#3 Schönes neues China: Kein Artenschutz für Hasenväter

 

Unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Da sind wir nicht so streng. Es ist doch auch wichtig, dass einem der Job Spaß macht. Er kann es sich also selbst aussuchen. Zahnarzt oder Rechtsanwalt. Und er hat auch noch ein bisschen Zeit. Er ist zwei. Sein kleiner Bruder hat leider nicht mehr so viel Freiheit. Wenn der Große Zahnarzt werden möchte, und im Moment sieht es so aus, dann wird der Kleine Rechtsanwalt. Als Familie sind wir sonst etwas zu einseitig ausgerichtet.

Das Ganze war ein Kompromiss. Die Eltern von Ehefrau sind da nicht so tolerant. Den Beruf selbst wählen? Nein, soetwas wissen die Eltern doch viel besser. Die berufliche Laufbahn liegt sicher und sanft in den sorgenden Händen der Familie. Und wenn man die lieben Kleinen auf einen steinigen Karriereweg schickt, sollte man nicht kurz vor dem Bewerbungsgespräch anfangen. Das Rennen wird am Anfang verloren, sagt man in China und so wird also von Beginn an trainiert, geschult, geschunden, gelehrt und geschlagen. Aber immer im Sinne der Kinder. Sie werden es einem danken. Eines Tages, wenn Sie einen guten Job haben, ihre düstere Kindheit vorüber und die Narben verheilt sind, dann werden sie froh sein, dass wir unnachgiebig mit ihnen waren. Dass man für die Familie, das ganze Land und natürlich auch für die Kinderchen selbst das meiste aus ihnen herausgeholt hat. Und ach, was werden mit dieser Methode für Fortschritte erzielt. Fortschritte, von denen die Kuscheltierpädagogen des Westens nur träumen können.

Vor inzwischen fast zehn Jahren, da ging ein Raunen durch die deutschen Lande. Hast du es schon vernommen? Hast du es schon gehört? Es ist unglaublich! Die Chinesen! Ja, in Shanghai, da haben sie mitgemacht beim amtlich zertifizierten Bildungsarmdrücken der Weltjugend, auch bekannt als PISA. Und bei dieser weltumspannenden Schul-Spartakiade hat nun die chinesische Volksrepublik, vertreten durch eine Mannschaft aus kurzsichtigen und humorlosen Lernautomaten gleich auf Anhieb den ersten Platz gemacht. Weltspitze in den Disziplinen Lesen, Rechnen, fleißig sein. Die Chinesen! Nein, doch, oh! Wer hätte das gedacht.

Und es ist ja wirklich auch der Wahnsinn. Was der Chinese nicht alles lernen kann, wenn, und das bleibt zu beachten, ja wenn er denn nur früh genug damit anfängt. Was Xiao Wang nicht gelernt hat, das wird Lao Wang erst recht nicht lernen, auch wenn man es in seinen Schädel kloppt. Nein, dann ist es zu spät und das Leben verhunzt. Das kann passieren, muss aber nicht, wenn man, wie schon gesagt, einfach ganz früh anfängt. Und mit früh meine ich hier nicht den Kindergarten oder die Vorschule. Denn dort gibt es in China bereits die ersten Prüfungen.

Bildungbiografien beginnen in China deutlich vor der Geburt. Tai Jiao ist das Stichwort. Das klingt ein bisschen wie Tai Qi, ist aber kein Schattenboxen. Tai Jiao bedeutet „Embryoerziehung“ und es ist genau das. Vorgeburtliche Erziehung. Mozart am Schwangerschaftsbauch. Es sollen schon Gedichte rezitierende Ehemänner am Bauch der Gattin gesichtet worden sein, Bauchnabel als Mikrophon. Wichtig ist auch, dass die werdende Mutter sich während der Schwangerschaft ausreichend geistig betätigt, denn auf diese Weise lernt das Kind gleich mit.

Früh übt sich, wer eine Tigermutter sein will. Apropos Tiger: Der Text von Bruder Jakob geht auf Chinesisch so: „Zwei Tiger, zwei Tiger, laufen schnell, laufen schnell. Einer ohne Ohren, einer ohne Schweif. Sehr seltsam. Sehr seltsam.“ Daran musste ich manchmal denken, als ich das Buch von Amy Chua gelesen habe. Auf Deutsch heißt es „Die Mutter des Erfolgs“, im Original trägt es den schönen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mom“. Ich musste beim Lesen an dieses Kinderlied mit den zerzausten Tigern denken, weil vieles in dem Buch auch sehr seltsam ist. Hinzu kommt, dass die arme Autorin von bösen Gutmenschen-Westeltern immer wieder ganz schön hart rangenommen und arg zugerichtet wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.

Die Grundthese des Buches geht in etwa so: Wenn sich deine Kinder fragen, ob das jetzt ein Bootcamp ist, oder das eigene Zuhause, dann läufts mit der Erziehung. Westliche Eltern sorgen sich um die Psyche der Kinder. Chinesische Eltern nicht. Sie setzen Stärke voraus. Keine Schwäche. Chinesen verlangen erstklassige Noten in allen Fächern, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Ist ein Kind nicht spitzenklasse, gehen sie davon aus, dass es sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen und zu beschädigen. Das steht da so in diesem Buch!

In dem Buch sitzt Amy Chua einmal mit unchinesisch sozialisierten Hasenmüttern gesellig zusammen. Ganz beiläufig erzählt die heroische Tigermutter, dass sie ihre Tochter hin und wieder als „menschlichen Müll“ bezeichnet, wenn ihren Ansprüchen an angemessene Menschendressur nicht genüge getan wird. Und da empören sich die kuschelpädagogisch verhätschelten Westmütter derart. Eine dieser verweichlichten Psycho-Mamas verlässt sogar die Tupperparty. Um Himmels Willen! Aber warum wollen sie denn nicht verstehen, dass Amy Chua selbst, gequält und gedemütigt von ihren eigenen Eltern es ohne Tortur niemals geschafft hätte, jene anerkennungsgeile, inzwischen sogar weltweit bekannte Erfolgsfetischistin zu werden, die sie ist. Auch sie hat all das doch nur erreichen können durch die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche, ihrer Individualität und Persönlichkeit. Und dass das nichts als wohlstandsverwarloster Firlefanz ist, weiß doch jeder. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach Schulnoten, Klavierpokalen und der Färbung der Abdrücke am Geigenhals. Und das ist doch alles nur der Anfang.

In einigen chinesichen Schulen gibt es jetzt Gesichtserkennungssoftware, die die Ausdruck auf Aufmerksamkeit analysiert. Da lässt sich in Sachen Kinderdressur noch einiges optimieren im schönen neuen China. Von nichts kommt nichts. Wenn man Fußballprofi werden will, dann muss man doch auch die Schindereien eines Felix Magath ertragen. Und wenn man ein gutes, angepasstes, auf Unterordnung gedrilltes Mädchen werden möchte – und wer um Himmels willen möchte das nicht – der wird es, wenn nicht jetzt, doch ganz bestimmt im Nachhinein einsehen, dass die Mutter zur Furie werden musste.

Aber unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Der zweite hat es da nicht ganz so leicht.

#2 Schönes neues China: Die Geburt der Deunesen

 

Wir haben jetzt zwei Söhne. Zwei deunesische Stammhalter. Zwei kleine Kaiser. In China ist das gerade in den großen Städten immer noch sehr selten. Denn obwohl die Ein-Kind-Politik im Jahre 2015 vollständig beendet wurde, bekommen Großstadtchinesen selten mehr als ein Kind. Zu teuer.

Unser erster Sohn ist in Berlin geboren. Der zweite in Beijing. Einiges war bei beiden Geburten gleich. Einiges ist ja immer gleich. So hat sich Dingding bei beiden Schwangerschaften immer plötzlich übergeben. Im Auto oder auch in die Einkaufstüten. Ihr wurde auch immer wieder ganz „windelig“, wie sie es nannte.

Einiges war aber auch ganz anders. Für die erste Geburt in Berlin war Schwiegermutter Laoma eigens aus China angereist, als Yuesao: Wochenbettlerin. Hebammen gibt es in China nicht wirklich. Dafür ist aber die Nachsorge um so sorgenvoller.

Es ist soweit. Wir sind im Martin-Luther-Krankenhaus und Laomao sitzt neben mir. Sie sagt, dass es doch viel besser wäre, wenn Ehefrau ihr Kind in China bekommen würde. Bei Problemen könnte man die Verwandten fragen. Die würden schon wissen, was zu tun ist. Ich sage nichts, weil ich der Meinung bin, dass die Verwandten von Ehefrau regelmäßig Hokuspokus mit Medizin verwechseln. Stattdessen zeige ich Laoma das CTG, an das Ehefrau angeschlossen ist und das etwas ganz Wichtiges misst. „Hier, diese Zahl, die zeigt an, wie hoch das CGT ist“, erkläre ich und tippe an den Apparat, bei dem sofort ein rotes Warnlicht aufleuchtet. Daraufhin stürmt eine Ärztin herein, schimpft mit mir und geht wieder. Kurz darauf ist sie wieder da. Dingding hatte einen Blasensprung. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragt Laoma Chinesisch. „Ach“, sagt die Ärztin mit Berliner Dialekt „Ick mach hier jetzt erst mal det CTG zu Ende und denn gucken wa. Ick hör hier erst uf, wenn jemand davonschwimmt.“ „Was hat die Ärztin denn denn gesagt?“, fragt Laoma. Ich übersetze die Diagnose und aber meine Schwiegermutter versteht sie nicht. Berliner Humor lässt sich schwer ins Chinesische übersetzen. Ohnehin ist eine Geburt in einem deutschen Krankenhaus für Chinesen eine Herausforderung.

Als wir den Kreissaal zum ersten Mal besichtigten, ist Ehefrau überrascht. Es gibt einen Gymnastikball, eine Badewanne und eine Sprossenwand. „Man kann det och in Bett tun“, sagt die Schwester. „Det muss aber nicht.“ „Das ist ja wie im Puff in Dongguan“ sagt Ehefrau auf Chinesisch und als die Ärztin fragt, was sie gesagt habe, antworte ich. „Sie findet es sehr schön.“ Denn auch Tianjiner Humor ist schlecht zu übersetzen.

Dingding und ich waren vorher bei einem Schwangerschaftsvorbereitungskurs. Zusammen. Beide. Eine Tatsache, die bei meinen chinesischen Verwandten große Verwunderung auslöste. Chinesische Männer beschäftigen sich mit einer Geburt normalerweise eher indirekt. Und Schwangerschaftsvorbereitung besteht in China vor allem darin, der Frau orakelnde Ernährungstipps zu geben. Es wird zum wichtigsten Thema überhaupt, welche Tier- und Pflanzenarten aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt herangeschafft werden könnten. Großtanten sind sich ganz sicher, dass dieses oder jenes getrocknete Kraut oder Tier sich ausgesprochen positiv auf die Schwangerschaft auswirkt. Ich habe zwei Wochen vor der Geburt auf einem russischen Fischmarkt in Berlin nach einer Art Forelle mit vier Bauchflossen gesucht. Dass Dingding auch auf Ratschläge von geschulten Ärzten hörte, löste bei der chinesischen Verwanschaft Unverständnis aus. Und dass ein Mann, um Gottes Willen ein Mann, bei der Geburt dabei sein möchte und deswegen fachliches Vorwissen erwirbt, das ist äußerst ungewöhnlich.

Dabei war er sehr hilfreich, unser deutscher Hechelkurs. Auch wenn, wie die Hebamme uns aufklärte, da heutzutage gar nicht mehr gehechelt wird. Es sei denn man kommt zu spät und ist ganz außer Atem. Aber wir haben in dem Kurs ganz andere Sachen gelernt. Über den menschlichen Körper und das Leben im Allgemeinen. So eine Geburt hat etwas sehr Dramatisches. All die Schmerzen. Es geht um Leben und Tod. Fast so wie in der zweiten Staffel von Breaking Bad oder in der ersten von Game of Thrones.

Deutsche Hebammen sind im Allgemeinen recht verspielt in der Sprache. „Sternengucker“ nennen sie die Kinder, die mit dem Gesicht nach oben geboren werden. Eine „Glückshaube“ ist eine nicht geplatzte Fruchtblase. Unsere Hebamme Linda hatte ein Talent, die Dinge auf den Punkt zu bringen. „Jede Frau hat einen Topf voller Wehen“, sagte sie. „Darum sollte man sich immer freuen, wenn eine kommt. Wenn der Topf leer ist, hat man es geschafft. Mehr kommen dann nämlich nicht.“ „Wehen sind keine Einzelgänger“, sagte sie auch. „Sie kommen im Rudel.“ Und: „Die Atmung der Frau ist wie ein Treppengeländer, an dem man sich festhält.“ Ganz wichtig war Linda auch das Vertonen der Wehen, also der konstruktive Umgang mit dem Geschrei der werdenden Mutter. „Vertonen, das ist ganz wichtig“, sagte sie. „Wehen muss man besonders am Ende immer vertonen. Aber ausschließlich mit Vokalen. Nie mit Konsonanten. Das stört bloß.“

Chinesische Frauen, so hat es mir Dingding erklärt und vorgemacht, vertonen die Wehen traditionell auch. Aber statt Vokale zu benutzen, beschimpfen bei den vor der Tür wartenden Ehemann. „Du bist an allem Schuld. Verdammter Mistbock. Alles nur wegen Dir. Ich hasse Dich.“ So klingen die vertonten Wehen im Reich der Mitte.

Eine thematische Vorbereitung auf eine Geburt findet in China normalerweise nicht statt. Das überlässt man den Ärzten und die wiederum nehmen da im Zweifelsfall dann auch lieber das Skalpell, als der Frau beim Vertonen der Wehen zuzuhören. China hat neben Brasilien die weltweit höchste Rate an Kaiserschnitten. Annähernd jedes zweite Kind kommt so auf die Welt.

Unser zweiter Sohn hat dann in einem Privatkrankenhaus in Peking das Licht der Welt erblickt. Auch wenn ich in meinen acht China-Jahren die meiste Zeit privat versichert war, bin fast nur in die gewöhnlichen Krankenhäuser gegangen. Wenn einem nichts Ernstes fehlt, ist es auch ganz lustig dort. Denn weil es in China keine niedergelassenen Ärzte gibt, geht man auch mit einer Erkältung dorthin. Im Winter sind die Gänge unbeheizt und die Menschen laufen in dicken Jacken über die Flure. Auf den Wartebänken sitzen Patienten mit Infusionschläuchen in den Armen. Denn in China bekommen eigentlich bei jeder Krankheit zuerst einmal eine Infusion. Und wenn man eine schwerere Krankheit hat, gibt man dem Arzt auf jeden Fall umgehend einen roten Umschlag mit einer ausreichend hohen Bargeldsumme. Denn sollte man das nicht machen, kann man kaum damit rechnen, dass sich jemand die Mühe einer fachgerechten Behandlung macht. Geburten finden in diesen Krankhäusern in gemeinschaftlichen Kreissälen statt und sein Essen muss man selbst mitbringen.

Für die Ankunft unseres zweiten Kindes sollte es dann aber ein Privatkrankenhaus sein: Family United. Und das war dann auch ganz schick und sauber mit eigenem Zimmer und Essen. Ungewöhnlich war nur, dass man die Geburt als Paket kaufen konnte. In China gibt es keinen Frisör, keinen Kinderspielplatz, keinen Fußmassagesalon und kein Café, in dem einem nicht die einfache, gehobene oder VIP-Mitgliedschaft nahegelegt wird. Natürlich immer verbunden mit kostenlosen Extras, Rabattaktionen und Vorzugsbehandlungen. Dass wir uns nun aber auch bei der Geburt zwischen Standard, Premium und Luxus entscheiden mussten, irritierte mich etwas. Konseqent und durchdacht fand ich allerdings die Preisgestaltung. Bei Zwillingsgeburten wurde für das zweite Kind nur die Hälfte berechnet, erklärte uns der Sales-Berater von Family United. Auch für jedes weitere Mehrlingskind galt die Aktion. Dingding und ich berieten uns kurz – das war ja wirklich ein gutes Angebot – entschieden uns dann aber in Ermangelung eines weiteren zu gebährenden Kindes für das Standard-Paket einfacher Ausführung.

#1 Schönes neues China: Ehefrau schlägt Auto

 

Ehefrau schlägt Auto und ich stehe dumm in der Gegend herum. So wie ich, seit wir wieder in China sind, sehr häufig dumm in der Gegend herumstehe. Ehefrau heißt ja eigentlich Ding, also im Doppeldiminuitiv dann Dingding. Aber seit wir verheiratet sind, ist mir das ziemlich egal. Wie sie heißt, meine ich. Denn wir sind verheiratet und nennen uns nicht mehr beim Namen. Meine Frau hat angefangen. Erst hat sie mich konsequent nur noch „Laogong“ also „Ehemann“ genannt und seit dem ersten Kind dann nur noch „Baba“. Wenn sie jetzt über mich spricht, dann sagt sie nur noch „Aiwen ta Ba“, also „Vater des Aiwen“, abgeleitet vom Namen unseres Erstgeborenen. Das ist in China vollkommen normal. Ich habe mir aber trotzdem mehrfach meinen ursprünglichen Eigenamen zurückgewünscht. Erfolglos. Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als mich den alltagskonfuzianistischen Kosekonventionen anzupassen. Ehefrau wird schon sehen, was sie davon hat.

Ein weißer Tiguan rollt auf uns zu. Ehefrau hat ihn mit ihrem Smartphone und Didi gerufen oder „herbeigeschlagen“, wie sie es auf Chinesisch so schön sagt. Früher, da schlug man sich in Peking ein Taxi. Da war das Schlagen von Autos noch echte Handarbeit. Mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, stoppte man einen der zahlreichen grüngelben Wägelchen. Dann musste man nur noch andere potenzielle Fahrgäste, die auf ein Taxi warteten, anschreien oder sich mit ihnen prügeln und schon saß man bequem im wohlig nach Knoblauch und Schweiß riechenden Hyundai. Wenn der Fahrer nicht wusste, wo der Ort liegt, an den man reisen wollte, hat er einfach einen Cousin dritten Grades angerufen und nach dem Weg gefragt. Diese Zeiten sind vorbei, in jedem Fall dann, wenn man Ehemann von Ehefrau ist.

Denn jetzt, jetzt gibt es Didi. Nein, nicht Didi Hallervorden, aber mindestens genau so bekloppt. Didi ist eine App, mit der private Kleinstunternehmer digital zu einer Beförderungsfahrt gerufen werden können. Ursprünglich hat sich das System jemand in Amerika ausgedacht und „Ueber“ genannt. Weil aber die Kommunistische Partei Chinas Unternehmen wie Ueber für digitalimperialistisches Teufelszeug hält, hat man ihnen den Marktzugang verwehrt. Deshalb floriert in Peking, Shanghai und all den anderen schönen Megacities jetzt nur noch Didi. Also quasi: Didi, der Doppelgänger. Von Ueber, jetzt…

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sage ich. „Heute ist kein Feiertag, es regnet nicht und es ist Mittagszeit. Zur Mittagszeit pflegt der Chinese pünklich zu essen. Da fährt er nicht mit dem Taxi“, erkläre ich. „Ja, aber eben auch kein Taxifahrer fährt mit dem Taxi“, erwidert meine Ehefrau. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich will mich überhaupt niemals streiten. Und so stehe ich dann eben dumm in der Gegend herum, während ein leeres Taxi nach dem anderen an uns vorüberfährt, bis dann viel später eben jener weiße Wagen in unsere Straße einbiegt.

Der fabrikneue VW Tiguan rollt langsam auf uns zu. Wir befinden uns zwischen dem Diplomatic Compound und dieser Mall, in der ein Schwimmbad, einen Fat-Burger, einige Beauty-Solons, einen Maßschneider und unseren Familienarzt Dr. Diedrich gibt. Es sind nur einige hundert Meter zwischen der Straßenecke und unserem Standort vor der Mall, aber schon auf dieser kurzen Strecke hat sich hinter dem Wagen ein Stau gebildet. Am Steuer des Autos sitzt eine Dame mittleren bis gehobenen Alters, die uns verstörend unsicher anlächelt und zuwinkt. Sie ist dann auch sichtlich erleichtert, als sie feststellt, dass wir ihre Fahrgäste sind, zu denen ihr Navigationssystem sie geleiten sollte. „Gefunden, geglückt, alles wird gut“, spricht es aus ihrem Gesicht mit einem Strahlen, das unverzüglich wieder verschwindet, als Ehefrau ihr gestikulierend deutet, dass sie doch bitte eine Kehrtwende, machen möge, um auf unsere Seite zu gelangen: einen U-Turn, wie es Neudeutsch so schön heißt. „Wenden?“ „Ich?“ „Mit diesem Ungetüm?“ „Das ist nicht Euer Ernst!“ spricht ihr erschrockenes Gesicht nun ganze Horror-Bände. Weil wir aber mit dem Kinderwagen und dem Schwangerschaftsbauch, den Ehefrau seit einigen Monaten stets mit sich durch die Gegend trägt, nicht mitten auf der Straße in einen weißen Tiguan einsteigen können, legt unsere Didi-Chaufferin aufgeregt und krachend einen, ich vermute den dritten Gang ein. Zeitlupisch bewegt sich der Wagen dann in wenigen Quantensprüngen pro Minute vorwärts und die Fahrerin vollführt offensichtlich das erste Wendemanöver ihres Lebens. Die Leute in den Autos dahinter sind inzwischen wütend ausgestiegen. Aber als sie die Hilflosigkeit der alten Dame bemerken, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als der Frau einweisend über die Straße zu helfen. Auch in der anderen Fahrtrichtung staut sich jetzt der Verkehr. Und dann doch. Die gemeinsamen Anstrengungen haben Erfolg: Wenden in vierundsechzig Zügen. Es ist vollbracht und kurz darauf setzt der Tiguan den Blinker und legt am Bordstein vor der Mall am.

„Taiyanggong?, fragt sie ängstlich, denn das ist die Adresse, die Didi ihr angezeigt hat. Unser Zuhause. Der Ort, an den es uns zieht, bepackt mit Einkaufstüten und Kindern in Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen. „Taxi!“, rufe ich verzweifelt. „Taxi! Taxi! Taxi!“ Ein freies Taxi hält hinter dem Tiguan, aber Ehefrau sagt, ich solle das doch bitte lassen. Ich solle kein Taxi schlagen, sonst schlüge sie vielleich doch noch mich, denn jetzt sei er ja da, unser digital bestellter Chauffeurservice. So bewege man sich eben als moderner Großsstadtchinese in der schönen neuen Welt. „Luohou“ sei ich, sagt sie „zurückgeblieben“, „rückständig“ „abgehängt“. Ich sah wärhenddessen dem davonfahrenden Taxi hinterher und verfrachtete unseren Erstgeborenen, unseren bald auch noch Zweitgeboreren samt Mutter und auch den Kinderwagen in den Tiguan und setzte mich neben die rüstige Fahranfängerin auf den Beifahrersitz. Die gute Frau nahm mich jedoch kaum wahr, hatte sie doch das On-Board-Navi und das Handy-Navi gleichzeitig eingeschaltet. Umgehen konnte sie mit keinem der beiden. Ehefrau und ich wiesen ihr den Weg. Am Autobahnkreuz Sanyuanqiao ordnete sie sich trotzdem falsch ein. Und wir fuhren eine Weile auf dem Highway Richtung Flughafen, wenden unmöglich.

An dieser Stelle muss ich aus dem autobiographischen Modus in den fiktionalen wechseln, weil ich keinen in China gültigen Führerschein besitze, es mir darum untersagt ist, hier Auto zu fahren und ich natürlich niemals das Gesetz brechen würde. Mein fiktionales Ich, mit der schwangeren Ehefrau, dem schlafenden Erstgeborenen, der rüstigen aber verzweifelte Dame im Tiguan ihres Neffen auf dem Weg zum Flughafen, bittet also die Fahrerin rechts ranzufahren und anzuhalten. Mein Erzähl-Ich übernimmt kurzerhand von der erleichterten Didi-Novizin das Steuer und fährt die Familie nach Hause. Dort angekommen, bietet das Ich dann der Fahrerin an, sie nach Hause ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ein Angebot, dass sie ohne zu Zögern annimmt. Von dort aus übernimmt dann wieder das biografische Ich. Und eben dieses Ich stoppt mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, eines der zahlreichen vorbeifahrenden Taxis um im trauten Heim auf dem Handy der Eefrau die Didi-Rechnung des heutigen Tages bestaunen zu dürfen.

Wir alle sind nur die Kopie eines längst gelöschten Originals

Man könnte mir vorwerfen, dass der Untertitel „Gebrauchsanweisung für den erfolgreichen Kulturschock“ nicht besonders originell ist. Man könnte sogar sagen, dass er geklaut ist. Das ist etwas drastisch formuliert, aber vollkommen korrekt. Es ist geklaut und das ist auch gut so. Denn ich berufe damit auf die chinesische Shanzhai-Kultur, in der Nachahmung zur Kunstform wird und deren Protagonisten die Konzepte „Originalität“ und „Echtheit“ für belangloses Beiwerk ihrer Arbeit halten. Shanzhai, das ist auch der Gedanke, dass sich geistiges Eigentum so wenig einzäunen lässt wie wilde Pferde. Aber das ist nicht der einzige Grund für mein hier vorgetragenes Loblied auf die Kopie. Wenn man wissen möchte, welche Auswirkungen der Originalitätszwang und die Tabuisierung der Kopie zum Beispiel auf die westliche Pop-Kultur hat, dann empfehle ich einen Blick in den Kleiderschrank von Lady Gaga. Da wird dann vielleicht mancher ausrufen: „Oh, ein Fleischkleid, das ist ja mal was anderes. Sehr originell und kreativ.“ Und falsch ist das nicht, denn ein Fleischkleid gab er vor Lady Gaga noch nicht.

 

Innovation und Kreativität stehen in der westlichen Kultur derzeit im Allgemeinen sehr hoch im Kurs. Die Kopie wird hingegen verachtet. Sie erscheint uns wertlos. Aber ist nicht die Kopie, die Nachahmung des Guten und des Erfolgreichen der Kern einer jeden kulturellen Veränderung? Picasso sagte: „Gute Künstler kopieren, großartige Künstler klauen.“ Und Goethe. Als der seinen Faust schrieb, da war diese Geschichte über den zum Okkulten neigenden Wissenschaftler längst ein alter Hut. Ein sogenanntes Volksbuch von Johann Spies war schon im sechzehnten Jahrhundert ein großer Erfolg. Dieses Buch war so beliebt, dass es davon eine ganze Reihe von nicht-autorisierten Nachdrucke gab. Heute würde man wohl Raubkopien dazu sagen.

Und Goethe selbst, war der jetzt ein Raubkopierer? Im Grunde schon. Denn Goethes Faust war nicht einmal das erste Theaterstück zu diesem Stoff. Das schrieb der Engländer Christopher Marlowe etwas mehr als zweihundert Jahre zuvor. Goethe, der Inbegriff des deutschen Ur-Genies, sozusagen der Ur-Urheber, war noch nicht einmal der Erste, dem Ganzen im Kontext der Aufklärung eine neue Bedeutung verlieh. Das was Lessing.

Goethes Faust ist also in erster Linie eine Adaption, eine Kopie, ein Mash-Up. Ein weiteres Beispiel ist der Buchdruck. Die Rechte an dem Gerät, das maschinelles Kopieren von Texten überhaupt erst ermöglicht hat, würden heute vielleicht vor einem Patent-Gericht verhandelt werden. Denn als damals Johannes Gutenberg das Drucksystem entwickelte, waren bereits über vierhundert Jahre vergangen, seit der Chinese Bi Sheng bewegliche Letter erfand. Und so ist es bei den meisten genialen Schöpfungen der Menschheitsgeschichte. Sie sind Adaptionen, Kopien, Mash-Ups – bis heute. Das erste soziale Netzwerk der Welt hieß nicht Facebook. Es trug den schönen Namen 5460 und wurde in China programmiert. Und auch die erste Video-Plattform war nicht YouTube.

Seit ich meine Ansichten über China, Deutschland und die Welt, zu Papier, oder vielleicht besser gesagt, zu Pixel bringe, mache ich mir auch Gedanken darüber, in welcher Form. Ich könnte ja vielleicht ein Buch schreiben, um damit mein Taschengeld ein wenig aufzubessern. Ein wenig gegrillter Hund, Konkubinen, kleine Kaiser und Panikmache vor der kommunistischen Weltherrschaft – und fertig ist der deutsche China-Bestseller.

Aber gedruckte Bücher, diese Lieblingsdekorationen deutscher Wohnzimmer, haben einen großen Nachteil. Das Kopieren ist aufwändig und teuer. Und noch etwas ist mir dann eingefallen: Warum sollte ich für Geld schreiben? Ich habe doch so viel China-Kompetenz und da gibt es derzeit viel bessere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als mit dem Schreiben von Büchern: Ich könnte zu Beispiel mit Plastikschrott handeln. Oder ich könnte Autofirmen helfen, noch mehr Fabriken zu bauen, in denen benzinfressende Luxuskarossen für die Zweitfrauen von korrupten Beamte produziert werden und die Arbeiter zum Hungerlohn für die Yachten der Aktionäre schuften. Es gibt es doch noch so viel zu tun für China-Kenneren? Warum sollte man da überhaupt jemand Bücher schreiben? Das lohnt sich doch kaum noch.

Es wäre aber schon schön, wenn das hier jemand liest oder hört. Ich geb mir ja Mühe. Ich wollte daher zunächst wissen, welche Aspekte die Deutschen beim Thema China besonders interessieren. Und ich hätte fast McKinsey angeheuert, das Potenzial zu evaluieren. Das war mir aber doch zu teuer. Deswegen habe ich dann einfach bei Amazon nachgesehen, welche Bücher besonders oft gekauft werden.

Relativ schnell hat sich herausgestellt, dass die Deutschen besonders gerne Ratgeber und „Gebrauchsanweisungen“ kaufen – für die schnelle Orientierung im richtigen Umgang mit der neuen Supermacht. Außerdem ist mir aufgefallen, dass die Worte „Schock“, und „erfolgreich“ bei fast jedem zweiten Buch auftauchen.

Das, was die Deutschen über China wissen wollen, findet also hauptsächlich im semantischen Feld dieser drei Worte statt. Zunächst einmal ist da der Schock: „Hilfe, die Chinesen erobern den Planeten. Und die sind ja so anders. Ahh. Hilfe.“ Dann kauft man sich ein Buch von einem Chinakenneren, einen Ratgeber, eine Gebrauchsanweisung, in der die Dinge stehen, die man wissen muss, um mit dem Problem angemessen umzugehen. Und am Ende steht dann der „Erfolg“ und alles ist wieder gut.

Diese Methode erinnert an das Buch „Den Himmel gibt’s echt“. Das ist ein Buch über die Nahtoderfahrung eines Vierjährigen und in einer Rezension hieß es, es könne „Eltern und vor allem Kindern helfen, besser mit dem schwierigen Thema Tod umzugehen.“ Das klingt, als wäre der Tod therapierbar, oder als ob er mit der richtigen Gebrauchsanleitung zum Kinderspiel wird. So in der Richtung: „Sterben für Dummys – Alles was sie wissen müssen“. Und so ist es offenbar auch beim Thema China. Viele Leute glauben, dass China sich schon irgendwie zurecht-erklären und in ein eindimensionales und manchmal auch dekadentes Weltbild integrieren lässt. Einige Menschen haben die Hoffnung, dass die Globalisierung nach dem McDonalds-Prinzip funktioniert und für uns im Westen im Grunde alles beim Alten bleibt. So wird es aber wahrscheinlich nicht kommen. Denn die Chinesen kopieren vor allem unsere intellektuelle Open-Source-Software und viele dieser Kopien übertreffen schon heute das Original.

Wenn in China ein Geschäft eröffnet wird und erfolgreich ist, dann dauert es meist nur wenige Monate, bis direkt daneben ein Laden aufmacht, der den Erfolg bis ins Detail kopiert, und nicht nur einer. Ich kenne in Peking ganze Straßen, die bestehen nur noch aus Geschäften für Musikinstrumente oder Schreibutensilien oder sonst etwas. Und keiner stört sich daran.

Im Internet gibt es keine Straßen. Da gibt es Suchmaschinen und da muss man sich seine Nachbarschaft nach Wortverwandtschaften aussuchen, um gefunden zu werden. Wenn ich mich also begrifflich mit einigen fremden Federn schmücke, dann aber nur mit denen, die ich auf der Straße gefunden habe und denen, die man ohnehin nicht weiter verfolgen kann, als bis in ein digitales Creative-Commons-Universum, in dem wir alle nicht mehr und nicht weniger sind, als die fehlerhafte Kopie eines längst gelöschten Originals.

Der Mensch ist keine Billardkugel – Kants Begriff der Freiheit in den Worten von Michael Sandel

<Sven Hänke>
In dieser Vorlesung erklärt Michael Sandel, warum wir eine kategoriale Verpflichtung haben, die Würde unserer Mitmenschen zu achten und nicht als Mittel zum Zweck ansehen dürfen. Kant geht es um die Prinzipien der Moral und die Grundlagen der Freiheit. Wie ist Freiheit überhaupt möglich?

Für Kant sind alle Menschen Personen. Sie haben somit Würde. Menschen sind rationale Wesen, die zur Vernunft fähig sind – autonome Wesen, die eigenständig entscheiden können.

Ein wichtiger Begriff, der in der chinesischen Kultur sicher eine deutlich geringere Rolle spielt als im westlichen Denken, ist der Begriff der Freiheit: Wirkliche Freiheit ist ein hohes Gut und allein dem Menschen vorbehalten. Wenn wir wie Tiere nur nach der Befriedigung unserer Triebe und zur Vermeidung von Schmerzen handeln, dann handeln wir nicht frei, sondern nach den Bedürfnissen der Natur. Freiheit ist in diesem Sinne immer autonomes Handeln – das Handeln nach den Regeln, die ich mir selbst gebe. Diese von reinen kausalen Zusammenhängen befreite Möglichkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, unterscheidet den Menschen von Dingen wie z.B. Billardkugeln.

Moral definiert sich daher auch nicht nach den Konsequenzen des Handelns, sondern nach den zu Grunde liegenden Motiven. Nach Kant geschehen moralische Handlungen nicht aus Eigeninteresse, sondern sind immer moralisch in sich selbst. Aber woher wissen wir denn, was moralisch ist? Kant verweist bei dieser Frage unter anderem auf den kategorischen Imperativ. Der dient aber nur als Hilfsmittel, denn die Prinzipien der Moral sind in jedem Menschen vorhanden: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Weiter unten noch ein Youtube-Video, in dem versucht wird, Kants Prizipien an der Praxis zu überprüfen. Der Fall in diesem Beitrag ist aus der jüngeren deutschen Geschichte – die Entführung und Ermordung des Jungen Jakob Metzler. Dabei geht es um die Frage, ob Folter moralisch gerechtfertigt werden kann, wenn dadurch größeres Unheil verhindert wird. Die Antwort der deutschen Gerichte war eindeutig: Nein. Auch wenn das Resultat der Tod eines Unschuldigen ist, darf Folter nicht juristisch legitimisiert werden. In den USA sieht die Diskussion deutlich anders aus. Sicher hat Kant nicht geahnt, dass eines Tages ein US-amerikanischer Präsident glaubt, staatlich legitimisierte Folter rechtfertigen zu müssen und in seinen Memoiren behauptet, eine Foltermethode wie das sog. „Waterboarding“ wäre „damn right“. Er hätte den Menschen in dem Land, das so stolz auf seine freiheitliche Grundordnung ist, sicher zugerufen, dass ihr Freiheitsbegriff aber sowas von „damn wrong“ ist, wenn sie nicht erkennen, dass physische und auch psychische Folter bedingungslos abzulehnen ist.

Ich bin übrigens der Meinung, dass damals sowohl der verantwortliche Komissar Daschner als auch das Gericht richtig entschieden hat. Daschners Folterandrohung war ungesetzlich und muss bestraft werden. Die Würde des Menschen – auch eines widerlichen Mörders – ist unantastbar. Das heißt für mich jedoch nicht unbedingt, dass er nicht, auf der Grundlage der moralischen Gesetze in ihm, zu einem Ergebnis kommen kann, das ihn zwingt, in sehr eingeschränktem Maße unmoralisch zu handeln (Folterandrohung ist etwas anderes als Folter) und anschließend die entsprechenden Konsequenzen auf sich zu nehmen.

 

Alle zwölf Vorlesungen zum Thema Gerechtigkeit von Michael Sanders finden sich hier:

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Nachtrag: Könnte es sein, dass ich mit meiner Zustimmung zu Daschners Verhalten nicht genau das mache, was Bush getan hat? Ist es psychische Folter, wenn ich jemandem androhe, dass er „unerträgliche Schmerzen erleiden wird“, wenn er nicht kooperiert? Ach ja, das „Ticking Time Bomb Scenario„, das immer wieder auch in US-Fernsehserien wie „24“ oder „Lost“ zur Rechtfertigung von drastischen Maßnahmen herangezogen wird.

Rezension: Die Gewinner der Krise – Was der Westen von China lernen kann

Vor einigen Jahren hat einer meiner deutschen Kollegen in China einen Vortrag gehalten, in dem er auch auf die Gründe eingegangen ist, die seiner Meinung nach für den wirtschafltichen Aufstieg Chinas verantwortlich sind. Er vertrat die These, dass die rasanten Veränderungen vor allem auf drei Faktoren zurückzuführen sind. Was für Kishore Mahbubani die „Sieben Säulen der westlichen Weisheit“ sind und für Niall Ferguson die „Sechs Killer-Applications“, waren für ihn die„ Drei Ausbeutungen“. Mein Kollege vertrat in seinem Vortrag die Meinung, dass die auf den ersten Blick positive Entwicklung in China fast ausschließlich auf die Ausbeutung von Mensch, Rohstoffen und Umwelt zurückzuführen ist.

Der Vortrag meines Kollegen war vor allem polemisch gemeint und sollte zum Nachdenken anregen. Wenn man jedoch die Allgegenwart der prekären Lebens- und Arbeitsbedingungen, die miserablen Umweltbedingungen und den Raubbau an den natürlichen Ressourcen ansieht, dann kann man den Einfluss ausbeuterischer Zustände auf das moderne China nicht von der Hand weisen. Aber ist das schon die ganze Geschichte? Sicher nicht.

Vereinfachungen sind in jeder Theorie notwendig, um die Komplexität der Welt zumindest einigermaßen zu bändigen. Doch bei dem Versuch, die rasanten gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Vorgänge in China zu beschreiben, laufen Beobachter von außen oft Gefahr, nicht ausreichend aktuelles Faktenwissen zu beachten und in Kategorien zu denken, die sich vielleicht für die westlichen Industrienationen in der Vergangenheit bewährt haben, aber nicht ohne weiteres auf die Situation im heutigen China übertragen werden können.

Meiner Meinung nach begeht Felix Lee, der als Wirtschafts- und Politikredakteur für „Die Tageszeitung“ schreibt, in seinem Buch „Die Gewinner der Krise: Was der Westen von China lernen kann“, das ich für außerordentlich lesenswert halte, diesen Fehler nicht. Sein Kernthema ist der wirtschaftspolitische Hintergrund für die bisherige Krisenresistenz der chinesischen Volkswirtschaft, die viele Analysten überrascht hat. Lee vermeidet es dabei, die dargestellten Fakten zu sehr in einen größeren Bedeutungszusammenhang einzuordnen und auch wenn der Titel es anders vermuten lässt, bleibt er in seinen Beobachtungen sehr um Differenzierung bemüht. Und auch nur an wenigen Stellen geht er so weit, die „Zutaten für das Erfolgsrezept Chinas“ zu sehr zu verallgemeinern und die Möglichkeit einer Übertragbarkeit auf die Situation in Deutschland zu suggerieren.

Gleich zu Beginn stellt sich Lee die Frage, ob es moralisch vertretbar ist, ein Buch zu schreiben, in dem die wirtschaftlichen Erfolge einer Regierung thematisiert werden, die autoritär ist und Oppositionelle unterdrückt. Er sieht darin jedoch keinen moralischen Konflikt. Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Lee zudem der Meinung ist, dass ein Buch über das, was der Westen von China auf keinen Fall lernen sollte, ungleich dicker wäre.

Lee beschreibt die drängenden Aufgaben der Zukunft jenseits der allseits bekannten Probleme wie der Inflation, der steigenden Wohnungspreise und der miserablen Werte im Gini-Index. Die wären, um nur einige zu nennen:

  • Der Umbau von einer Agrargesellschaft zu einer Industriegesellschaft und der damit verbundenen geplante Urbanisierungsprozess
  • Die Schaffung von Wohnraum für die zukünftigen neuen Stadtbewohner
  • Die Anpassung der Einkommen an die steigenden Unternehmensgewinne
  • Die Behebung des Ärztemangels und die Bekämpfung der explodierenden Preise im Gesundheitssystem
  • Der Aufbau eines Sozialversicherungssystems
  • Der Aufbau eines unabhängigen Justizwesens

Lee geht zudem davon aus, dass trotz der durch nichts zu entschuldigenden noch immer auftretenden Missachtungen der Menschenrechte, das heutige China zwar ein autoritärer, aber keineswegs ein totalitärer Staat mehr ist und sicher nicht mit Ländern wie Nordkorea gleichgestellt werden sollte. Er sieht trotz zeitweiliger Rückschritte die Bereitschaft der chinesischen Regierung, langfristig einen Rechtsstaat zu schaffen und mehr Meinungsfreiheit zuzulassen. Lee ist der Meinung, dass der chinesischen Regierung über kurz oder lang nichts anderes übrig bleiben wird, als eine Form der Gewaltenteilung einzuführen.
Ein wichtiger Grund, die positiven Aspekte des chinesischen Wirtschaftswunders einmal genauer zu betrachten, sieht er darin, dass besonders im wirtschaftspolitischen Bereich weniger Unterschiede zwischen dem modernen China und dem Westen bestehen, als gemeinhin angenommen.

„Ich bin sicher, dass mit einem genauen Blick auf das Land China der Schrecken genommen werden kann. Denn wirtschaftspolitisch ist die chinesische Regierung aus keinem anderen Holz geschnitzt als die meisten europäischen Länder.“

Ein Freund von mir scherzt oft in Anlehnung an einen eher weniger erfolgreichen interkulturellen Lernprozess „Von China lernen, heißt siegen lernen.“ Das ist leicht gesagt. Doch was ist es denn, was die Chinesen derzeit richtig machen? Was sollen wir denn von ihnen lernen?

Lees Antwort auf diese Frage ist recht eindeutig: der starke Staat. Sein Text ist auch ein Plädoyer für eine neues Verständnis der Rolle des Staates in der westlichen Wirtschaftswelt zu verstehen. Lee glaubt nicht an das neoliberale Dogma, wonach sich der Markt im freien Spiel der Kräfte selbst reguliert. Der Staat hat für ihn die Aufgabe, die Interessen der Menschen gegenüber den Kräften des Marktes durchzusetzen – frei und liberal gegenüber seinen Bürgern und stark und regulierend gegenüber der Wirtschafts- und Finanzwelt.

„Wie dargestellt, beruht Chinas Erfolg vielmehr auf einem wirtschaftspolitischen Rahmen, der den Akteuren klare Grenzen setzt. Die Regierung behält sich vor, jederzeit an den Märkten intervenieren zu können, um allzu große Exzesse zu verhindern. Spekulanten können sich im Reich der Mitte nicht unbegrenzt austoben. Zudem sind nicht kurzfristige Renditen ausschlaggebend, sondern es geht darum, wo sich das Land in fünf, zehn und auch zwanzig Jahren sieht.“

Der Erfolg Chinas beruht laut Lee somit auf einer wirtschafspolitischen Ordnungspolitik, die in Fünf-Jahres-Plänen Zielvorstellungen definiert und dann flexibel an die jeweiligen wirtschaftlichen Realitäten anpasst. Auch westliche Politiker und Regierungschefs müssten sich demnach mehr an Fernzielen orientieren, anstatt auf die Umfrageergebnisse und die Chancen im Wahlkampf zu starren wie die Schlange auf das Kaninchen. Dafür müsste sich die Politik jedoch stärker vom Einfluss einzelner Interessen freimachen und wieder in der Lage sein, unmittelbar in das Marktgeschehen einzugreifen.

Felix Lee sieht die westlichen Demokratie durchaus in der Lage, dauerhaft neben dem chinesischen Staatskapitalismus konkurrenzfähig zu bleiben. Allerdings hält er es für notwendig, dass in einer Zeit, in der sich das Machtgefüge zu Gunsten der Interessenvertreter der Wirtschafts- und Finanzinstitutionen verschoben hat, die Politik als eigenständiger Akteur verlorene Handlungsspielräume zurückerobert. Eine der provokantesten Fragen in seinem Buch lautet: Was nutzt eine demokratisch gewählte Regierung, wenn sie doch nur die Partikularinteressen bestimmter Gruppen vertritt?

Am Ende dieser Rezension möchte ich ein Zitat stellen, weil es mir besonders auch im Zusammenhang mit der Diskussion um die geschichtliche Einordnung der Leistungen der Kommunistischen Partei Chinas, die nicht immer sachlich geführt wird, in weiten Teilen aus der Seele spricht:

„Ich kenne kein politisches System, das die individuellen Freiheitsrechte so sehr garantiert wie die Länder der westlichen Welt. Freiheit, politische Teilhabe und die Einhaltung der Menschenrechte sind fundamentale Wesensmerkmale einer progressiven Staatsform. Und ich bin davon überzeugt, dass sie unabhängig vom Kulturkreis universell sind. Für ebenso wichtig halte ich es aber, dass Staat und Regierung dafür sorgen, den Bürgern einen Mindeststandard an Lebensqualität zu garantieren, der es ihnen möglich macht, diese universellen Rechte einzufordern und auszuüben. Wer hungert, kein Dach über dem Kopf hat, für wen im Krankheitsfall nicht gesorgt wird oder wem nicht ein Minimum an Bildung geboten wird, der kann sich auch nicht dauerhaft politisch einbringen. Wie die Entwicklung der meisten Demokratien beweist, bedurfte es stets eines gewissen sozialen Niveaus, damit politisches Engagement nachhaltig gedeihen konnte. Diese Standards sind in China längst erfüllt, weswegen es auch aus diesem Grund bedauerlich ist, dass es dort noch immer keine Demokratie gibt.“

Was ist Aufklärung?

Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit bedeutet, dass jemand nicht fähig ist, seinen eigenen Verstand ohne die Leitung eines anderen zu benutzen. Selbstverschuldet bedeutet, dass diese fehlende Fähigkeit nicht durch einen Mangel an Verstand begründet ist. Stattdessen fehlt es an Mut und Kraft, den eigenen Verstand ohne die Leitung eines anderen zu benutzen. Sapere aude! Riskiere es, dich über die Welt zu informieren! Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu benutzen.

Der Mensch hat sich von der Macht der Natur befreit und lebt nicht mehr unter ihrer Kontrolle wie ein Tier. Heute ist es die Faulheit und Feigheit, die dazu führt, dass viele Menschen ihr ganzes Leben lang unmündig bleiben. Faulheit und Feigheit sind der Grund, warum viele Menschen von anderen Menschen kontrolliert und gesteuert werden. Es ist so bequem, unmündig zu sein.

  • Habe ich ein Buch, in dem die Welt erklärt wird, dann brauche ich nicht meinen eigenen Verstand benutzen.
  • Kenne ich einen klugen Menschen, der mir das gute Leben erklärt, dann brauche ich meinen Verstand nicht zu benutzen.
  • Habe ich einen Arzt, der mir sagt, was gesund für mich ist, dann brauche ich meinen Verstand nicht zu benutzen.

 

Ich brauche nicht die mühsame Aufgabe des Denkens zu leisten, wenn andere Leute es für mich tun. Außerdem halten die meisten Menschen (besonders die Frauen) es nicht nur für anstrengend, sondern auch für gefährlich, sich ihre eigenen Gedanken zu machen. Sie wurden von den Menschen, die sie kontrollieren, so erzogen. Wie die Tiere im Stall werden sie behandelt von ihren Herren. Zuerst sind diese ruhigen Tiere im Dunkeln des Stalles eingesperrt. Sie sind es nicht gewohnt, auf der Wiese zu grasen. Ihnen wird gesagt, welche Gefahr droht, wenn sie den Stall verlassen würden. In Wirklichkeit gibt es aber gar keine Gefahr. Sie würden vielleicht zunächst stolpern und fallen. Aber nach kurzer Zeit hätten sie gelernt, allein auf der Wiese zu gehen und das grüne Gras zu fressen. Doch die Angst vor dem Stolpern und dem Fallen verhindert, dass die Tiere es versuchen.

Viele Menschen haben es verlernt, ihren eigenen Verstand zu benutzen

Es ist also für jeden Menschen schwer, sich aus der Unmündigkeit, die er für unvermeidlich hält, herauszuarbeiten. Viele Menschen fühlen sich in diesem Zustand wohl. Sie haben es verlernt, ihren eigenen Verstand zu benutzen, weil man es ihnen noch nie erlaubt hat. Vereinfachte Wahrheiten, ständig wiederholte Formeln, die die Welt erklären sollen und zu denen man sich bekennen muss, sind die Fesseln der Menschen, die sie in ihrer Unmündigkeit festhalten. Wenn man sich von ihnen befreit und frei bewegt, dann werden die ersten Bewegungen sehr mühevoll und unsicher sein, weil man nicht gewohnt ist, die neue Bewegungsfreiheit zu nutzen. Deswegen gibt es nur sehr wenige, die es schaffen, sich selbst von den Fesseln zu befreien und einen sicheren Gang zu entwickeln.

Aber es gibt eine andere Möglichkeit. Die ganze Gesellschaft kann sich zu einer aufgeklärten Gesellschaft entwickeln, wenn die Freiheit der Menschen nicht zu sehr eingeschränkt wird. Denn auch unter den Menschen, die andere Menschen kontrollieren, gibt es welche, die es gelernt haben, ihren eigenen Verstand zu benutzen. Sie haben erkannt, dass es für die eigene Entwicklung und die Entwicklung der Gesellschaft gut ist, wenn die Menschen ihren eigenen Verstand benutzen. Sie werden wahrscheinlich von den Menschen, die noch vor kurzem von ihnen kontrolliert wurden, kritisiert werden. Denn diese können den Wert der Aufklärung nicht sehen. Außerdem werden die anderen Herrschenden, die nicht zur Aufklärung fähig sind, es verhindern wollen, dass die Menschen ihren eigenen Verstand bedienen. Es ist also niemals gut, auf der Suche nach der Wahrheit zu glauben, dass man die Antworten auf die Fragen des Lebens schon kennt. Denn dadurch entsteht nur die Unfähigkeit zu lernen. Man sollte keine Meinung als richtig oder falsch bezeichnen, wenn man sie nicht durch seinen eigenen Verstand überprüft hat. Wenn man stattdessen nur die eine Seite der Wahrheit akzeptiert und Vorurteile gelten lässt, besteht immer die Gefahr, dass man irgendwann auf der falschen Seite steht und Rache geübt wird. Daher kann ein Volk nur langsam zur Aufklärung gelangen. Durch eine Revolution wird es vielleicht gelingen, dass ein System, das die Menschen ausbeutet und unterdrückt, zu besiegen, aber es wird dadurch niemals eine wahre Reform der Denkweise erreicht. Denn alte und auch neue Vorurteile werden die Gedanken der Revolutionäre leiten.

Die Freiheit, die man für die Aufklärung braucht, ist die ungefährlichste Freiheit

Für die Aufklärung braucht man also nichts anderes als Freiheit. Freiheit mag nicht immer gut sein und birgt auch Gefahren. Die Freiheit, die man für die Aufklärung braucht, ist jedoch die ungefährlichste Freiheit. Es ist die Freiheit, von seinem Verstand in jeder Hinsicht öffentlichen Gebrauch zu machen. „Nein, nein, nein“, höre ich von allen Seiten „Das ewige räsonieren bringt uns doch keinen Schritt weiter.“

  • Der Offizier sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt marschieren.“
  • Der Buchhalter sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt bezahlen!“
  • Der religiöse Führer sagt: „Ihr sollt nicht denken, ihr sollt glauben!“

Überall wird die Freiheit zum Denken eingeschränkt und man muss sich in seiner Rolle in der Gesellschaft verhalten. Viele dieser Einschränkungen der Freiheit sind auch tatsächlich notwendig, weil jeder Mensch nur ein kleiner Teil eines größeren Gesellschaftsgefüges ist. Menschen haben ihre Rolle in der Gesellschaft, die sie ausfüllen müssen. Deswegen stellt sich die Frage, welche Einschränkungen der Freiheit sinnvoll sind und welche nicht. Ich antworte: Man muss trennen zwischen dem öffentlichen Gebrauch seines Verstandes, der der Wahrheitsfindung dient und dem privaten Gebrauch, der durch die persönliche Rolle in der Gesellschaft eingeschränkt ist. Die Einschränkung dieses privaten Gebrauchs ist für den Fortschritt der aufgeklärten Gesellschaft kein Hindernis.

In der Weltbürgergesellschaft kommunizieren die Gelehrten durch ihre Werke

Für das gesamtgesellschaftliche Interesse ist es in einigen Fragen notwendig und wichtig, dass die Bürger eines Staates sich passiv verhalten und den Anweisungen der Regierung folgen. Wenn man dies nicht tut, gefährdet man die Interessen der Gemeinschaft und die Regierung kann und wird versuchen dies zu verhindern. Als Teil einer Gesellschaft ist es in mancher Hinsicht also wichtig, dass man auf das Denken verzichtet und sich der herrschenden Meinung unterordnet. Aber jeder Mensch ist nicht nur ein Teil dieser Maschinerie, sonder gleichzeitig auch ein Mitglied einer viel größeren Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist die Weltbürgergesellschaft, in der ein Gelehrter durch seine Werke mit anderen Menschen kommuniziert. Hier sollte jeder Mensch seine rational begründete Meinung frei äußern können, auch wenn sie nicht der herrschenden Mehrheit der Menschen seiner Gesellschaft entspricht. Wenn einem Offizier im Dienst etwas befohlen wird, dann darf er den Befehl nicht hinterfragen, sondern er muss ihn ausführen. Aber wenn der Kampf vorüber ist, dann muss es dem Offizier erlaubt sein, Anmerkungen zu machen über die Fehler, die im Kriegseinsatz gemacht wurden. Es muss erlaubt sein, dass er seine wohl begründete Meinung veröffentlicht und anderen Menschen zur Beurteilung vorlegt.

Ein Bürger muss seine Steuern bezahlen. Wenn er dazu aufgefordert wird, dann ist es sogar strafbar, falls er es nicht tut und er muss bestraft werden, wenn er dies nicht den Gesetzen entsprechend handelt. Aber in einer gerechten, aufgeklärten Gesellschaft ist es ihm erlaubt, nach der Bezahlung seiner Steuern, öffentlich die Höhe der Steuern zu kritisieren. Ein Geistlicher, der die Aufgabe übernommen hat, eine Gemeinde zu leiten, muss sich an die Regeln und Sitten der Religion halten, denn dies ist Teil seines Auftrages. Allerdings muss ihm die Freiheit gegeben sein, sich in der Öffentlichkeit Gedanken über die Verbesserung des Religions- und Kirchenwesens zu machen.

In der Trennung zwischen dem öffentlichen Gebrauchs seines Verstandes und dem privaten in seiner Rolle in der Gesellschaft besteht kein Widerspruch. Wenn ein Geistlicher in der Kirche in seiner Rolle als Amtsträger funktioniert, dann vertritt er die Meinung der Kirche, die vielleicht nicht in jeder Hinsicht seinen eigenen Gedanken entspricht. Vielleicht ist er sogar in einigen Punkten vollkommen anderer Meinung. Trotzdem muss er die Gedanken der Kirche lehren, denn er arbeitet für sie. Er wird versuchen, das Beste aus dieser Lehre zu machen, die in seinen Augen vielleicht gar nicht richtig ist. Die Ansicht, die er als Amtsträger vertritt, wird aber wahrscheinlich nicht grundsätzlich seiner Auffassung von der richtigen Religion widersprechen, denn sonst würde er sich nicht für die Aufgabe des Amtes verpflichtet haben. Wenn das Amt nicht mit seinem Gewissen vereinbar ist, müsste er es aber niederlegen.

Als Priester ist diese Person in ihrer freien Meinungsäußerung also eingeschränkt. Als öffenliche Person jedoch, die an dem Wohl der viel größeren Gemeinschaft interessiert ist, muss sie jedoch eine uneingeschränkte Freiheit genießen, ihren  eigenen Verstand benutzen zu dürfen. Denn es ist nicht einzusehen, dass die Menschen, die dem Volk übergeordnet sind, sich selbst unter die Herrschaft einer Weltanschauung oder die Herrschaft anderer Menschen stellen sollen.

Die Menschen haben kein Recht, die Menschen in den folgenden Generationen auf einen Weg festzulegen

Nun könnte man die Frage stellen, ob es nicht sinnvoll ist, dass sich eine Gesellschaft auf eine Ideologie einigt und diese Ideologie für alle Zeiten festschreibt und für alle Mitglieder der Gesellschaft verbindlich macht? Ich sage: Das ist ganz unmöglich. Eine solche Einigung, welche die Menschen an dem Fortschritt der Gesellschaft durch Aufklärung hindert, ist niemals rechtmäßig zu begründen. Und auch wenn alle Gerichte und Institutionen sich auf so eine Vereinbarung geeinigt haben, ist es doch ein Vertrag, der nicht den natürlichen Rechten des Menschen entspricht. Die Menschen, die in einem Zeitalter leben, haben kein Recht dazu, die Menschen in den folgenden Generationen auf einen bestimmten Weg festzulegen. Denn dann wäre man nicht fähig, die alten Irrtümer zu beseitigen und die Erkenntnisse zu erweitern. Das wäre ein Verbrechen gegen die menschliche Natur, deren Bestimmung der Fortschritt ist. Die Nachkommen sind daher dazu berechtigt, solche Beschlüsse nicht anzuerkennen und stattdessen den Weg zu gehen, der auf dem eigene Denken begründeten und der Fortschrittlichkeit verpflichtet ist.

Es wäre allerdings möglich, dass sich ein Volk vorübergehend eine gewisse Ordnung und Ideologie selbst gibt, die so lange gilt, bis man eine bessere gefunden hat. Währenddessen muss es aber den Gelehrten erlaubt sein, öffentlich über eine bessere Ordnung nachzudenken und über die Ideologie zu diskutieren. Wenn die Diskussion dann zu Ergebnissen geführt hat und viele Menschen der Ansicht sind, dass man der Regierung öffentliche Reformvorschläge für eine bessere Gesellschaft unterbreiten kann, dann sollte das auch geschehen. Diejenigen, die die alte Ordnung behalten möchten, sollten das Recht haben, gehört zu werden. Aber auch die, die einen Verbesserungsvorschlag gemacht haben, sollten nicht unterdrückt werden. Ein Menschleben ist zu kurz, um sich auf eine allein gültige, ideologische Auffassung zu einigen, die von niemandem öffentlich bezweifelt werden darf. Dadurch würde man den gesellschaftlichen Fortschritt aufhalten und die Chancen vernichten, dass sich die Gesellschaft verbessert. Das ist nicht gerecht gegenüber den Nachkommen und daher nicht zulässig.

Ein einzelner Mensch kann für eine gewisse Zeit die Aufklärung verschieben. Aber völlig darauf zu verzichten und diesen Verzicht für die Nachkommen festzuschreiben ist eine Handlung, die eines Menschen nicht würdig ist. Wenn aber nicht einmal das Volk eine Festlegung auf einen ideologischen Weg beschließen darf, weil sie damit die Chancen für eine bessere Gesellschaft verringert, dann dürfen die Regierenden es sicherlich auch nicht. Die Rechtmäßigkeit einer Regierung besteht schließlich gerade darin, dass sie die Interessen des Volkes vertritt und den Willen des Volkes repräsentiert. Die Regierenden müssen also darauf acht geben, dass die Verbesserungsvorschläge auch wirklich im Sinne einer besseren Ordnung sind. Die Regierenden sind jedoch keinesfalls dafür verantwortlich, welchen Weg sich ein Volk aussucht. Es ist der Weg des Volkes. Stattdessen sind sie dafür verantwortlich, dass keine Macht das Volk gewalttätig daran hindert, diesen Weg zu gehen. Eine Regierung sollte nicht versuchen, die Schriften, die sich mit der Verbesserung der Gesellschaft beschäftigen zu kontrollieren und zu zensieren. Diese Einsicht hatten schon die Römer. Und niemals sollten die Regierenden versuchen, diejenigen Kräfte in einem Staat zu unterstützen, die einen Vorteil davon haben, wenn die Menschen es lassen, ihren eigenen Verstand zu bedienen.

Wir leben in einem Zeitalter der Aufklärung

Wenn man jetzt die Frage gefragt wird: „Leben wir in einem aufgeklärten Zeitalter?“, dann lautet die Antwort: „Nein, wir leben wohl in einem Zeitalter der Aufklärung.“ Es ist so, dass die meisten Menschen in diesem Land nicht in der Lage sind, ideologische Fragen mit Hilfe ihres eigenen Verstandes zu verstehen, ohne dabei angeleitet zu werden. Bis dahin ist noch ein weiter Weg. Aber es ist ihnen der Weg geöffnet worden und sie beginnen die ersten Schritte zu gehen. Die Hindernisse zu einer selbstbestimmten, aufgeklärten Gesellschaft auf dem Weg aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit werden allmählich weniger werden, dafür gibt es deutliche Anzeichen. In Anbetracht dessen ist dieses Zeitalter das Zeitalter der Aufklärung, oder das Jahrhundert Friedrichs.

Friedrich ist ein Herrscher, der es unwürdig findet, den Menschen vorzuschreiben, was sie in ideologischen Fragen denken sollen. Er gibt ihnen in diesen Fragen die volle Freiheit. Nicht nur, dass er es nicht nur erlaubt, nein, er fordert es, dass die Menschen sich ihre Meinung selbst bilden. Er verdient den Respekt und den Dank der Nachwelt, dass er jeden Untertanen dazu ermutigt hat, sich in ideologischen Fragen seines eigenen Verstandes zu bedienen. Geistliche dürfen sich fragen, ob die Lehre, die sie vertreten, die richtige und wahre ist. Aber nicht nur diejenigen, die durch ein Amt eine Rolle ausfüllen, unterstützt Friedrich. Gerade die Bürger, die kein Amt ausüben, ermutigt Friedrich, ihren Verstand zu benutzen. Dieser Geist der Freiheit breitet sich auch an anderen Orten aus. Selbst da, wo Regierungen, die ihrer Verantwortung nicht gerecht werden, es zu verhindern versuchen. Denn es wird immer deutlicher, dass in freiheitlichen Gesellschaften niemand sich um die Stabilität, den inneren Frieden und die Einigkeit des Staates Sorgen machen muss. Die Menschen arbeiten sich aus eigener Kraft aus der Unfähigkeit zu denken heraus, wenn man ihnen die Möglichkeiten dazu gibt.

Nur eine Regierung, die stark und stabil ist, kann den Bürgern viel Freiheit geben

Ich habe den Schwerpunkt meiner Analyse der Aufklärung als Ausgang des Menschen aus seiner unverschuldeten Unmündigkeit bei dem Thema Ideologie gesetzt. Denn bei den Künsten und bei der Wissenschaft sind unsere Herrscher weniger streng in ihrer Kontrolle. Die ideologische Unmündigkeit ist auch wohl die schädlichste. Aber es ist nicht nur die ideologische Ausrichtung, über die man in einem Staat problemorientiert diskutieren sollte. Auch beim Thema der Gesetzgebung sollte es dem Volk erlaubt sein, Kritik zu üben und Veränderungen vorzuschlagen. Auch in diesem Bereich hat Friedrich seinen Bürgern viel Mitsprache-Recht gegeben.

Aber nur die Regierung, die aufgeklärt ist und die stark und stabil genug ist, die öffentliche Sicherheit zu garantieren, kann den Bürgern so viel Freiheit geben. Nur wenn die Menschen in ihrer Rolle den Anweisungen folgen, ist die Stabiliät und die Sicherheit in einem Land garantiert. Nur dann kann die Regierung sagen: „Denkt so viel ihr wollt und worüber ihr wollt. Aber führt zunächst die Befehle aus!“ Es klingt paradox, aber es trifft den Kern der Wahrheit. In ihrem täglichen Leben sind die Menschen an ihre Rolle gebunden und nicht unbedingt frei. Sie schränken ihre eigene Gedankenwelt ein und verhalten sich konform. Aber genau dadurch garantieren sie die Sicherheit, die es erlaubt, als Denkender die Freiheit des Geistes zu nutzen und die Gesellschaft zu verbessern.

So kann sich die Freiheit des Geistes ausbreiten und der Mensch kann das nutzen, was ihm von Natur aus gegeben ist und was ihn vom Tier unterscheidet: Der Wunsch und die Fähigkeit zum freien Denken. Die Freiheit im Denken kann sich dann auf die Freiheit im Handeln auswirken. Auf diesem Wege können sich auch die Grundsätze der Regierung verändern, die dann feststellen wird, dass es nur in ihrem eigenen Interesse ist, den Mensch nicht als Maschine zu behandeln, sondern seine Würde zu achten.

Links im Internet:

http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/nordwestradio_journal/audio56182-popup.html

http://www.radiobremen.de/nordwestradio/sendungen/nordwestradio_journal/audio56044-popup.html