Die Ruhe. Das Nichts-Tun

„Dao ke dao, fei chang dao“, sagte Doktor Cao. Er sagte es nachdenklich und auch sein Ellenbogen schob sich deutlich langsamer zwischen meine Lendenwirbel. Ich hatte diesen Satz gelesen, als ich noch im Vorzimmer wartete, während Doktor Cao, die Nackenmuskulatur einer zierlichen jungen Frau massierte, auf deren bunt-lackierten Fingernägeln kleine, funkelnde Schmetterlinge um eine Blume kreisten.

Der Begleiter der jungen Frau spielte währenddessen Golf auf seinem I-Phone. Ich saß auf einer rissigen Ledercouch und sah mich im Vorzimmer um. Die Tapeten waren vergilbt und auf dem schwarzen Rattan der Möbel lag eine dicke Schicht aus Staub. An der Wand hing ein Bild mit Meridianen, die sich durch den Körper zogen, wie Ameisentunnel durch den Waldboden. Nachdem ich mir die verschiedenen Geräte, die sonderbaren Schröpfkugeln, die Schabmesser und die Saugpumpen angesehen hatte, die auf einem Regal aufgereiht waren, fielen mir die Bücher auf, die in einem Zeitungsständer neben der Couch lagen. Ich nahm wahllos eins heraus. Es war das „Dao De Jing“, ein Ur-Text der Taoisten, und als ich das Buch aufschlug, las ich diesen Satz. „Dao ke dao, fei chang dao“

Als Doktor Cao dann seine Arbeit an der Nackenmuskulatur beendet hatte und die junge Dame sich von ihrem Begleiter ihre französische Handtasche geben ließ, um zu bezahlen, ging mir der Satz immer noch durch den Kopf. Das Mädchen mit den Schmetterlingshänden war gegangen und Doktor Cao, der eigentlich kein Doktor ist, sondern ein blinder Masseur, ließ mich rufen. Man pflegt ja chinesischen Sprache oft sehr höfliche Umgangsformen und so sagte der Rezeptionist: „Doktor Cao, dein ausländischer Freund, der Lehrer Han ist da.“

Ich lernte Doktor Cao kennen, als meine Eltern mich während der olympischen Spiele besuchten. Weil der Sommer in Beijing wie immer unerträglich heiß war, beschloss damals meine Mutter, auch nachts die Klimaanlage auf eine Temperatur einzustellen, bei der selbst Eskimos ihre Pelzkapuzen tief ins Gesicht gezogen hätten. Mein Vater hat schon sehr lange immer mal wieder Rückenprobleme, dieses Mal waren es ernste. Er hatte sich, wie Doktor Cao es ausdrückte, „Kälte gefangen“. Vielleicht kam noch hinzu, dass die Matratze des Gästebettes an traditionelle chinesische Foltergerätschaften erinnerte und die Sprungfedern an einigen Stellen deutliche Abdrücke auf dem Laken hinterließen. Mein Vater jedenfalls schaffte es an diesem Tag kaum aus dem Bett. Die meiste Zeit konnte er sich nur mit Hilfe eines Rollkoffers durch die Wohnung bewegen, den er als Gehwagen zweckentfremdet hatte. Zwar war der Urlaub meiner Eltern bald zu Ende, aber es war kaum vorstellbar, wie mein gebückter Vater in diesem Zustand die Strapazen der Heimreise überstehen sollte. Wir brauchten Hilfe.

Die Massagepraxis, in der Doktor Cao arbeitet, hatte damals gerade erst aufgemacht. Sie war mir sofort aufgefallen, schließlich habe ich die Rückenprobleme meines Vaters geerbt. Ich zögerte damals allerdings, das Wohlbefinden meines oder des Rückens meines Vaters noch einmal in die Hände eines blinden Masseurs zu legen. Mit blinden Masseuren hatte ich keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Ein einziger Besuch dort hatte mich in mehrerer Hinsicht stark überfordert. Und erst die Bekanntschaft mit Doktor Cao ermöglicht es mir, bei dem Thema „Blinder Masseur“ nicht mehr sofort an die Worte „röhren“ und „Kamel“ zu denken.

Jiang Li, meine Kollegin, die zur Aufbesserung ihres kargen Universitätsgehaltes hin und wieder Übersetzungen anfertigte und der ich oft dabei half, hatte mir einmal eine SMS mit folgendem Inhalt geschickt. „Welches Geräusch macht ein Kamel?“ Es dauerte etwas, bis ich verstand, was sie meinte und dass sie bei einer Übersetzung auf eine Schwierigkeit gestoßen war. „Evtl. röhren; wie ein Hirsch“, war meine Antwort. Und während meines ersten Besuches bei einem blinden Masseur, da dachte ich: „Das passt. Dieser Masseur röhrt wie ein Kamel.“

Der junge Mann, der mich massieren sollte, war eindeutig blind. Nicht alle blinden Masseure in China sind auch wirklich blind, aber dieser war es. Nachdem ich der Empfangsdame in meinem damals noch sehr schlechten Chinesisch irgendwann erfolgreich vermitteln konnte, dass ich eine Rückenmassage wollte, kam dieser junge Mann. Ich lag schon auf der Liege, als er den Raum betrat. Seine Augen lagen tief im Kopf hinter einem milchigen Schleier. Er war insgesamt von einer bemitleidenswerten Gestalt. Doch so sehr er mir auch Leid tat, so sehr ekelte ich mich vor ihn und den Geräuschen, die er machte.

Vor meiner Zeit in China war das Thema „Massage“ ist in meinem Gehirn in einer ganz bestimmten Region abgespeichert – der „Wellness-Plätschermusik-Ayuweda-Öl-Ecke“. Doch die Erfahrungen, die ich in China gemacht habe, zwangen mich, das ursprüngliche Konzept deutlich weiter zu fassen.

Es begann mit einem Rumpeln im Magen des Masseurs. Ich lag auf dem Bauch und mein Gesicht befand sich in der runden Aussparung der Massage-Liege. Ich schloss meine Augen und versuchte das Rumpeln zu ignorieren. Masseure in China wollen sich während der Arbeit meist ein bisschen unterhalten, entweder weil sie es für höflich halten, oder um die Gelegenheit zu nutzen, etwas von einem weitgereisten Fremden über seine ferne Heimat zu erfahren. Dieser Masseur sagte nichts. Nur sein Magen gab langgezogene, säufzende Laute von sich. Dann rülpste der Masseur. Ich vermutete zunächst, er habe etwas schwer Verdauliches gegessen hatte. Und es ist ja nicht selten, dass Menschen in China auch in der Öffentlichkeit laut rülpsen. Ich hatte sogar einmal eine Studentin, die aus irgendeinem Grund in fast jedem Unterricht rülpste. Also dachte ich mir bei diesen Geräuschen zunächst nicht viel.

Dann rumpelte es wieder. Das Rülpsen wurde lauter. Und es wurde länger. Hörbar bahnten sich Unmengen von Gasen ihren Weg aus dem Körper des blinden Masseurs. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es körperlich möglich ist, in so kurzer Zeit so viel Gas im Magen zu erzeugen. Eine Stunde lang lag ich auf der Liege, mit dem Gesicht nach unten. Etwa alle dreißig Sekunden rumpelte es, woraufhin jedes Mal ein unglaublich langgezogener Rülpser folgte, der an die durchschnittliche Lautstärke eines röhrenden Kamels bei weitem übertraf und dessen Geräusch bei mir unverzüglich einen starken Würgreflex auslöste. Eine Stunde lag auf der Liege und kämpfte mit meinem Brechreiz. Ich war unfähig aufzustehen, weil der Mann mir Leid tat.

Vielleicht hätte ich diesem Mann, der durch seine Blindheit und seine sonderbare Krankheit vom Schicksal besonders hart geschlagen war, irgendwie helfen können. Vielleicht war dieses Rülpsen ja auch nur temporär. Vielleicht hätte ich mich auch überwinden können. Ich hätte mir beim nächsten Mal extra-dicke Oropax mitnehmen und während der Massage eine Traumreise zu leichtbekleideten Hula-Mädchen an Palmenstränden machen können. Die Wahrheit jedoch ist: Ich habe es nicht gemacht. Ich bin nie wieder zu diesem Masseur gegangen, weil ich mich vor ihm geekelt habe.

Und als dann mein Vater fragte, ob das nicht eine Massagepraxis gewesen sein, deren Leuchtreklame die grauen Betonwände des Treppenhausen in regelmäßigen Abständen in grünes und rotes Neonlicht tauchte, da dachte ich an die Worte „röhren“ und „Kamel“ und an meinen Brechreiz und an milchige Augen und zögerte. Aber weil mein Vater in den letzten Tagen einen Rollkoffer als Gehwagen benutzte, fortwährend die Erfindung der Klimaanlage verfluchte und der häusliche Frieden meiner Eltern ernsthaft auf dem Spiel stand, überwand ich meine inneren Widerstände und meldete meinen Vater bei dem blinden Masseur im ersten Stock an.

Die Rückenschmerzen meines Vaters schmolzen unter den Händen von Doktor Cao, wie Erbsen-Eis in praller Mittagssonne und jedes Mal wenn wir später telefonierten, fragt er mich, wie es seinem kleinen Masseur geht. Und auch Doktor Cao fragte mich oft nach dem Wohlbefinden meines Vaters. Und ich fragte mich, ob Doktor Cao, der mit seinen Händen in kürzester Zeit die Verspannungen findet, ohne dass man etwas sagen muss, jedes Mal bei meinem Rücken an den Rücken meines Vaters denkt und dadurch dessen Zukunft sehen kann. Doktor Cao und ich reden über Vieles, aber das habe ich ihn noch nie gefragt.

Doktor Cao wurde vor sechsundzwanzig Jahren in einem kleinen Ort nicht weit von Taiyuan in der Prozinz Shanxi geboren. Seine Mutter war Krankenschwester und wenn ich es richtig verstanden habe, arbeitete sein Vater in einem Steinbruch und starb bei einem Unfall als Doktor Cao sieben Jahre alt war. Er war ein normales Kind, fleißig in der Schule und gut zu seinen Eltern. Kurz nachdem sein Vater gestorben war, begannen seine Augen sich zunehemend zu verschlechtern. Kein Arzt konnte den Grund dafür herausfinden und noch vor seinem neunten Geburtstag konnte er den hellsten Sonnenschein nicht von der tiesten Nacht unterscheiden. Seine Mutter war eine starke Frau und gewohnt „Bitterkeit zu essen“. Sie kümmerte sich um ihn, kochte ihm morgens, mittags und abends etwas zu essen. Aber als sie merkte, dass ihre Kräfte nachließen, wusste sie, dass sie sich trennen mussten. In dem kleinen Ort würde Doktor Cao nicht für sich selbst sorgen können. Über eine Bekannte stellte sie einen Kontakt nach Beijing her, wo ihr Sohn an einer Schule für Masseure eine kurze Ausbildung machte. Danach fand er eine Anstellung in dieser kleinen Massagepraxis, die er so gut wie nie verlässt. Er isst, was seine Kollegen für ihn kochen und er schläft nachts auf einer der Massageliegen.

„Dao ke dao fei chang dao“, sagte Doktor Cao. „Dieser Satz sagt Vieles. Es geht um die Mitte, um das Zentrum, in dem die Ruhe liegt.“

„Die Ruhe?“, fragte ich.
„Ja. Die Ruhe. Das Nichts-Tun“, antwortete er.
„Das kann ich gut. Das ist ja nicht schwer“, warf ich ein. Ich verfügte damals noch über zu wenig Sprachkenntnisse, um eine ernsthafte Diskussion längere Zeit am Leben zu halten.
„Ja, das kannst du gut. Darum ist dein Rücken auch so krumm. Weil du dich nicht bewegst.“
„Dann haben alle Taoisten also Rückenschmerzen“, versuchte ich diesen Gedanken weiter zu entwickeln.
„Nein“, sagte Doktor Cao ruhig.
„Aber was ist denn dieses Dao nun eigentlich?“ fragte ich.
„Das ist es ja eben. Das Dao passt irgendwie nicht in die Sprache und die Worte. Nicht einmal in die chinesische. Das ist die eigentliche Bedeutung des Satzes.“

Dieses Mal sprachen wir weniger als sonst. Doktor Cao interessiert sich sehr für Sprachen und fragte mich oft nach den Worten. Er hat über das Radio etwas Englisch gelernt und ist fasziniert von fremden Klängen und seltsamen Bedeutungen. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieser kleine, blinde Mann viel mehr von Sprache versteht, als die meisten Studenten, die beim mir studiert haben. Aber dieses Mal redeten wir wenig.

Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie

Die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie beginnt mit einer Fotoserie bei Weibo. Darauf zu sehen sind junge deutsche Männer. Einigen Kommentatoren, es sind wohl meist jüngere Frauen, gefallen diese Bilder sehr. Sie schreiben:

„Ich dreh durch. Die sehen so gut aus.“ „Lecker, die Jungs!“ „Der auf dem letzten Bild, der mit den spitzen Eckzähnen, der ist so süß, dass einem das Wasser im Mund zusammenläuft.“

Diese Männer heißen aber nicht Bastian Schweinsteiger, Philipp Lahm, oder Miroslav Klose. Sie tragen Name wie Karl Brommann, Maximilian Mayerli und Michael Wittmann. Sie waren hochrangige Mitglieder der deutschen Reichswehr oder der SS und sie tragen dunkle Uniformen. Dass diese Männer hauptberuflich mit Krieg und Völkermord beschäftigt waren, scheint die chinesischen Kommentatorinnen nicht allzu sehr zu stören. Oder sie wissen es einfach nicht. Kann es sein, dass der millionenfache Mord an den Juden und der Zweite Weltkrieg, also unsere urdeutschen Verbrechen an der Menschlichkeit, in ihrem Schulunterricht nicht thematisiert worden sind? Kann das sein? Das frage ich mich.

Fast alle gebildeten Chinesen wissen sehr genau Bescheid über Willi Brandts Kniefall in Warschau, weil sie diese Geste als Beispiel für das deutsche Unrechtsbewusstsein ansehen und so eine Geste noch immer von den Japanern erwarten. Aber wissen die jungen Chinesen denn gar nicht, wofür Willi Brandt dort um Vergebung gebeten hat? Wissen sie nichts von den Opfern, denen er dort seine Ehre erwies? Wissen sie nichts über das rassistische Menschenbild der Nazis und dessen Folgen? Offenbar nicht.

Denn wie erklärt man sonst die Geschichte von Hitlers chinesischer Familie? Ich habe von dieser Geschichte zum ersten Mal erfahren, als in meinem Büro das Telefon klingelte. Die Verwaltungsangestellte in meiner Universität bat mich, meinen Pass mit dem aktualisierten Visum abzuholen. Ich ging einige Schritte über den Campus und klopfte an der Tür zum Gemeinschaftsbüro des Auslandsamtes. Ein älterer Herr öffnete. Ich kenne ihn schon länger und er hat mich immer mit einer etwas sonderbaren Hochachtung behandelt. Dieser Mann sieht für einen Chinesen etwas ungewöhnlich aus. Seine Gesichtszüge sind fast europäisch und seine leicht ergrauten Haare sind nicht vollkommen schwarz sondern spielen ins bräunliche. Man könnte ihn für einen Mischling halten, ein Mischblut, wie es im Chinesischen richtig heißt und vielleicht spielt diese Tatsache eine Rolle.

Wenn ich in seinem Büro war, sah er manchmal Filme auf seinem Computer oder blätterte in Antiquitäten-Magazinen. Als ich ihn zum ersten Mal sah, erklärt er fast feierlich, dass er Deutschland und die Deutschen sehr verehre. Er bat, mich Platz zu nehmen, bot mir Tee an und gab mir Bonbons, die nach gegorener Milch schmeckten. Dann sprach er von Deutschland und den Deutschen, den deutschen Tugenden und unserer Aufrichtigkeit. Am liebsten mag er China, sagte er, aber am zweitbesten sind die Deutschen. Die Japaner, die mag er gar nicht.

Beim zweiten Mal, als ich in diesem Büro war, hob er den Daumen und sagt unverständliche Namen. Er sagte Heerman Gelin(赫尔曼•戈林) und Yuesefu Gepeier (约瑟夫•戈培尔) und er sagte auch Ensite Luomu (恩斯特•罗姆). Gelin ist der Beste. Gelin. Gelin. Kennst du Gelin? Immer wieder sagt er diesen Namen und er hob den Daumen. Seine Kollegin – die manchmal mit einer Gurken-Masken auf ihrem Schreibtischstuhl döste – schüttelte den Kopf. Sie sagte, dass ihr Kollege ein Deutschland-Fetischist sei. Ich wusste nicht genau, was das sein sollte. Und weil ich immer noch nicht verstand, was er mir mit den komischen Namen sagen wollte, ging er zu seinem Aktenschrank und holte eine Tüte hervor. In der Tüte waren DVDs und auf all diesen DVDs waren bekannte Nazi-Größen abgebildet. Eine davon zog er hervor und zeigt darauf. Gelin, Gelin, das ist der Beste, sagte er und tippte mit dem Finger auf Herrmann Göring. Herrmann Göring stand breitgrinsend in seiner weißen Sonntagsuniform neben einem Flugzeug der deutschen Luftwaffe. Göring war der Lieblingsnazi des freundlichen Chinesen aus dem Auslandamt meiner Universität.

Wenn man länger in China lebt, dann lernt man, dass es viele Chinesen gibt, die Sympathie für Hitler hegen. Man hält Hitler oft – ähnlich wie Mao Zedong – für einen Mann, der die Kraft hatte, den Lauf der Geschichte zu verändern. Diese sogenannte „großen“ Männer werden oft nicht moralisch beurteilt, sondern aufgrund ihrer außergewöhnlichen Fähigkeiten, ihrem Talent, die Menschen zu bewegen und zu steuern.

Ich versuche dann meist in aller Kürze zur Klärung der Sachlage beizutragen und vermittele mit einfachen Worten den deutschen Standpunkt, beziehungsweise den Standpunkt der meisten Deutschen mit einem Intelligenzquotienten, der höher ist als die Raumtemperatur. „Hitler nicht gut. Hitler, böser Mann“, sage ich dann zu den Taxifahrern und Gemüsehändlern mit nationalsozialistischer Gesinnung. So leicht lassen sich chinesische Hitler-Fans allerdings – wie offensichtlich überall auf der Welt – nicht bekehren.

Als ich zum dritten Mal im Büro dieses älteren Herrn im Auslandsbüro war, erzählte er mir dann von Hitlers chinesischer Familie. Hitler sei in seiner Wiener Zeit in einer finanziellen Notsituation gewesen und eine chinesische Familie mit dem Namen Zhang habe ihn bei sich aufgenommen und seine Studiengebühren bezahlt. Er erzählt mir, in dieser Zeit habe Hitler auch angefangen, Tee zu trinken und die Werke des Sunzi, also dessen „Kunst des Krieges“ zu studieren. Hitler sei so sehr von China so fasziniert gewesen, dass es sein Plan war, so soll es eine enge Vertraute des Führers berichtet haben, die Welt zwischen dem Volk der Chinesen und dem Volk der Deutschen aufzuteilen. Alles östlich von Pakistan, erzählte mir der freundliche Herr aus dem Auslandsamt der Universität, sollte den Chinesen unterstellt werden und alles westlich davon dem Führer. Und während er das sagte, hatte er ein Strahlen in den Augen

Ich hielt den alten Mann für vollkommen verrückt, bis ich auf einen Text aufmerksam wurde, der seit 2009 im chinesischen Internet zirkuliert und der genau diese krude Geschichte detailliert erzählt. Bei dem sozialen Netzwerk „Kaixin“ wurde die Geschichte vom sinophilen Hitler 170.000 Mal gelesen und 40.000 Mal kommentiert.

Dieser Text geistert auch heute noch durch die Mikroblogs und trägt weiterhin dazu bei, die Hitler-Figur aus ihrem historischen Kontext zu lösen und zu mythisieren. So ist das chinesische Internet eben, könnte man meinen. Alles, was irgendwie in vorhandene Denkmuster passt, verbreitet sich wie ein Virus. Und weil das nicht immer im Sinne der chinesischen Regierung ist, bemüht man sich, bisher vollkommen vergeblich, die brodelnde Gerüchteküche unter Kontrolle zu bringen. Liebe chinesische Regierung. Macht es euch doch nicht so schwer. Das Prinzip heißt Aufklärung und es beruht darauf, sich über die Dinge in dieser Welt zu informieren. So und jetzt gut zugehört: Ich zeig Euch mal, wie das funktioniert. Die Fakten:

Abgesehen davon, dass Hitler im Zweiten Weltkrieg ein Verbündeter der Japaner war und damit politisch die Mitschuld trägt an den grausamen Verbrechen am chinesischen Volk, wie dem Massaker in Nanjing, gibt es noch weitere Belege für die Unsinnigkeit der Aussage, dass Hitler eigentlich ein „Freund Chinas“ war. Als zum Beispiel der Deutsche John Rabe 1938 nach Deutschland zurückkehrte und Hitler in zahllosen und heute gut dokumentierten Briefe um Hilfe für das chinesische Volk bat und über die Gräueltaten der Japaner auf Vorträgen berichtete, als er Hitler also um Unterstützung für das chinesische Volk bat, wurde er von der Geheimpolizei verhaftet.

Unter den Opfern des Nationalsozialismus waren auch Chinesen. Mehrere hundert Chinesen, die damals in Berlin und Hamburg lebten, waren nach dem Machtantritt der Nazis ständig in Lebensgefahr. Durch die Rassenpolitik verschärfte sich ihre Situation. Viele wurden verhaftet und ausgewiesen, anderen gelang es, rechtzeitig unterzutauchen oder zu flüchten, aber für zwanzig Gefangene gab es keine Rettung und sie starben während der Zwangsarbeit.

Sicher, die Idee, dass Hitler ein stiller China-Verehrer gewesen sein soll und in seinem Memoiren über seine liebevolle asiatische Ersatzfamilie geschrieben hat, klang für mich vom ersten Moment wie ein reines Hirngespinst. Nicht zuletzt deswegen, weil die einzigen existierenden Memoiren Hitlers, die Hitler-Tagebücher, eine dreiste Fälschung waren. Aber auch die Art und Weise wie der chinesische Internet-Text geschrieben wurde, lässt vermuten, dass jemand ganz bewusst eine Lüge in die Welt gesetzt hat, aus welchen Gründen auch immer.

Ich habe mich aber nicht damit begnügt, diese These ungeprüft als Unfug abzutun, sondern ich habe mir Hitlers Buch „Mein Kampf“ besorgt, denn dieser Text ist ja das Einzige, was mit dem Wort Memoiren gemeint sein könnte. Ich hab „Mein Kampf“ nach Stichworten wie „China“, „Chinesen“ und „Sunzi“ durchsucht. China kommt nur ein einziges Mal darin vor und zwar als banales Beispiel für ein großes Land. Auch das Wort „Chinesen“ erwähnt Hitler nur ein Mal, nämlich als er seine Rassenlehre erläutert und feststellt, dass es ein vollkommener Irrtum sei, anzunehmen, dass ein Chinese, oder ein Neger (sic) durch das Erlernen der deutschen Sprache, zu einem Deutschen werden könne, weil das Deutsch-Sein eben im Blut und nicht in der Sprache sei. Hitler argumentiert in diesem Zusammenhang, dass eine Zuwanderung bzw. eine Durchmischung des deutschen Blutes langfristig dazu führen würde, dass Deutschland sich abschafft. Na, das kennen wir ja.

Über die Kriegs-Lehre des Sunzi verliert Hitler in „Mein Kampf“ kein einziges Wort. Und auch wenn die chinesischen Hitler-Fans das vielleicht nicht so toll finden: Hitlers Weltanschauung, seine rassistische Verachtung von Menschen, die kein rein-germanisches Blut in den Adern haben, ist nicht von der chinesischen Kultur beeinflusst. Das hat der sich ganz alleine ausgedacht, oder von anderen rassistischen Wirrköpfen kopiert.

Es gibt noch einen weiteren Aspekt, den ich hier erwähnen möchte. Vor kurzem hat ein chinesischer Wissenschaftler einen Vortrag auf Deutsch gehalten, in dem er Belege dafür präsentiert hat, dass es während der Hitler-Diktatur eine Reihe von militärischen, kulturellen, aber auch menschlichen Kontakten zwischen China und Deutschland gab. Er hat Fotos, Tagebucheinträge und Dokumente präsentiert. Ich erinnere mich auch, dass er von deutsch-chinesischen Ehepaaren berichtet hat, die in dieser Zeit fast unbehelligt leben konnten. Ich zweifle kaum an der Echtheit der Dokumente, was mich bei dem Vortrag nur sehr befremdet hat, ist die Tatsache, dass der chinesische Wissenschaftler auf die historisch belegten Verbrechen des Hitler-Regimes am chinesischen Volk so gut wie nicht eingegangen ist.

Sicher macht man es sich zu leicht, wenn man ein Regime, einen Politiker, eine Epoche historisch eindeutig einordnet oder wie in diesem Fall vielleicht sogar dämonisiert. Aber man muss doch zunächst mit der Darstellung der wesentlichen Ereignisse beginnen, um dann dem Schwarz-Weiß-Bild auch die nötigen Grautöne hinzufügen zu können.