Der Mensch ist keine Billardkugel – Kants Begriff der Freiheit in den Worten von Michael Sandel

<Sven Hänke>
In dieser Vorlesung erklärt Michael Sandel, warum wir eine kategoriale Verpflichtung haben, die Würde unserer Mitmenschen zu achten und nicht als Mittel zum Zweck ansehen dürfen. Kant geht es um die Prinzipien der Moral und die Grundlagen der Freiheit. Wie ist Freiheit überhaupt möglich?

Für Kant sind alle Menschen Personen. Sie haben somit Würde. Menschen sind rationale Wesen, die zur Vernunft fähig sind – autonome Wesen, die eigenständig entscheiden können.

Ein wichtiger Begriff, der in der chinesischen Kultur sicher eine deutlich geringere Rolle spielt als im westlichen Denken, ist der Begriff der Freiheit: Wirkliche Freiheit ist ein hohes Gut und allein dem Menschen vorbehalten. Wenn wir wie Tiere nur nach der Befriedigung unserer Triebe und zur Vermeidung von Schmerzen handeln, dann handeln wir nicht frei, sondern nach den Bedürfnissen der Natur. Freiheit ist in diesem Sinne immer autonomes Handeln – das Handeln nach den Regeln, die ich mir selbst gebe. Diese von reinen kausalen Zusammenhängen befreite Möglichkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, unterscheidet den Menschen von Dingen wie z.B. Billardkugeln.

Moral definiert sich daher auch nicht nach den Konsequenzen des Handelns, sondern nach den zu Grunde liegenden Motiven. Nach Kant geschehen moralische Handlungen nicht aus Eigeninteresse, sondern sind immer moralisch in sich selbst. Aber woher wissen wir denn, was moralisch ist? Kant verweist bei dieser Frage unter anderem auf den kategorischen Imperativ. Der dient aber nur als Hilfsmittel, denn die Prinzipien der Moral sind in jedem Menschen vorhanden: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Weiter unten noch ein Youtube-Video, in dem versucht wird, Kants Prizipien an der Praxis zu überprüfen. Der Fall in diesem Beitrag ist aus der jüngeren deutschen Geschichte – die Entführung und Ermordung des Jungen Jakob Metzler. Dabei geht es um die Frage, ob Folter moralisch gerechtfertigt werden kann, wenn dadurch größeres Unheil verhindert wird. Die Antwort der deutschen Gerichte war eindeutig: Nein. Auch wenn das Resultat der Tod eines Unschuldigen ist, darf Folter nicht juristisch legitimisiert werden. In den USA sieht die Diskussion deutlich anders aus. Sicher hat Kant nicht geahnt, dass eines Tages ein US-amerikanischer Präsident glaubt, staatlich legitimisierte Folter rechtfertigen zu müssen und in seinen Memoiren behauptet, eine Foltermethode wie das sog. „Waterboarding“ wäre „damn right“. Er hätte den Menschen in dem Land, das so stolz auf seine freiheitliche Grundordnung ist, sicher zugerufen, dass ihr Freiheitsbegriff aber sowas von „damn wrong“ ist, wenn sie nicht erkennen, dass physische und auch psychische Folter bedingungslos abzulehnen ist.

Ich bin übrigens der Meinung, dass damals sowohl der verantwortliche Komissar Daschner als auch das Gericht richtig entschieden hat. Daschners Folterandrohung war ungesetzlich und muss bestraft werden. Die Würde des Menschen – auch eines widerlichen Mörders – ist unantastbar. Das heißt für mich jedoch nicht unbedingt, dass er nicht, auf der Grundlage der moralischen Gesetze in ihm, zu einem Ergebnis kommen kann, das ihn zwingt, in sehr eingeschränktem Maße unmoralisch zu handeln (Folterandrohung ist etwas anderes als Folter) und anschließend die entsprechenden Konsequenzen auf sich zu nehmen.

 

Alle zwölf Vorlesungen zum Thema Gerechtigkeit von Michael Sanders finden sich hier:

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Nachtrag: Könnte es sein, dass ich mit meiner Zustimmung zu Daschners Verhalten nicht genau das mache, was Bush getan hat? Ist es psychische Folter, wenn ich jemandem androhe, dass er „unerträgliche Schmerzen erleiden wird“, wenn er nicht kooperiert? Ach ja, das „Ticking Time Bomb Scenario„, das immer wieder auch in US-Fernsehserien wie „24“ oder „Lost“ zur Rechtfertigung von drastischen Maßnahmen herangezogen wird.

Randnotizen: Obama schreit f*****

Die chinesischen Protagonisten der Shanzhai-Kultur(山寨)werden immer kreativer: Früher waren es vor allem Uhren und Handys, die sie mit einfachsten Mitteln nachbauten. Heute sind es ganze Geschäftsmodelle, die kopiert und dabei oft recht frei interpretiert werden. Nach gefälschten Idea-Möbelhäusern, bei denen sich Name und Logo nur minimal vom Original unterschieden, kamen die falschen Apple-Stores, von deren Einnahmen Steve Jobs sicher keinen Cent gesehen hat.

Und weil sich die internationalen Medien in China auf jedes gefälschte Business-Modell stürzen wie eine Rudel Wölfe auf ein einbeiniges Huhn, hatten ein paar Beijinger Studenten, die ein Start-Up gründen wollten, eine recht originelle Idee. Sie nannten ihre Imbiss-Bude einfach „Obama Fried Chicken“ und schon konnten sie sich der Aufmerksamkeit der Internationalen Presse gewiss sein. Es sei ihnen gegönnt. Nach Beschwerden von KFC, deren Hühnerbraterei in der legendären deutschen „Samstag Nacht Show“ einst als „Kentucky schreit ficken“ verhohnepiepelt wurde, benannten sie sich um – von „OFC“ in „UFO“.

Das wahrscheinliche größte Oktoberfest der Welt – in Beijing?

Ich gebe es offen zu. Ich bin kein Bayern-Fan. Ich bin Norddeutscher und wenn ich im Ausland auf bayuwarisches Kulturgut treffe, dann frage ich mich oft, warum es unter allen Volksstämmen in Deutschland denn unbedingt die Bayern und ihre seltsamen Sitten und Gebräuche geworden sind, die rund um den Globus als typisch deutsch gelten. Wie haben es die Bayern nur geschafft, der ganzen Welt beizubringen, dass man in Deutschland Dirndl und Lederhosen trägt und dazu wahlweise die Brunftgesänge eines läufigen Erdferkels ausstößt (Jodeln) oder wie von Sinnen durch die Gegend springt und sich dabei auf Schuhe und Schenkel schlägt (Schuhplattler)? Daher vorweg eine wichtige Botschaft an alle Chinesen: Die Angehörigen des bayerischen Volksstammes sind in Deutschland so etwas wie eine nationale Minderheit, die Dinge veranstaltet, die das übrige Deutschland für äußerst skurril hält.

Da sind wir dann auch endlich beim eigentlichen Thema. Denn auch wenn es keinen Grund dafür gibt, den Bayern zu erlauben, durch ihre weiß-blaue „Corporate Identity Kampagne“ das Deutschlandbild im Ausland zu monopolisieren, so haben sie doch einiges an Erfolgen vorzuweisen. Neben mehreren gut gehenden Autowerken und einem Fußballverein, der sich bei jeder Gelegenheit „Rekordmeister“ nennt, vor allem eines: Das Oktoberfest, das größte Volksfest der Welt.

Das urbayrische Trinkgelage ist unbestreitbar eine der größten Touristenattraktionen Deutschlands, und etwa sechs Millionen Besucher feiern jedes Jahr im frühen Herbst „auf der Wiesn“ bei Bier, Brezn und Schweinshaxn (eine weitere seltsame Angewohnheit der Bayern: das Verschlucken der auslautenden Vokale). Und ebenso wie die schrillen Klänge der Peking-Oper und der Skorpion am Spieß für China-Touristen heute dazu gehören, so ist auch die Besichtigung der überdimensionierten Biergläser, der gegrillten Schweinshaxen und der Oberarme der weiblichen Bedienungen fast schon ein Muss beim Besuch im Land der teutonischen Rumpelriesen.

Das Oktoberfest in München hat auf der ganzen Welt inzwischen Nachahmer gefunden. Eine kurze Wikipedia-Recherche ergab, dass die größten Oktoberfest-Zweigstellen in der kanadischen Stadt Kitchener und in brasilianischen Blumenau eröffnet wurden. Das Bier fließt dort in 600.000 bis 700.000 durstige Kehlen.

Und auch in China gibt es seit längerem „Beer Festivals“ nach deutschem Vorbild. Die ehemalige deutsche Kolonialstadt Qingdao veranstaltet jedes Jahr mit großem Erfolg eine chinesische Variante des Oktoberfestes. Von dort stammt auch das nach deutschem Reinheitsgebot gebraute Tsingtao-Bier. Die Qingdaoer sind außerdem dafür bekannt ist, dass sie Bier auch gern in Plastiktüten verkaufen und damit durch die Straßen laufen, was einen unbedarften Betrachter zuerst an Urinproben denken lässt.

Investoren haben sich nun jedoch zum Ziel gesetzt, dass China und seine Hauptstadt auch in Sachen Oktoberfest nicht länger in der Regionalliga spielt, und gleich von Null auf Hundert in die Weltspitze einsteigt. Die längsten Brücken und die schnellsten Computer der Welt sind chinesisch. Und wenn China heute das Land mit dem höchsten Bierkonsum auf der Welt ist, da ist es doch nur selbstverständlich, auf diesem Wachstumsmarkt nicht länger zu kleckern, sondern gleich zu klotzen – und zwar richtig. 84.000 Sitzplätze hat die Anlage, die vor den Toren Beijings in der Nähe des Flughafens hochgezogen wurde, in der die Gäste über einen Monat lang bewirtet werden sollen. Die Chinesen wollten natürlich wie immer vom Weltmeister lernen. Daher haben sie für das Vorhaben einen bayerischer Wiesn-Gastwirt engagiert, der mit seiner geballlten Oazapf-Kompetenz beratend zur Seite stand.

Am letzten Wochenende habe ich mir zusammen mit Freunden das Spektakel einmal aus der Nähe angesehen. Die Anlage ist etwas ist schwer zu finden und liegt auf dem Gelände eines leicht verstaubten Vergnügungsparks, in dem man so lustigen Sachen wie Indoor-Krebs-Angeln machen kann.
Dort stehen also die acht wuchtigen Hallen, die teilweise den Charme eines Ersatzteillagers versprühen. Das war allerdings zu erwarten, denn in der Sprache der Chinesen gibt es kein entsprechendes Wort für „Gemütlichkeit“. Warum auch? In ganz China gibt es keine Gemütlichkeit. Was sollte man dann auch mit so einem Wort anfangen? Und Lagerhallenatmosphäre plus Neonlicht sind in China noch lange kein Hindernis für eine Riesengaudi.

Die Hallen, ungemütlich oder nicht, waren aber an jenem Samstagabend zum großen Teil erschreckend leer. In der Mitte der Gebäude, die an die Münchner Festzelte erinnern sollen, spielen chinesische Bands, die durch das in China übliche ohrenschmerz-garantierende Soundsystem und die nackten Betonfußböden eine Geräuschkulisse erzeugen, bei dem sich China-Greenhorns augenblicklich die Fußnägel aufrollen. Aber auch darüber will ich mich nicht beschweren, denn ohne diese Form der Lärmbelästigung wäre das Projekt „Rekord-Oktoberfest“ wahrscheinlich von vornherein zum Scheitern verurteilt. Der normale Chinese erwartet schließlich bei jeder feierlichen Gelegenheit eine möglichst krächzende Beschallung – egal ob Hochzeit, Firmenjubiläum oder Straßenfest. Erst wenn für Deutsche die schrillen Töne aus den blechernden Lautsprechern die Grenze zur Körperverletzung überschritten haben, fühlen sich Chinesen so richtig wohl. Es muss halt ordentlich krachen.

In den Hallen bedienen neben einigen angeworbenen jungen Deutschen meist chinesische Kellnerinnen, die in den Trachtenkostümen ebenso lustig aussehen wie ihre männlichen Kollegen, deren Lederhosen aus irgendwelchen Gründen teils mit militärischen Tarnfarbenmustern bedruckt sind. Vergnügt hüpfen ganze Horden von ihnen über das Gelände. Sie scheinen die Veranstaltung für einen riesigen Spaß zu halten – sie haben ja auch jeden Grund dazu. Denn zumindest an diesem Tag gibt es keinen Moment, weder in den Zelten, noch an den Kirmesbuden, noch bei den Fahrgeschäften, in dem auch nur annähernd so viel Gäste zu sehen sind wie kostümierte Angestellte. Keine Spur von Akkordbedienung – wofür die deutschen Zenzis weltberühmt sind.

Das Essen schmeckt recht authentisch, besonders wenn man es mit den sonderlichen aufgespießten Fleischerzeugnissen vergleicht, die beim „Goldenen Hans“ als deutsche Spezialitäten angepriesen werden. Die Haxen, Brathändl mit Sauerkraut und Brezn zum Einheitspreis von 50 Yuan kann man entweder mit Stäbchen essen oder aber die mitgelieferten hygienischen Plastikhandschuhen zur Hilfe nehmen. Auch das Bier enthält scheinbar etwas mehr Hopfen als das durchschnittliche chinesische Erzeugnis und ist dadurch deutlich weniger geschmacksneutral.

Insgesamt habe ich mich auf dem Beijinger Oktoberfest sehr amüsiert. Ich hoffe, dass es keine einmalige Veranstaltung war und die große Gaudi auch im nächsten Jahr stattfinden wird. Ich frage mich nur, ob der Veranstalter und seine deutschen Berater an einer Form von Größenwahn leiden, oder aber eine Zukunftsvision haben, die einfach noch etwas Zeit braucht, um in den Köpfen und Herzen der Chinesen einen Platz zu finden. Ganz nach dem Motto: „Die Idee war gut, doch die Welt noch nicht bereit.“

Wenn man jedoch eine Anlage baut, bei der im Laufe des Monats etwa drei Millionen Gäste bewirtet werden sollen, ist das schon ein sehr gewagtes Projekt. Eine Maß Bier kostet auf dem Beijinger

Bierfest mit 90 Yuan (9,67 Euro) rund einen Euro mehr als beim Münchner Original (ca. 8,60 Euro). Ich bin nicht ganz sicher, ob in der Stadt derzeit überhaupt so viele Menschen leben, die zumindest theoretisch bereit wären, diesen Preis für ein Bier zu bezahlen. Ich kenne kaum welche. Nur zum Vergleich: Eine Flasche Tsingtao (0,6 Liter) kostet in kleineren Restaurants etwa 3 Yuan.

Daher mein Tipp für das nächste Jahr: Die Preise halbieren und insgesamt deutlich tiefer stapeln. Man könnte zum Beispiel einige der Hallen einfach wieder abreißen oder zum Indoor-Krebsangeln verwenden. Dann sähe es vielleicht nicht mehr so sehr nach „Größenwahnsinniger Investor greift vergeblich nach dem Oktoberfestmonopol in China“ aus. Aber wie gesagt, ich hab mich köstlich amüsiert und ich bin gespannt wie es weitergeht mit dem „größten Oktoberfest der Welt“.

Und das liegt nicht daran, dass ich unbedingt dabei sein möchte, wenn die Bayern dieses Auswärtsspiel verlieren sollten – bestimmt nicht. Und wenn sie dann doch scheitern, dann springe ich gerne ein. Ich sehe schon die Schlagzeilen, die rund um den Globus gehen: Der größte Fischmarkt der Welt steht jetzt in Beijing.

Kommentar: 7/23 – Das Ende der Phrasen

Weitgehend unbemerkt von der medialen Öffentlichkeit Deutschlands findet derzeit ein Quantensprung in der chinesischen Debattenkultur statt. Die Zugkatastrophe in Wenzhou, bei der nach derzeitigem Kenntnisstand 39 Menschen starben und fast zweihundert verletzt wurden, veranlasst immer mehr Chinesen, offen ihre Meinung und Kritik zu äußern.

Die ausführlichsten deutschsprachigen Informationen zu diesem Thema findet sich online derzeit hier.

Die chinesischen Mikroblogs kennen im Moment kaum ein anderes Thema als diesen „Unfall“ und die kommunistische Führung sieht sich einer kritischen und gebildeten Internetöffentlichkeit gegenüber, die alle Mittel der neuen Medien benutzt, um Schlampigkeiten und Vertuschungsversuche der verantwortlichen Behörden und der Partei-Oberen offenzulegen.

Aber, und das ist das Neue, die Kritik am prestigeträchtigen Fortschrittswahn im chinesischen Wirtschaftswunderland schwappt langsam aus den Mikroblogs auch in andere Bereiche über. Sie schwappt jedoch zur Zeit nicht auf die Straße, wo ihn viele ausländische Medien- und Regierungsvertreter sicher gern sehen würden. Die Fragen und Diskussionen über den Zustand der Institutionen, die die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt lenken, schwappt über in die politischen Fernsehsendungen, in die Zeitungen und in die Büros. Vorsichtig noch, aber immer häufiger werden in den Situationen, in denen früher Phrasen gedroschen wurden, ernsthafte und kontroverse Debatten geführt.

Die Wut hingegen macht sich fast ausschließlich im Internet Luft. Selbst Chinesen wundern sich derzeit über die Schizophrenie der chinesischen Öffentlichkeit. Wenn man die Mikroblogs liest, glaubt man, dass schon sehr bald der aufgebrachte Mob die Paläste stürmt. Wenn man aber auf der Straße und in den gut gefüllten Restaurants in die Gesichter blickt, dann hat man das Gefühl, dass selbst in tausend Jahren kein Chinese für eine bessere und gerechtere Zukunft auch nur einen Finger krumm machen wird.

Die wahrscheinlich beste Erklärung für dieses Phänomen ist, dass die meisten Chinesen selbst viel zu sehr verstrickt sind in das System der gegenseitigen Abhängigkeiten und sich noch immer viel mehr auf das persönliche Guanxi-Netzwerk verlassen, das ja in den meisten Fällen Kader und Beamte mit einschließt, als am Aufbau eines transparenten Rechtsstaates aktiv mitzuwirken. Wer voller Sünde ist, schmeisst keine Steine.

Die Ereignisse nach dem als 7/23 bezeichneten, menschengemachten Unglücks zeigen aber, dass im medial organisierten 21. Jahrhundert die erstarkende bürgerliche Öffentlichkeit in China nicht mehr bereit sein wird, ein System zu stützen, das nicht konsequent alle Abläufe offenlegt und nach den Fehlern sucht, die zum Tod von unschuldigen Menschen geführt haben.

Es könnte sein, dass 7/23 einen Einschnitt für die chinesische Gesellschaft darstellen wird. Die kommunistische Partei hat im Augenblick nur die Wahl, konsequent zu handeln, die Verantwortlichkeit für diesen Skandal zu übernehmen und Kritik von Innen und Außen zuzulassen, oder aber eine offen ausgetragenen Konfrontation mit dem chinesischen Bürgertum in Kauf zu nehmen. Weiterhin rote Lieder zu singen, wird in dieser Sache nichts nützen und man wird einsehen müssen, dass die Selbsbeweihräucherung der letzten Jahre auch von den Problemen abgelenkt hat, die die politische Führung Chinas, ganz egal welcher Ideologie sie folgt, zu bewältigen hat.

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Nachtrag I (30.07.2011, 01.19 GMT+8):
Nach unbestätigten Berichten in Mikroblogs hat eine Pekinger Zeitung (新京报)eben so wie viele andere Zeitung die Anweisung erhalten, ihre geplante Story über das Thema nicht zu bringen. Angeblich planen die Journalisten dieser Zeitung aber, sich den Anweisungen zu widersetzen. Sie sollen vorhaben, die erste Seite weiß zu lassen und ihre Rechercheergebnisse als Pdf-File zu verschicken. Bisher gibt es wie so oft in China nur Gerüchte, aber wenn sich diese Gerüchte bewahrheiten sollten, dann wächst sich dieser Skandal endgültig zu einem Machtkampf um die Meinungsfreiheit aus.

Es ist es sicher derzeit schwer vorauszusehen, wie diese Geschichte weitergehen wird. Aber wer weiß, vielleicht kommt es in der nächsten Zeit sogar zu einer partiellen Unabhängigkeitserklärung einiger Medien. Die Chancen für einen großen Schritt auf dem langen Weg der Twivolution stehen vielleicht gar nicht mal so schlecht.

Viele chinesische Medienvertreter haben längst erkannt, dass ihre Form der harmonisierten Nachrichtenaufbereitung sie langsam aber sicher ins gesellschaftliche Abseits katapultiert und relevante Informationen nahezu ausschließlich in den Mikroblogs verbreitet werden. Und welcher Journalist kann schon mit der drohenden Bedeutungslosigkeit seines Schaffens leben?

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Nachtrag II (30.07.2011, 03.41 GMT+8):
Die Beijinger Zeitung Xinjingbao (新京报) hat sich scheinbar entschieden, den klassischen chinesischen Weg zu gehen und ihre Kritik in Metaphern zu kodieren. In diesem Fall ist es allerdings auch für weniger gebildete Leser nicht besonders schwierig, den Code zu entschlüsseln. Auf dem Bild, das im Internet kursiert und das die mutmaßliche Titelseite von morgen darstellt, wurde der recht belanglose Wetterbericht zur Schlagzeile gemacht. Die Überschrift lautet „七日雨未绝 一天两预警„, was wörtlich in etwa bedeutet: „Es regnet seit sieben Tagen – An einem Tag wurden zwei Unwetterwarnungen herausgegeben“.

Sieben Tage sind seit dem Zugunglück vergangen und ebenso lange dauert die Zeit, nach der die Seelen Verstorbener laut der chinesischen Mythologe von einer Wanderung nach Hause zurückkehren (头七).

Wem das zu sehr nach Zahlenmystik im Stile von Verschwörungstheoretikern und Kryptoarchologen klingt, der möge bedenken, dass Chinesen die gewöhnungsbedürftige Angewohnheit haben, sehr vieles in Sinnbildern auszudrücken. Es ist aber m.E. schade, dass in diesem Fall wieder einmal nicht der Mut aufgebracht wurde, klare Worte zu finden. Die Möglichkeit der Wahrung des Gesichts aller Beteiligter scheint auch diesmal eine hohe Priorität zu haben.

Rezension: Die Gewinner der Krise – Was der Westen von China lernen kann

Vor einigen Jahren hat einer meiner deutschen Kollegen in China einen Vortrag gehalten, in dem er auch auf die Gründe eingegangen ist, die seiner Meinung nach für den wirtschafltichen Aufstieg Chinas verantwortlich sind. Er vertrat die These, dass die rasanten Veränderungen vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen sind. Was für Kishore Mahbubani die „Sieben Säulen der westlichen Weisheit“ sind und für Niall Ferguson die „Sechs Killer-Applications“, waren für ihn die„ Drei Ausbeutungen“. Mein Kollege vertrat in seinem Vortrag die Meinung, dass die auf den ersten Blick positive Entwicklung in China fast ausschließlich auf die Ausbeutung von Mensch, Rohstoffen und Umwelt zurückzuführen ist.

Der Vortrag meines Kollegen war vor allem polemisch gemeint und sollte zum Nachdenken anregen. Wenn man jedoch die Allgegenwart der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, die miserablen Umweltbedingungen und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen ansieht, dann kann man den Einfluss ausbeuterischer Zustände auf das moderne China nicht von der Hand weisen. Aber ist das schon die ganze Geschichte? Sicher nicht.

Vereinfachungen sind in jeder Theorie notwendig, um die Komplexität der Welt zumindest einigermaßen zu bändigen. Doch bei dem Versuch, die rasanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgänge in China zu beschreiben, laufen Beobachter von außen oft Gefahr, nicht ausreichend aktuelles Faktenwissen zu beachten und in Kategorien zu denken, die sich vielleicht für die westlichen Industrienationen in der Vergangenheit bewährt haben, aber nicht ohne weiteres auf die Situation im heutigen China übertragen werden können.

Meiner Meinung nach begeht Felix Lee, der als Wirtschafts- und Politikredakteur für „Die Tageszeitung“ schreibt, in seinem Buch „Die Gewinner der Krise: Was der Westen von China lernen kann“, das ich für außerordentlich lesenswert halte, diesen Fehler nicht. Sein Kernthema ist der wirtschaftspolitische Hintergrund für die bisherige Krisenresistenz der chinesischen Volkswirtschaft, die viele Analysten überrascht hat. Lee vermeidet es dabei, die dargestellten Fakten zu sehr in einen größeren Bedeutungszusammenhang einzuordnen und auch wenn der Titel es anders vermuten lässt, bleibt er in seinen Beobachtungen sehr um Differenzierung bemüht. Und auch nur an wenigen Stellen geht er so weit, die „Zutaten für das Erfolgsrezept Chinas“ zu sehr zu verallgemeinern und die Möglichkeit einer Übertragbarkeit auf die Situation in Deutschland zu suggerieren.

Gleich zu Beginn stellt sich Lee die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, ein Buch zu schreiben, in dem die wirtschaftlichen Erfolge einer Regierung thematisiert werden, die autoritär ist und Oppositionelle unterdrückt. Er sieht darin jedoch keinen moralischen Konflikt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Lee zudem der Meinung ist, dass ein Buch über das, was der Westen von China auf keinen Fall lernen sollte, ungleich dicker wäre.

Lee beschreibt die drängenden Aufgaben der Zukunft jenseits der allseits bekannten Probleme wie der Inflation, der steigenden Wohnungspreise und der miserablen Werte im Gini-Index. Die wären, um nur einige zu nennen:

  • Der Umbau von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft und der damit verbundenen geplante Urbanisierungsprozess
  • Die Schaffung von Wohnraum für die zukünftigen neuen Stadtbewohner
  • Die Anpassung der Einkommen an die steigenden Unternehmensgewinne
  • Die Behebung des Ärztemangels und die Bekämpfung der explodierenden Preise im Gesundheitssystem
  • Der Aufbau eines Sozialversicherungssystems
  • Der Aufbau eines unabhängigen Justizwesens

Lee geht zudem davon aus, dass trotz der durch nichts zu entschuldigenden noch immer auftretenden Missachtungen der Menschenrechte, das heutige China zwar ein autoritärer, aber keineswegs ein totalitärer Staat mehr ist und sicher nicht mit Ländern wie Nordkorea gleichgestellt werden sollte. Er sieht trotz zeitweiliger Rückschritte die Bereitschaft der chinesischen Regierung, langfristig einen Rechtsstaat zu schaffen und mehr Meinungsfreiheit zuzulassen. Lee ist der Meinung, dass der chinesischen Regierung über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben wird, als eine Form der Gewaltenteilung einzuführen.
Ein wichtiger Grund, die positiven Aspekte des chinesischen Wirtschaftswunders einmal genauer zu betrachten, sieht er darin, dass besonders im wirtschaftspolitischen Bereich weniger Unterschiede zwischen dem modernen China und dem Westen bestehen, als gemeinhin angenommen.

„Ich bin sicher, dass mit einem genauen Blick auf das Land China der Schrecken genommen werden kann. Denn wirtschaftspolitisch ist die chinesische Regierung aus keinem anderen Holz geschnitzt als die meisten europäischen Länder.“

Ein Freund von mir scherzt oft in Anlehnung an einen eher weniger erfolgreichen interkulturellen Lernprozess „Von China lernen, heißt siegen lernen.“ Das ist leicht gesagt. Doch was ist es denn, was die Chinesen derzeit richtig machen? Was sollen wir denn von ihnen lernen?

Lees Antwort auf diese Frage ist recht eindeutig: der starke Staat. Sein Text ist auch ein Plädoyer für eine neues Verständnis der Rolle des Staates in der westlichen Wirtschaftswelt zu verstehen. Lee glaubt nicht an das neoliberale Dogma, wonach sich der Markt im freien Spiel der Kräfte selbst reguliert. Der Staat hat für ihn die Aufgabe, die Interessen der Menschen gegenüber den Kräften des Marktes durchzusetzen – frei und liberal gegenüber seinen Bürgern und stark und regulierend gegenüber der Wirtschafts- und Finanzwelt.

„Wie dargestellt, beruht Chinas Erfolg vielmehr auf einem wirtschaftspolitischen Rahmen, der den Akteuren klare Grenzen setzt. Die Regierung behält sich vor, jederzeit an den Märkten intervenieren zu können, um allzu große Exzesse zu verhindern. Spekulanten können sich im Reich der Mitte nicht unbegrenzt austoben. Zudem sind nicht kurzfristige Renditen ausschlaggebend, sondern es geht darum, wo sich das Land in fünf, zehn und auch zwanzig Jahren sieht.“

Der Erfolg Chinas beruht laut Lee somit auf einer wirtschafspolitischen Ordnungspolitik, die in Fünf-Jahres-Plänen Zielvorstellungen definiert und dann flexibel an die jeweiligen wirtschaftlichen Realitäten anpasst. Auch westliche Politiker und Regierungschefs müssten sich demnach mehr an Fernzielen orientieren, anstatt auf die Umfrageergebnisse und die Chancen im Wahlkampf zu starren wie die Schlange auf das Kaninchen. Dafür müsste sich die Politik jedoch stärker vom Einfluss einzelner Interessen freimachen und wieder in der Lage sein, unmittelbar in das Marktgeschehen einzugreifen.

Felix Lee sieht die westlichen Demokratie durchaus in der Lage, dauerhaft neben dem chinesischen Staatskapitalismus konkurrenzfähig zu bleiben. Allerdings hält er es für notwendig, dass in einer Zeit, in der sich das Machtgefüge zu Gunsten der Interessenvertreter der Wirtschafts- und Finanzinstitutionen verschoben hat, die Politik als eigenständiger Akteur verlorene Handlungsspielräume zurückerobert. Eine der provokantesten Fragen in seinem Buch lautet: Was nutzt eine demokratisch gewählte Regierung, wenn sie doch nur die Partikularinteressen bestimmter Gruppen vertritt?

Am Ende dieser Rezension möchte ich ein Zitat stellen, weil es mir besonders auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die geschichtliche Einordnung der Leistungen der Kommunistischen Partei Chinas, die nicht immer sachlich geführt wird, in weiten Teilen aus der Seele spricht:

„Ich kenne kein politisches System, das die individuellen Freiheitsrechte so sehr garantiert wie die Länder der westlichen Welt. Freiheit, politische Teilhabe und die Einhaltung der Menschenrechte sind fundamentale Wesensmerkmale einer progressiven Staatsform. Und ich bin davon überzeugt, dass sie unabhängig vom Kulturkreis universell sind. Für ebenso wichtig halte ich es aber, dass Staat und Regierung dafür sorgen, den Bürgern einen Mindeststandard an Lebensqualität zu garantieren, der es ihnen möglich macht, diese universellen Rechte einzufordern und auszuüben. Wer hungert, kein Dach über dem Kopf hat, für wen im Krankheitsfall nicht gesorgt wird oder wem nicht ein Minimum an Bildung geboten wird, der kann sich auch nicht dauerhaft politisch einbringen. Wie die Entwicklung der meisten Demokratien beweist, bedurfte es stets eines gewissen sozialen Niveaus, damit politisches Engagement nachhaltig gedeihen konnte. Diese Standards sind in China längst erfüllt, weswegen es auch aus diesem Grund bedauerlich ist, dass es dort noch immer keine Demokratie gibt.“

Randnotizen: Rookie-Rap und Dream Team zur China-Invasion

Hanhan, hauptberuflich Rennfahrer und nebenbei der uneingeschränkte Superstar unter den chinesischen Bloggern, hat einmal auf die Frage, warum er denn immer nur negativ über sein Heimatland schreiben würde, folgende Antwort gegeben: „Positives brauch ich über China nicht zu schreiben. Das machen doch die Medien schon zur Genüge.“ Und wenn so manch ein Leser von Doppelpod sich in letzter Zeit die Frage stellt, warum wir denn hier nicht auch hin und wieder Chinas dunkle Seiten in aller Deutlichkeit beim Namen nennen, so bleibt darauf nur zu sagen: „Das brauchen wir nicht. Das machen doch die Medien – in diesem Fall die deutschen – schon zur Genüge.“

Gerade ist er vorüber – der Auftritt von Opa Wen (nicht zu verwechseln mit Bruder Hu) auf den großen Bühnen in Europa. Und vor den staunenden Augen der Weltöffentlichkeit hat Opa Wen sein großzügiges Angebot bekanntgegeben, die siechende ungarische Wirtschaft mal eben mit einer der vielen Fantastillionen an amerikanischen Dollars fitzuspritzen, die er unter seinem Kopfkissen und in den Bilanzen der einzigen noch amtierenden Supermacht versteckt hat. Und schon hat Deutschland Angst. „Wir werden aufgekauft. Wir werden aufgekauft. Hilfe. Schließt eure Kinder weg, verrammelt die Türen. Der Orientale mit seinen Schubkarren voller Geld steht am Stadttor.“

Hier nur kurz zwei Zahlen von Tagesschau.de zu der Frage, wer hier wen kauft:

Vergleicht man Deutschland und China als Investoren, so ist Deutschland ein Riese und China ein Zwerg. Das zeigt das gerade in Peking veröffentlichte Weißbuch über die Beziehungen zu Berlin. In 20 Jahren haben deutsche Firmen in China mehr als 17 Milliarden Dollar investiert. Die Chinesen dagegen starteten erst vor zehn Jahren und haben seither gerade einmal 1,3 Milliarden ausgegeben.

OK. Die große finanzielle China-Invasion steht also derzeit für Deutschland noch nicht unmittelbar bevor. Aber man kann sich ja nie früh genug darüber Gedanken machen, mit wem man es da auf der Weltbühne eigentlich alles zu tun hat. Für all diejenigen, die nicht dem Charme des alten Mannes erlegen sind, dem selbst im Angesicht von Angies Moralpredigt nicht das Lächeln vergeht, und die Opa Wens Europa-Trip für eine moderne Inszenierung des Dürrematt’schen Klassikers „Der Besuch der alten Dame“ halten, empfiehlt Doppelpod die folgende musikalische Bearbeitung dieses Themas. Das Lied mit dem Titel „Rookie-Rap zur China-Invasion“, das wir diesmal von dem Berliner  Radiosender Jam FM verlinkt haben, lehnt sich musikalisch an die Old School des Hip Hop an.

Inhaltlich und thematisch könnte man mit ein wenig Phantasie einige versteckte Parallelen zu den in China derzeit wieder beliebt gewordenen roten Liedern entdecken. (Wie heißt eigentlich das Gegenteil von China-Bashing? Nicht das uns jemand uns das demnächst jemand vorwirft und wir kennen noch nicht einmal das Wort)

Deutlich sachorientierter aber dafür mit etwas weniger Flow geht der NDR in der Sendung „Klassik á la Carte“ an das Thema „Deutschland und China“ heran. Das bei Doppelpod bereits vorgestellte Dreamteam der internationalen Beziehungen Yu-Chien Kuan und Petra Häring-Kuan hat dort ein gemeinsames sehr hörenswertes Interview gegeben. Und natürlich verlinken wir auch das in voller Länge. Viel Spaß beim Hören!

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit bedeutet, dass jemand nicht fähig ist, seinen eigenen Verstand ohne die Leitung eines anderen zu benutzen. Selbstverschuldet bedeutet, dass diese fehlende Fähigkeit nicht durch einen Mangel an Verstand begründet ist. Stattdessen fehlt es an Mut und Kraft, den eigenen Verstand ohne die Leitung eines anderen zu benutzen. Sapere aude! Riskiere es, dich über die Welt zu informieren! Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu benutzen.

Der Mensch hat sich von der Macht der Natur befreit und lebt nicht mehr unter ihrer Kontrolle wie ein Tier. Heute ist es die Faulheit und Feigheit, die dazu führt, dass viele Menschen ihr ganzes Leben lang unmündig bleiben. Faulheit und Feigheit sind der Grund, warum viele Menschen von anderen Menschen kontrolliert und gesteuert werden. Es ist so bequem, unmündig zu sein.

  • Habe ich ein Buch, in dem die Welt erklärt wird, dann brauche ich nicht meinen eigenen Verstand benutzen.
  • Kenne ich einen klugen Menschen, der mir das gute Leben erklärt, dann brauche ich meinen Verstand nicht zu benutzen.
  • Habe ich einen Arzt, der mir sagt, was gesund für mich ist, dann brauche ich meinen Verstand nicht zu benutzen.

 

Ich brauche nicht die mühsame Aufgabe des Denkens zu leisten, wenn andere Leute es für mich tun. Außerdem halten die meisten Menschen (besonders die Frauen) es nicht nur für anstrengend, sondern auch für gefährlich, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Sie wurden von den Menschen, die sie kontrollieren, so erzogen. Wie die Tiere im Stall werden sie behandelt von ihren Herren. Zuerst sind diese ruhigen Tiere im Dunkeln des Stalles eingesperrt. Sie sind es nicht gewohnt, auf der Wiese zu grasen. Ihnen wird gesagt, welche Gefahr droht, wenn sie den Stall verlassen würden. In Wirklichkeit gibt es aber gar keine Gefahr. Sie würden vielleicht zunächst stolpern und fallen. Aber nach kurzer Zeit hätten sie gelernt, allein auf der Wiese zu gehen und das grüne Gras zu fressen. Doch die Angst vor dem Stolpern und dem Fallen verhindert, dass die Tiere es versuchen.

Viele Menschen haben es verlernt, ihren eigenen Verstand zu benutzen

Es ist also für jeden Menschen schwer, sich aus der Unmündigkeit, die er für unvermeidlich hält, herauszuarbeiten. Viele Menschen fühlen sich in diesem Zustand wohl. Sie haben es verlernt, ihren eigenen Verstand zu benutzen, weil man es ihnen noch nie erlaubt hat. Vereinfachte Wahrheiten, ständig wiederholte Formeln, die die Welt erklären sollen und zu denen man sich bekennen muss, sind die Fesseln der Menschen, die sie in ihrer Unmündigkeit festhalten. Wenn man sich von ihnen befreit und frei bewegt, dann werden die ersten Bewegungen sehr mühevoll und unsicher sein, weil man nicht gewohnt ist, die neue Bewegungsfreiheit zu nutzen. Deswegen gibt es nur sehr wenige, die es schaffen, sich selbst von den Fesseln zu befreien und einen sicheren Gang zu entwickeln.

Aber es gibt eine andere Möglichkeit. Die ganze Gesellschaft kann sich zu einer aufgeklärten Gesellschaft entwickeln, wenn die Freiheit der Menschen nicht zu sehr eingeschränkt wird. Denn auch unter den Menschen, die andere Menschen kontrollieren, gibt es welche, die es gelernt haben, ihren eigenen Verstand zu benutzen. Sie haben erkannt, dass es für die eigene Entwicklung und die Entwicklung der Gesellschaft gut ist, wenn die Menschen ihren eigenen Verstand benutzen. Sie werden wahrscheinlich von den Menschen, die noch vor kurzem von ihnen kontrolliert wurden, kritisiert werden. Denn diese können den Wert der Aufklärung nicht sehen. Außerdem werden die anderen Herrschenden, die nicht zur Aufklärung fähig sind, es verhindern wollen, dass die Menschen ihren eigenen Verstand bedienen. Es ist also niemals gut, auf der Suche nach der Wahrheit zu glauben, dass man die Antworten auf die Fragen des Lebens schon kennt. Denn dadurch entsteht nur die Unfähigkeit zu lernen. Man sollte keine Meinung als richtig oder falsch bezeichnen, wenn man sie nicht durch seinen eigenen Verstand überprüft hat. Wenn man stattdessen nur die eine Seite der Wahrheit akzeptiert und Vorurteile gelten lässt, besteht immer die Gefahr, dass man irgendwann auf der falschen Seite steht und Rache geübt wird. Daher kann ein Volk nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird es vielleicht gelingen, dass ein System, das die Menschen ausbeutet und unterdrückt, zu besiegen, aber es wird dadurch niemals eine wahre Reform der Denkweise erreicht. Denn alte und auch neue Vorurteile werden die Gedanken der Revolutionäre leiten.

Die Freiheit, die man für die Aufklärung braucht, ist die ungefährlichste Freiheit

Für die Aufklärung braucht man also nichts anderes als Freiheit. Freiheit mag nicht immer gut sein und birgt auch Gefahren. Die Freiheit, die man für die Aufklärung braucht, ist jedoch die ungefährlichste Freiheit. Es ist die Freiheit, von seinem Verstand in jeder Hinsicht öffentlichen Gebrauch zu machen. „Nein, nein, nein“, höre ich von allen Seiten „Das ewige räsonieren bringt uns doch keinen Schritt weiter.“

  • Der Offizier sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt marschieren.“
  • Der Buchhalter sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt bezahlen!“
  • Der religiöse Führer sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt glauben!“

Überall wird die Freiheit zum Denken eingeschränkt und man muss sich in seiner Rolle in der Gesellschaft verhalten. Viele dieser Einschränkungen der Freiheit sind auch tatsächlich notwendig, weil jeder Mensch nur ein kleiner Teil eines größeren Gesellschaftsgefüges ist. Menschen haben ihre Rolle in der Gesellschaft, die sie ausfüllen müssen. Deswegen stellt sich die Frage, welche Einschränkungen der Freiheit sinnvoll sind und welche nicht. Ich antworte: Man muss trennen zwischen dem öffentlichen Gebrauch seines Verstandes, der der Wahrheitsfindung dient und dem privaten Gebrauch, der durch die persönliche Rolle in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Die Einschränkung dieses privaten Gebrauchs ist für den Fortschritt der aufgeklärten Gesellschaft kein Hindernis.

In der Weltbürgergesellschaft kommunizieren die Gelehrten durch ihre Werke

Für das gesamtgesellschaftliche Interesse ist es in einigen Fragen notwendig und wichtig, dass die Bürger eines Staates sich passiv verhalten und den Anweisungen der Regierung folgen. Wenn man dies nicht tut, gefährdet man die Interessen der Gemeinschaft und die Regierung kann und wird versuchen dies zu verhindern. Als Teil einer Gesellschaft ist es in mancher Hinsicht also wichtig, dass man auf das Denken verzichtet und sich der herrschenden Meinung unterordnet. Aber jeder Mensch ist nicht nur ein Teil dieser Maschinerie, sonder gleichzeitig auch ein Mitglied einer viel größeren Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist die Weltbürgergesellschaft, in der ein Gelehrter durch seine Werke mit anderen Menschen kommuniziert. Hier sollte jeder Mensch seine rational begründete Meinung frei äußern können, auch wenn sie nicht der herrschenden Mehrheit der Menschen seiner Gesellschaft entspricht. Wenn einem Offizier im Dienst etwas befohlen wird, dann darf er den Befehl nicht hinterfragen, sondern er muss ihn ausführen. Aber wenn der Kampf vorüber ist, dann muss es dem Offizier erlaubt sein, Anmerkungen zu machen über die Fehler, die im Kriegseinsatz gemacht wurden. Es muss erlaubt sein, dass er seine wohl begründete Meinung veröffentlicht und anderen Menschen zur Beurteilung vorlegt.

Ein Bürger muss seine Steuern bezahlen. Wenn er dazu aufgefordert wird, dann ist es sogar strafbar, falls er es nicht tut und er muss bestraft werden, wenn er dies nicht den Gesetzen entsprechend handelt. Aber in einer gerechten, aufgeklärten Gesellschaft ist es ihm erlaubt, nach der Bezahlung seiner Steuern, öffentlich die Höhe der Steuern zu kritisieren. Ein Geistlicher, der die Aufgabe übernommen hat, eine Gemeinde zu leiten, muss sich an die Regeln und Sitten der Religion halten, denn dies ist Teil seines Auftrages. Allerdings muss ihm die Freiheit gegeben sein, sich in der Öffentlichkeit Gedanken über die Verbesserung des Religions- und Kirchenwesens zu machen.

In der Trennung zwischen dem öffentlichen Gebrauchs seines Verstandes und dem privaten in seiner Rolle in der Gesellschaft besteht kein Widerspruch. Wenn ein Geistlicher in der Kirche in seiner Rolle als Amtsträger funktioniert, dann vertritt er die Meinung der Kirche, die vielleicht nicht in jeder Hinsicht seinen eigenen Gedanken entspricht. Vielleicht ist er sogar in einigen Punkten vollkommen anderer Meinung. Trotzdem muss er die Gedanken der Kirche lehren, denn er arbeitet für sie. Er wird versuchen, das Beste aus dieser Lehre zu machen, die in seinen Augen vielleicht gar nicht richtig ist. Die Ansicht, die er als Amtsträger vertritt, wird aber wahrscheinlich nicht grundsätzlich seiner Auffassung von der richtigen Religion widersprechen, denn sonst würde er sich nicht für die Aufgabe des Amtes verpflichtet haben. Wenn das Amt nicht mit seinem Gewissen vereinbar ist, müsste er es aber niederlegen.

Als Priester ist diese Person in ihrer freien Meinungsäußerung also eingeschränkt. Als öffenliche Person jedoch, die an dem Wohl der viel größeren Gemeinschaft interessiert ist, muss sie jedoch eine uneingeschränkte Freiheit genießen, ihren  eigenen Verstand benutzen zu dürfen. Denn es ist nicht einzusehen, dass die Menschen, die dem Volk übergeordnet sind, sich selbst unter die Herrschaft einer Weltanschauung oder die Herrschaft anderer Menschen stellen sollen.

Die Menschen haben kein Recht, die Menschen in den folgenden Generationen auf einen Weg festzulegen

Nun könnte man die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll ist, dass sich eine Gesellschaft auf eine Ideologie einigt und diese Ideologie für alle Zeiten festschreibt und für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlich macht? Ich sage: Das ist ganz unmöglich. Eine solche Einigung, welche die Menschen an dem Fortschritt der Gesellschaft durch Aufklärung hindert, ist niemals rechtmäßig zu begründen. Und auch wenn alle Gerichte und Institutionen sich auf so eine Vereinbarung geeinigt haben, ist es doch ein Vertrag, der nicht den natürlichen Rechten des Menschen entspricht. Die Menschen, die in einem Zeitalter leben, haben kein Recht dazu, die Menschen in den folgenden Generationen auf einen bestimmten Weg festzulegen. Denn dann wäre man nicht fähig, die alten Irrtümer zu beseitigen und die Erkenntnisse zu erweitern. Das wäre ein Verbrechen gegen die menschliche Natur, deren Bestimmung der Fortschritt ist. Die Nachkommen sind daher dazu berechtigt, solche Beschlüsse nicht anzuerkennen und stattdessen den Weg zu gehen, der auf dem eigene Denken begründeten und der Fortschrittlichkeit verpflichtet ist.

Es wäre allerdings möglich, dass sich ein Volk vorübergehend eine gewisse Ordnung und Ideologie selbst gibt, die so lange gilt, bis man eine bessere gefunden hat. Währenddessen muss es aber den Gelehrten erlaubt sein, öffentlich über eine bessere Ordnung nachzudenken und über die Ideologie zu diskutieren. Wenn die Diskussion dann zu Ergebnissen geführt hat und viele Menschen der Ansicht sind, dass man der Regierung öffentliche Reformvorschläge für eine bessere Gesellschaft unterbreiten kann, dann sollte das auch geschehen. Diejenigen, die die alte Ordnung behalten möchten, sollten das Recht haben, gehört zu werden. Aber auch die, die einen Verbesserungsvorschlag gemacht haben, sollten nicht unterdrückt werden. Ein Menschleben ist zu kurz, um sich auf eine allein gültige, ideologische Auffassung zu einigen, die von niemandem öffentlich bezweifelt werden darf. Dadurch würde man den gesellschaftlichen Fortschritt aufhalten und die Chancen vernichten, dass sich die Gesellschaft verbessert. Das ist nicht gerecht gegenüber den Nachkommen und daher nicht zulässig.

Ein einzelner Mensch kann für eine gewisse Zeit die Aufklärung verschieben. Aber völlig darauf zu verzichten und diesen Verzicht für die Nachkommen festzuschreiben ist eine Handlung, die eines Menschen nicht würdig ist. Wenn aber nicht einmal das Volk eine Festlegung auf einen ideologischen Weg beschließen darf, weil sie damit die Chancen für eine bessere Gesellschaft verringert, dann dürfen die Regierenden es sicherlich auch nicht. Die Rechtmäßigkeit einer Regierung besteht schließlich gerade darin, dass sie die Interessen des Volkes vertritt und den Willen des Volkes repräsentiert. Die Regierenden müssen also darauf acht geben, dass die Verbesserungsvorschläge auch wirklich im Sinne einer besseren Ordnung sind. Die Regierenden sind jedoch keinesfalls dafür verantwortlich, welchen Weg sich ein Volk aussucht. Es ist der Weg des Volkes. Stattdessen sind sie dafür verantwortlich, dass keine Macht das Volk gewalttätig daran hindert, diesen Weg zu gehen. Eine Regierung sollte nicht versuchen, die Schriften, die sich mit der Verbesserung der Gesellschaft beschäftigen zu kontrollieren und zu zensieren. Diese Einsicht hatten schon die Römer. Und niemals sollten die Regierenden versuchen, diejenigen Kräfte in einem Staat zu unterstützen, die einen Vorteil davon haben, wenn die Menschen es lassen, ihren eigenen Verstand zu bedienen.

Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung

Wenn man jetzt die Frage gefragt wird: „Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?“, dann lautet die Antwort: „Nein, wir leben wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Es ist so, dass die meisten Menschen in diesem Land nicht in der Lage sind, ideologische Fragen mit Hilfe ihres eigenen Verstandes zu verstehen, ohne dabei angeleitet zu werden. Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Aber es ist ihnen der Weg geöffnet worden und sie beginnen die ersten Schritte zu gehen. Die Hindernisse zu einer selbstbestimmten, aufgeklärten Gesellschaft auf dem Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit werden allmählich weniger werden, dafür gibt es deutliche Anzeichen. In Anbetracht dessen ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs.

Friedrich ist ein Herrscher, der es unwürdig findet, den Menschen vorzuschreiben, was sie in ideologischen Fragen denken sollen. Er gibt ihnen in diesen Fragen die volle Freiheit. Nicht nur, dass er es nicht nur erlaubt, nein, er fordert es, dass die Menschen sich ihre Meinung selbst bilden. Er verdient den Respekt und den Dank der Nachwelt, dass er jeden Untertanen dazu ermutigt hat, sich in ideologischen Fragen seines eigenen Verstandes zu bedienen. Geistliche dürfen sich fragen, ob die Lehre, die sie vertreten, die richtige und wahre ist. Aber nicht nur diejenigen, die durch ein Amt eine Rolle ausfüllen, unterstützt Friedrich. Gerade die Bürger, die kein Amt ausüben, ermutigt Friedrich, ihren Verstand zu benutzen. Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch an anderen Orten aus. Selbst da, wo Regierungen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, es zu verhindern versuchen. Denn es wird immer deutlicher, dass in freiheitlichen Gesellschaften niemand sich um die Stabilität, den inneren Frieden und die Einigkeit des Staates Sorgen machen muss. Die Menschen arbeiten sich aus eigener Kraft aus der Unfähigkeit zu denken heraus, wenn man ihnen die Möglichkeiten dazu gibt.

Nur eine Regierung, die stark und stabil ist, kann den Bürgern viel Freiheit geben

Ich habe den Schwerpunkt meiner Analyse der Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit bei dem Thema Ideologie gesetzt. Denn bei den Künsten und bei der Wissenschaft sind unsere Herrscher weniger streng in ihrer Kontrolle. Die ideologische Unmündigkeit ist auch wohl die schädlichste. Aber es ist nicht nur die ideologische Ausrichtung, über die man in einem Staat problemorientiert diskutieren sollte. Auch beim Thema der Gesetzgebung sollte es dem Volk erlaubt sein, Kritik zu üben und Veränderungen vorzuschlagen. Auch in diesem Bereich hat Friedrich seinen Bürgern viel Mitsprache-Recht gegeben.

Aber nur die Regierung, die aufgeklärt ist und die stark und stabil genug ist, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, kann den Bürgern so viel Freiheit geben. Nur wenn die Menschen in ihrer Rolle den Anweisungen folgen, ist die Stabiliät und die Sicherheit in einem Land garantiert. Nur dann kann die Regierung sagen: „Denkt so viel ihr wollt und worüber ihr wollt. Aber führt zunächst die Befehle aus!“ Es klingt paradox, aber es trifft den Kern der Wahrheit. In ihrem täglichen Leben sind die Menschen an ihre Rolle gebunden und nicht unbedingt frei. Sie schränken ihre eigene Gedankenwelt ein und verhalten sich konform. Aber genau dadurch garantieren sie die Sicherheit, die es erlaubt, als Denkender die Freiheit des Geistes zu nutzen und die Gesellschaft zu verbessern.

So kann sich die Freiheit des Geistes ausbreiten und der Mensch kann das nutzen, was ihm von Natur aus gegeben ist und was ihn vom Tier unterscheidet: Der Wunsch und die Fähigkeit zum freien Denken. Die Freiheit im Denken kann sich dann auf die Freiheit im Handeln auswirken. Auf diesem Wege können sich auch die Grundsätze der Regierung verändern, die dann feststellen wird, dass es nur in ihrem eigenen Interesse ist, den Mensch nicht als Maschine zu behandeln, sondern seine Würde zu achten.

Links im Internet:

http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/nordwestradio_journal/audio56182-popup.html

http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/nordwestradio_journal/audio56044-popup.html


Weibos Welt – Mikroblogs verändern die chinesische Gesellschaft

„Mikroblog“ ist in China zum Wort der Jahres 2010 gewählt worden. Diese Auszeichnung ist eines von vielen Anzeichen dafür, dass sich in der Volksrepublik ein medialer Wandel vollzieht, den man mit gewisser Berechtigung als Twivolution bezeichnen kann. Das chinesische Wort für Mikroblog lautet Weibo (微博) und wird fast gleich ausgesprochen wie das Wort für Schal (围脖). Im Internet hat sich dewegen die Bezeichnung „einen Schal weben“ (织 围脖) als Schlagwort für etwas durchgesetzt, das zu einem wichtigen öffentlichen Informationskanal geworden ist.

Mikroblogs sind soziale Netzwerke, die nach dem Vorbild von Twitter funktionieren und erlauben es den Benutzern, sich durch einen Kurznachrichtendienst miteinander zu vernetzen. Twitter selbst ist zwar seit 2009 chinaweit blockiert, die Dienste von chinesischen Anbietern jedoch erfreuen sich rasant steigenden Zuwachsraten. Die großen Online-Portale wie Sina.com, QQ.com und Sohu.com bieten Mikroblogs bereits seit 2007 an, aber der große bis heute andauernde Boom begann eigentlich erst vor zwei Jahren. In diesem Zeitraum ist die Anzahl der chinesischen Mikroblog-User von 8 Millionen auf inzwischen über 75 Millionen gewachsen. Blogs von chinesischen Berühmtheiten haben schon jetzt eine Reichweite, die viele Fernsehsender in den Schatten stellt. Der derzeit beliebteste Blog ist der von Chinas Sport-Nationalhelden, dem Hürdenläufer Liu Xiang (刘翔). Er hat fast 12 Millionen Fans, wie die chinesische Bezeichnung für Abonennten eines Blogs lautet. Aber auch der auf dem zweiten Platz liegende ehemalige Microsoft- und Google-Manager Li Kaifu (李开复) hat aktuell bei QQ.com über 11 Millionen Fans. Fast genau so viele haben Barack Obama und Brittney Spears bei Twitter – wenn man sie zusammenzählt.

Die Mikrobloggs werden in China wie überall auf der Welt genutzt, um alle, die sich für die eigenen Erlebnissen und Gedanken interessieren, auf dem Laufenden zu halten. Geschrieben wird über das eigene Alltagsleben, die beliebtesten Internetvideos und die neuesten Trends innerhalb und außerhalb der Netzwelt. In zunehmendem Maße werden die Mikroblogs aber auch genutzt, um Kommentare zu aktuellen Geschehnissen abzugeben, über die in den Staatsmedien nicht oder nur sehr wenig berichtet wird. Seit die Olympiade und die Weltausstellung vorrüber sind und die Konflikte in Tibet und Xinjiang das Land und die Weltöffentlichkeit etwas weniger in Atem halten, sind es immer seltener die konventionellen Massenmedien, die die Themen der politischen Diskussion vorgeben, sondern die Blogs und Mikroblogs im Internet.

Jin Yong wurde am 06.12 von chinesischen Blogs verstorben.

Zwar werden die Einträge, wenn sie sensible Themen betreffen, immer wieder von den Betreibern der Seite gelöscht – oder wie es in der chinesischen Internetsprache heißt: harmonisiert – aber diese Maßnahmen können es nicht verhindern, dass viele brisante und kontroverse Themen und Ereignisse einer breiten Öffentlichkeit bekannt werden. Die chinesische Twivolution, so wie sie sich abzeichnet, zeigt jedoch im Gegensatz zu anderen Ländern derzeitig kaum die Tendenz zu einem revolutionären Umbruch. Es handelt sich auch in den Augen vieler chinesischer Intellektueller eher um einen langfristigen Transformationsprozess hin zu einer informierten Gesellschaft mit einer pluralistischen öffentlichen Meinung.

Dabei leisten Blogger augenscheinlich einen wertvollen Beitrag zu mehr Transparenz. Die gesteigerte öffentliche Aufmerksamkeit durch die Blogger verringert bereits jetzt die Gefahr, dass Skandale „unter den Teppich gekehrt“ werden, weil sie nicht den Interessen der Regierung entsprechen und staatliche Medien oft nicht die Form von investigativem Journalismus betreiben, wie er in vielen anderen Ländern üblich ist. Die jüngsten Ereignisse beim sogenannten Ligang-Gate haben gezeigt, dass soziale Netzwerke, Blogs und immer mehr auch die Mikroblogs derzeit in China oft einen schnelleren Zugang zu gesellschaftlich relevanten Informationen bieten als die konventionellen Medien.

Die kürzlich von einem Beijinger Sozialwissenschaftler ins Leben gerufene Online-Kampagne zur Suche nach entführten Kindern, die in einigen Fällen zum betteln gewungen wurden, hat viele Menschen auf das Problem aufmerksam werden lassen. Viele User trugen aktiv zu der Suche bei, indem sie dem Aufruf folgten und Fotos von bettelnden Kindern auf der Mikroblog-Seite veröffentlichten. Diese Suche führte tatsächlich zu Ergebnissen und mindestens ein Vater konnte seinen entführten Sohn wieder in die Arme schließen. Der wahrscheinlich jedoch viel größere Erfolg dieser Aktion ist jedoch, dass sich die chinesische Öffentlichkeit mit diesem wichtigen Thema beschäftigt. Kinder, die von skrupellosen Erwachsenen zum Betteln missbraucht werden, sind in chinesischen Großstädten eine erschreckende Realität. Und nur eine möglichst breite gesellschaftliche Diskussion wird Wege finden können, diesen Kindern auch langfristig zu helfen.

Die alternativen Informationskanäle bergen jedoch auch Gefahren. Die Anonymität und Flüchtigkeit des Mediums Internet hat wie überall auf der Welt auch in China zur Folge, dass auch Unwahrheiten und Gerüchte sich wie ein Lauffeuer verbreiten. Ein Beispiel aus der jüngeren Zeit ist ein Ereignis, das als „Jin Yong wurde verstorben“ (金庸 “被辞世”) in den Wortschatz der chinesischen Internetgemeinschaft Eingang gefunden hat. Im letzen Dezember verbreitete sich eines Nachts ein Gerücht, das schon am nächsten Morgen die Vögel von den Dächern zwitscherten: „Jin Yong, geboren am 22. März 1924, verstarb am 6. Dezember um 19.07 Uhr in einem Hongkonger Krankenhaus.“ Während einige Mikroblogger den Wahrheitsgehalt der Nachricht anzweifelten, schrieben andere bereits die ersten Nachrufe auf Jin Yong, den Schöpfer der klassischen Kungfu-Literatur. Und Meister Jin selbst? Der war weder tot, noch hatte er die Chance, zu der Nachricht von seinem plötzlichen Ableben eine angemessene Stellungnahme abzugeben.

Zusatz (27.05.2011, 13.53 GMT+8, korrigiert 27.05.2011, 20.50 GMT+8 )

Ich muss allerdings zu meiner Schande eingestehen, dass ich bisher keine Versuche unternommen habe, diese Variante der Geschichte zu überprüfen. Mir fehlt als Blogger einfach die Zeit. Ob Jin Yong gestorben ist oder nicht? Ich weiß es einfach nicht. In einem Vortrag, den ich im German Center, Beijing von der Vize-Präsindetin Yu Wei (于威) des chinesischen Online Big-Players sohu.com gehört habe, habe ich erfahren, dass viele chinesische Online-Medien für ihre Nachrichtenagebote wohl bald ganz auf Journalisten verzichten werden und stattdessen die User durch Mikroblogs die Nachrichten selbst generieren sollen. Das halte ich für eine schlechte Idee. Wenn man nicht die Gerüchteküche, die Anschuldigungen, die Propagenda und den ganzen anderen Unsinn im Internet ganz klar und eindeutig von den verifizierten Nachrichten trennt, dann sind das natürlich keine Nachrichten. (Wenn man den Lesern klar macht, dass die zusammengestellten Informationen keinen Anpruch auf Korrektheit haben, dann ist das OK. Ob man damit seine Marke als „Portal“ gegen die Konkurrenz behauptet kann, ist allerdings zweifelhaft)

Diese Idee von sohu.com ist sogar noch schlechter als der Trend, in Deutschland die Inhalte zu immer größeren Teilen ungeprüft von Nachrichtenagenturen zu übernehmen. Der Journalist muss in Zeiten, in denen die Medienproduktionsmittel ohnenhin in den Händen des Volkes sind, eine ganz andere Rolle einnehmen als früher. Als der Buchdruck erfunden wurde, hat der Kantor seine Predigerrolle eingebuesst – zu Recht. Und heute, wo der Zugang zur Produktion und Rezeption von Medien auf der ganzen Welt frei ist/sein wird, sind die Ansprüche an den Informationsgehalt von Nachrichten deutlich gestiegen. Diese Ansprüche müssen erfüllt werden, weil der Journalismus sich sonst auf lange Sicht womöglich selbst abschafft. Der Kapitän im Meer der Informationen ist gefragt. Und das mehr denn je. Für alles andere werden die Leute in einigen Jahren wahrscheinlich kein Geld mehr aus geben.