieser kleinen Massagepraxis, die er so gut wie nie verlässt. Er isst, was seine Kollegen für ihn kochen und er schläft nachts auf einer der Massageliegen.

„Dao ke dao fei chang dao“, sagte Doktor Cao. „Dieser Satz sagt Vieles. Es geht um die Mitte, um das Zentrum, in dem die Ruhe liegt.“

„Die Ruhe?“, fragte ich.
„Ja. Die Ruhe. Das Nichts-Tun“, antwortete er.
„Das kann ich gut. Das ist ja nicht schwer“, warf ich ein. Ich verfügte damals noch über zu wenig Sprachkenntnisse, um eine ernsthafte Diskussion längere Zeit am Leben zu halten.
„Ja, das kannst du gut. Darum ist dein Rücken auch so krumm. Weil du dich nicht bewegst.“
„Dann haben alle Taoisten also Rückenschmerzen“, versuchte ich diesen Gedanken weiter zu entwickeln.
„Nein“, sagte Doktor Cao ruhig.
„Aber was ist denn dieses Dao nun eigentlich?“ fragte ich.
„Das ist es ja eben. Das Dao passt irgendwie nicht in die Sprache und die Worte. Nicht einmal in die chinesische. Das ist die eigentliche Bedeutung des Satzes.“

Dieses Mal sprachen wir weniger als sonst. Doktor Cao interessiert sich sehr für Sprachen und fragte mich oft nach den Worten. Er hat über das Radio etwas Englisch gelernt und ist fasziniert von fremden Klängen und seltsamen Bedeutungen. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieser kleine, blinde Mann viel mehr von Sprache versteht, als die meisten Studenten, die beim mir studiert haben. Aber dieses Mal redeten wir wenig.

Der iMönch und das Affentheater

Yancan Fashi ist ein ganz besonderer Mönch, eine Art IMönch. Denn er hat sich zum Ziel gesetzt, die Weisheit des Buddhismus auf allen zur Verfügung stehenden Wegen zu verbreiten. Weil Weibo, die niemals ruhende Quasselmaschine, das unglaublichste aller derzeit auf diesem Planeten existierenden Medien ist, M-bloggt er. Na, was denn auch sonst? Und weil er nicht nur als Lebensberater und Seelenbeistand den Menschen Vieles zu geben hat, sondern auch noch ein lustiger Typ ist, lieben ihn die Menschen in China.

Ist das wirklich der wahre Grund, warum Yancan Fashi praktisch über Nacht zu einer Berühmtheit geworden ist, die in Fernseh-Shows auftritt? Wie kann es sein, dass er in kürzester Zeit über 2 Millionen Follower auf seinem Weibo versammelt hat? Vielleicht liegt es ja auch ein bisschen an dem folgenden Video. Nicht nur die Affenbande, die ihm zu schaffen macht, ist ein absolutes Highlight der jüngeren Weibo-Historie. Es ist vor allem sein mit ernster Miene vorgetragenes buddhistisches Gedicht über einen heiligen Berg. Denn das Komische daran ist, dass der liebe Mann sich zwar sehr viel Mühe gibt, aber am Hochchinesisch kläglich scheitert. Nicht, dass ich das beurteilen könnte, aber ich habe mir sagen lassen, dass sein breiter Hebei-Dialekt samt seiner falschen Töne unglaublich komisch klingt. Aber sehen Sie selbst!

Ein langer Kommentar zu „Hitlers chinesische Familie“

<ein Gastbeitrag von 乡下人进城 (anonym)>

Anmerkung: Der folgende Text ist eine Reaktion auf den am 27. Juni 2012 auf doppelpod.com veröffentlichten Artikel „Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie“. Er ist anonym auf dem Sina-Blog von 乡下人进城 (ein Landbewohner zieht in die Stadt) erschienen und der Betreiber des Blogs hat zugestimmt, dass der Text hier veröffentlicht werden kann.

Die komische Hitler-Verehrung bei manchen Chinesen hängt sicher mit fehlenden historischen Kenntnissen zusammen. Persönlich Erfahrenes spielt dabei aber ebenfalls eine wichtige Rolle. Auch wenn viele meiner Landsleute Deutschland sympathisch finden, ist Deutschland von China doch weit entfernt und man hat deshalb kaum persönlichen Zugang. Was man an Deutschland erleben konnte, war lange Zeit nur das legendäre „Made in Germany“ bzw. irgendeine alte Legende darüber. Ich kann mich z.B. bis heute an einen Spruch meines Großvaters erinnern: „Deutsche sind anständige Leute. Sie zahlen gut, wenn man ordentlich arbeitet. Die Japaner aber, die sind alle Schweine!“ Er war in seinen jungen Jahren Eseltreiber und hatte sowohl Deutsche, die in der Gegend ein Kohlenrevier besessen hatten, erlebt, als auch später die Japaner, die das Kohlenwerk besetzten. Als er mir seine Ansichten erzählte, kam ich gar nicht erst darauf, diesem Schwarz-Weiß-Bild irgendetwas entgegenzusetzen. Denn ich wusste zwar vom bösen Nazi-Deutschland, doch es war für mich nichts weiter als der abstrakte Begriff „Faschismus“ und ein paar Daten, die in keiner Verbindung zu mir standen. Japan war hingegen etwas Anschauliches: das war das Massengrab, das die japanische Besatzung im Kohlenrevier hinterlassen hatte. Darin lagen Schicht über Schicht Skelete von Zwangsarbeitern. An den Überresten konnte man teilweise erkennen, auf welche Weise sie gequält getötet worden waren.

Später, als die Reform- und Öffnungspolitik sich umzusetzen begann, wurde auf die chinesisch-japanische Freundschaft geschworen und das Massengrab wurde zugeschüttet. Trotz Freundschaftspropaganda änderte sich mein Japan-Bild nicht. Im Gegenteil, die Antipathie gegen Japan wuchs, und wächst noch immer. Von Japan ist kein Willi-Brandt-Kniefall gekommen, nicht einmal eine offizielle Bitte um Entschuldigung. Unter den Japanern, die ich kennengelernt habe, sind diejenigen Ausnahmen, die etwas Genaueres über die Verbrechen der japanischen Armee in China wissen. Zugleich ist aber auch der Unmut gegen die chinesische Regierung gewachsen, denn Verbrechen gegen die Menschlichkeit muss man rechtlich aufarbeiten und man kann sie nicht einfach mit Freundschaftsbeteuerungen zudecken. Umso mehr ärgere ich mich, wie ein Japaner wie 加藤嘉一 sich in China erlaubt, in aller Öffentlichkeit Kriegsverbrechen der japanischen Armee zu verharmlosen – dafür hat er sogar Unterstützer bekommen, in China selbst!

Und das Deutschland-Bild? Es hat sich differenziert und ist vielschichtiger geworden. In Deutschland bin ich Liebhaber der deutscher Sprache und Literatur geblieben, aber das Nazi-Deutschland ist nicht mehr abstrakt. Nicht nur ehemalige KZ habe ich besichtigt, sondern auch Holocaust-Überlebende oder ihre Nachfahren habe ich kennengelernt, selbst mit Nachfahren von dieser oder jener Nazi-Größe habe ich gesprochen. Wenn man so was erfahren hat, kann man einen Hitler nicht mehr verehren, selbst wenn so manche Stellungnahmen des Zentralrats der Juden in Deutschland zu irgendeinem Anlass nerven. Wenn man dazu dann auch noch die Tagebücher von einem Victor Klemperer liest, zerplatzen so manche Legenden über die Nazi-Zeit von selbst.

Andererseits, wie Deutsche die Hitler-Verehrung in China verwunderlich finden, finde ich es genauso verwunderlich, wie wenig man in Deutschland über die japanischen Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg weiß. Ich frage mich manchmal, ob die Deutschen in Japan immer noch das „Land des Lächelns“ sehen und ob sie noch immer japanische Kultur hochjubeln, wenn sie nur wüssten, wie japanische Unternehmen bzw. ihre Vorgängerunternehmen zu ihrer verbrecherischen Geschichte stehen. Noch mehr wundere ich mich, warum so demokratisch aufgeklärte Deutsche ausgerechnet einem Gottkönig und Ex-Sklavenhalter so eifrig hinterherlaufen. So scheint es mir, dass es in beiden Ländern, wenn auch unter unterschiedlichen Voraussetzungen, doch an Wissen und Informationen mangelt. In beiden Ländern gibt es z.B. kaum Informationen darüber, dass solche Zen-Meister wie Suzuki Daisetsu 铃木大拙, der nicht nur von Heidegger hochgelobt wurde, sondern auch zusammen mit Erich Fromm das einflussreiche Buch „Zen-Buddhismus und Psychoanalyse“ schrieb, sich aktiv am Shinto-Faschismus beteiligten. Nicht besser die Informationslage darüber, dass der Rassenwahn der Nazis seine Wurzel hat nicht nur im Vulgär-Darwinismus, sondern auch im Esoterik-Sumpf einer Madame Blavatsky/Theosophie und eines Rudolf Steiner/Anthroposophie, vor allem aber auch im jahrtausendlangen christlichen Antijudaismus, der durch die Reformatoren wie Martin Luther nur noch verstärkt wurde. Was wir hören, ist, der Zen-Buddhismus sei, wie der Lamaismus auch, friedliebend und gewaltfrei; der Faschismus sei Ungeist des Atheismus und die christlichen Kirchen seien Opfer dieser Gewaltherrschaft.

Es reicht nicht, lediglich zu sagen, dass so etwas mich ankotzt. Wichtig ist, dass einfache Menschen die Möglichkeiten bekommen, sich über ihre eigenen Erfahrungen auszutauschen. Persönliche Kontakte erleichtern oft den Zugang zum Wissen, und Wissen, das ist die einzige wirklich effektive Waffe gegen Dummheit und Vorurteile.

Dokumentation über die chinesische Hochschulaufnahmeprüfung „Gaokao“

<Sven Hänke>
Die landesweiten chinesischen Hochschulaufnahme-Prüfungen (Gaokao, 高考) sind gerade vorüber und die Schüler warten auf die Ergebnisse, die ihren weiteren Lebensweg maßgeblich bestimmen werden. Wer sich einen Eindruck davon verschaffen möchte, unter welchem Druck die Schüler dort um die begehrten Plätze an den guten Universitäten kämpfen und wer verstehen möchte, warum Chinesen nur milde lächeln, wenn deutsche Altersgenossen über ihren Abiturstress klagen, sehe sich doch die unten eingebette 94-minütige Dokumentation (Titel: 高三) über die Nr.1-Highschool in Wuping, Fujian an. Die Doku wurde allein bei Youku.com fast 3 Millionen Mal angesehen und gewann beim Honkong International Film Festival 2006 den ersten Preis in der Kategorie Dokumentation. Sie hat sogar Untertitel. Viel Spaß, auch wenn das etwas unangemessen klingt, bei diesem Thema! (via China Whisper)