#3 Schönes neues China: Kein Artenschutz für Hasenväter

 

Unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Da sind wir nicht so streng. Es ist doch auch wichtig, dass einem der Job Spaß macht. Er kann es sich also selbst aussuchen. Zahnarzt oder Rechtsanwalt. Und er hat auch noch ein bisschen Zeit. Er ist zwei. Sein kleiner Bruder hat leider nicht mehr so viel Freiheit. Wenn der Große Zahnarzt werden möchte, und im Moment sieht es so aus, dann wird der Kleine Rechtsanwalt. Als Familie sind wir sonst etwas zu einseitig ausgerichtet.

Das Ganze war ein Kompromiss. Die Eltern von Ehefrau sind da nicht so tolerant. Den Beruf selbst wählen? Nein, soetwas wissen die Eltern doch viel besser. Die berufliche Laufbahn liegt sicher und sanft in den sorgenden Händen der Familie. Und wenn man die lieben Kleinen auf einen steinigen Karriereweg schickt, sollte man nicht kurz vor dem Bewerbungsgespräch anfangen. Das Rennen wird am Anfang verloren, sagt man in China und so wird also von Beginn an trainiert, geschult, geschunden, gelehrt und geschlagen. Aber immer im Sinne der Kinder. Sie werden es einem danken. Eines Tages, wenn Sie einen guten Job haben, ihre düstere Kindheit vorüber und die Narben verheilt sind, dann werden sie froh sein, dass wir unnachgiebig mit ihnen waren. Dass man für die Familie, das ganze Land und natürlich auch für die Kinderchen selbst das meiste aus ihnen herausgeholt hat. Und ach, was werden mit dieser Methode für Fortschritte erzielt. Fortschritte, von denen die Kuscheltierpädagogen des Westens nur träumen können.

Vor inzwischen fast zehn Jahren, da ging ein Raunen durch die deutschen Lande. Hast du es schon vernommen? Hast du es schon gehört? Es ist unglaublich! Die Chinesen! Ja, in Shanghai, da haben sie mitgemacht beim amtlich zertifizierten Bildungsarmdrücken der Weltjugend, auch bekannt als PISA. Und bei dieser weltumspannenden Schul-Spartakiade hat nun die chinesische Volksrepublik, vertreten durch eine Mannschaft aus kurzsichtigen und humorlosen Lernautomaten gleich auf Anhieb den ersten Platz gemacht. Weltspitze in den Disziplinen Lesen, Rechnen, fleißig sein. Die Chinesen! Nein, doch, oh! Wer hätte das gedacht.

Und es ist ja wirklich auch der Wahnsinn. Was der Chinese nicht alles lernen kann, wenn, und das bleibt zu beachten, ja wenn er denn nur früh genug damit anfängt. Was Xiao Wang nicht gelernt hat, das wird Lao Wang erst recht nicht lernen, auch wenn man es in seinen Schädel kloppt. Nein, dann ist es zu spät und das Leben verhunzt. Das kann passieren, muss aber nicht, wenn man, wie schon gesagt, einfach ganz früh anfängt. Und mit früh meine ich hier nicht den Kindergarten oder die Vorschule. Denn dort gibt es in China bereits die ersten Prüfungen.

Bildungbiografien beginnen in China deutlich vor der Geburt. Tai Jiao ist das Stichwort. Das klingt ein bisschen wie Tai Qi, ist aber kein Schattenboxen. Tai Jiao bedeutet „Embryoerziehung“ und es ist genau das. Vorgeburtliche Erziehung. Mozart am Schwangerschaftsbauch. Es sollen schon Gedichte rezitierende Ehemänner am Bauch der Gattin gesichtet worden sein, Bauchnabel als Mikrophon. Wichtig ist auch, dass die werdende Mutter sich während der Schwangerschaft ausreichend geistig betätigt, denn auf diese Weise lernt das Kind gleich mit.

Früh übt sich, wer eine Tigermutter sein will. Apropos Tiger: Der Text von Bruder Jakob geht auf Chinesisch so: „Zwei Tiger, zwei Tiger, laufen schnell, laufen schnell. Einer ohne Ohren, einer ohne Schweif. Sehr seltsam. Sehr seltsam.“ Daran musste ich manchmal denken, als ich das Buch von Amy Chua gelesen habe. Auf Deutsch heißt es „Die Mutter des Erfolgs“, im Original trägt es den schönen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mom“. Ich musste beim Lesen an dieses Kinderlied mit den zerzausten Tigern denken, weil vieles in dem Buch auch sehr seltsam ist. Hinzu kommt, dass die arme Autorin von bösen Gutmenschen-Westeltern immer wieder ganz schön hart rangenommen und arg zugerichtet wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.

Die Grundthese des Buches geht in etwa so: Wenn sich deine Kinder fragen, ob das jetzt ein Bootcamp ist, oder das eigene Zuhause, dann läufts mit der Erziehung. Westliche Eltern sorgen sich um die Psyche der Kinder. Chinesische Eltern nicht. Sie setzen Stärke voraus. Keine Schwäche. Chinesen verlangen erstklassige Noten in allen Fächern, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Ist ein Kind nicht spitzenklasse, gehen sie davon aus, dass es sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen und zu beschädigen. Das steht da so in diesem Buch!

In dem Buch sitzt Amy Chua einmal mit unchinesisch sozialisierten Hasenmüttern gesellig zusammen. Ganz beiläufig erzählt die heroische Tigermutter, dass sie ihre Tochter hin und wieder als „menschlichen Müll“ bezeichnet, wenn ihren Ansprüchen an angemessene Menschendressur nicht genüge getan wird. Und da empören sich die kuschelpädagogisch verhätschelten Westmütter derart. Eine dieser verweichlichten Psycho-Mamas verlässt sogar die Tupperparty. Um Himmels Willen! Aber warum wollen sie denn nicht verstehen, dass Amy Chua selbst, gequält und gedemütigt von ihren eigenen Eltern es ohne Tortur niemals geschafft hätte, jene anerkennungsgeile, inzwischen sogar weltweit bekannte Erfolgsfetischistin zu werden, die sie ist. Auch sie hat all das doch nur erreichen können durch die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche, ihrer Individualität und Persönlichkeit. Und dass das nichts als wohlstandsverwarloster Firlefanz ist, weiß doch jeder. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach Schulnoten, Klavierpokalen und der Färbung der Abdrücke am Geigenhals. Und das ist doch alles nur der Anfang.

In einigen chinesichen Schulen gibt es jetzt Gesichtserkennungssoftware, die die Ausdruck auf Aufmerksamkeit analysiert. Da lässt sich in Sachen Kinderdressur noch einiges optimieren im schönen neuen China. Von nichts kommt nichts. Wenn man Fußballprofi werden will, dann muss man doch auch die Schindereien eines Felix Magath ertragen. Und wenn man ein gutes, angepasstes, auf Unterordnung gedrilltes Mädchen werden möchte – und wer um Himmels willen möchte das nicht – der wird es, wenn nicht jetzt, doch ganz bestimmt im Nachhinein einsehen, dass die Mutter zur Furie werden musste.

Aber unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Der zweite hat es da nicht ganz so leicht.

Wir alle sind nur die Kopie eines längst gelöschten Originals

Man könnte mir vorwerfen, dass der Untertitel „Gebrauchsanweisung für den erfolgreichen Kulturschock“ nicht besonders originell ist. Man könnte sogar sagen, dass er geklaut ist. Das ist etwas drastisch formuliert, aber vollkommen korrekt. Es ist geklaut und das ist auch gut so. Denn ich berufe damit auf die chinesische Shanzhai-Kultur, in der Nachahmung zur Kunstform wird und deren Protagonisten die Konzepte „Originalität“ und „Echtheit“ für belangloses Beiwerk ihrer Arbeit halten. Shanzhai, das ist auch der Gedanke, dass sich geistiges Eigentum so wenig einzäunen lässt wie wilde Pferde. Aber das ist nicht der einzige Grund für mein hier vorgetragenes Loblied auf die Kopie. Wenn man wissen möchte, welche Auswirkungen der Originalitätszwang und die Tabuisierung der Kopie zum Beispiel auf die westliche Pop-Kultur hat, dann empfehle ich einen Blick in den Kleiderschrank von Lady Gaga. Da wird dann vielleicht mancher ausrufen: „Oh, ein Fleischkleid, das ist ja mal was anderes. Sehr originell und kreativ.“ Und falsch ist das nicht, denn ein Fleischkleid gab er vor Lady Gaga noch nicht.

 

Innovation und Kreativität stehen in der westlichen Kultur derzeit im Allgemeinen sehr hoch im Kurs. Die Kopie wird hingegen verachtet. Sie erscheint uns wertlos. Aber ist nicht die Kopie, die Nachahmung des Guten und des Erfolgreichen der Kern einer jeden kulturellen Veränderung? Picasso sagte: „Gute Künstler kopieren, großartige Künstler klauen.“ Und Goethe. Als der seinen Faust schrieb, da war diese Geschichte über den zum Okkulten neigenden Wissenschaftler längst ein alter Hut. Ein sogenanntes Volksbuch von Johann Spies war schon im sechzehnten Jahrhundert ein großer Erfolg. Dieses Buch war so beliebt, dass es davon eine ganze Reihe von nicht-autorisierten Nachdrucke gab. Heute würde man wohl Raubkopien dazu sagen.

Und Goethe selbst, war der jetzt ein Raubkopierer? Im Grunde schon. Denn Goethes Faust war nicht einmal das erste Theaterstück zu diesem Stoff. Das schrieb der Engländer Christopher Marlowe etwas mehr als zweihundert Jahre zuvor. Goethe, der Inbegriff des deutschen Ur-Genies, sozusagen der Ur-Urheber, war noch nicht einmal der Erste, dem Ganzen im Kontext der Aufklärung eine neue Bedeutung verlieh. Das was Lessing.

Goethes Faust ist also in erster Linie eine Adaption, eine Kopie, ein Mash-Up. Ein weiteres Beispiel ist der Buchdruck. Die Rechte an dem Gerät, das maschinelles Kopieren von Texten überhaupt erst ermöglicht hat, würden heute vielleicht vor einem Patent-Gericht verhandelt werden. Denn als damals Johannes Gutenberg das Drucksystem entwickelte, waren bereits über vierhundert Jahre vergangen, seit der Chinese Bi Sheng bewegliche Letter erfand. Und so ist es bei den meisten genialen Schöpfungen der Menschheitsgeschichte. Sie sind Adaptionen, Kopien, Mash-Ups – bis heute. Das erste soziale Netzwerk der Welt hieß nicht Facebook. Es trug den schönen Namen 5460 und wurde in China programmiert. Und auch die erste Video-Plattform war nicht YouTube.

Seit ich meine Ansichten über China, Deutschland und die Welt, zu Papier, oder vielleicht besser gesagt, zu Pixel bringe, mache ich mir auch Gedanken darüber, in welcher Form. Ich könnte ja vielleicht ein Buch schreiben, um damit mein Taschengeld ein wenig aufzubessern. Ein wenig gegrillter Hund, Konkubinen, kleine Kaiser und Panikmache vor der kommunistischen Weltherrschaft – und fertig ist der deutsche China-Bestseller.

Aber gedruckte Bücher, diese Lieblingsdekorationen deutscher Wohnzimmer, haben einen großen Nachteil. Das Kopieren ist aufwändig und teuer. Und noch etwas ist mir dann eingefallen: Warum sollte ich für Geld schreiben? Ich habe doch so viel China-Kompetenz und da gibt es derzeit viel bessere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als mit dem Schreiben von Büchern: Ich könnte zu Beispiel mit Plastikschrott handeln. Oder ich könnte Autofirmen helfen, noch mehr Fabriken zu bauen, in denen benzinfressende Luxuskarossen für die Zweitfrauen von korrupten Beamte produziert werden und die Arbeiter zum Hungerlohn für die Yachten der Aktionäre schuften. Es gibt es doch noch so viel zu tun für China-Kenneren? Warum sollte man da überhaupt jemand Bücher schreiben? Das lohnt sich doch kaum noch.

Es wäre aber schon schön, wenn das hier jemand liest oder hört. Ich geb mir ja Mühe. Ich wollte daher zunächst wissen, welche Aspekte die Deutschen beim Thema China besonders interessieren. Und ich hätte fast McKinsey angeheuert, das Potenzial zu evaluieren. Das war mir aber doch zu teuer. Deswegen habe ich dann einfach bei Amazon nachgesehen, welche Bücher besonders oft gekauft werden.

Relativ schnell hat sich herausgestellt, dass die Deutschen besonders gerne Ratgeber und „Gebrauchsanweisungen“ kaufen – für die schnelle Orientierung im richtigen Umgang mit der neuen Supermacht. Außerdem ist mir aufgefallen, dass die Worte „Schock“, und „erfolgreich“ bei fast jedem zweiten Buch auftauchen.

Das, was die Deutschen über China wissen wollen, findet also hauptsächlich im semantischen Feld dieser drei Worte statt. Zunächst einmal ist da der Schock: „Hilfe, die Chinesen erobern den Planeten. Und die sind ja so anders. Ahh. Hilfe.“ Dann kauft man sich ein Buch von einem Chinakenneren, einen Ratgeber, eine Gebrauchsanweisung, in der die Dinge stehen, die man wissen muss, um mit dem Problem angemessen umzugehen. Und am Ende steht dann der „Erfolg“ und alles ist wieder gut.

Diese Methode erinnert an das Buch „Den Himmel gibt’s echt“. Das ist ein Buch über die Nahtoderfahrung eines Vierjährigen und in einer Rezension hieß es, es könne „Eltern und vor allem Kindern helfen, besser mit dem schwierigen Thema Tod umzugehen.“ Das klingt, als wäre der Tod therapierbar, oder als ob er mit der richtigen Gebrauchsanleitung zum Kinderspiel wird. So in der Richtung: „Sterben für Dummys – Alles was sie wissen müssen“. Und so ist es offenbar auch beim Thema China. Viele Leute glauben, dass China sich schon irgendwie zurecht-erklären und in ein eindimensionales und manchmal auch dekadentes Weltbild integrieren lässt. Einige Menschen haben die Hoffnung, dass die Globalisierung nach dem McDonalds-Prinzip funktioniert und für uns im Westen im Grunde alles beim Alten bleibt. So wird es aber wahrscheinlich nicht kommen. Denn die Chinesen kopieren vor allem unsere intellektuelle Open-Source-Software und viele dieser Kopien übertreffen schon heute das Original.

Wenn in China ein Geschäft eröffnet wird und erfolgreich ist, dann dauert es meist nur wenige Monate, bis direkt daneben ein Laden aufmacht, der den Erfolg bis ins Detail kopiert, und nicht nur einer. Ich kenne in Peking ganze Straßen, die bestehen nur noch aus Geschäften für Musikinstrumente oder Schreibutensilien oder sonst etwas. Und keiner stört sich daran.

Im Internet gibt es keine Straßen. Da gibt es Suchmaschinen und da muss man sich seine Nachbarschaft nach Wortverwandtschaften aussuchen, um gefunden zu werden. Wenn ich mich also begrifflich mit einigen fremden Federn schmücke, dann aber nur mit denen, die ich auf der Straße gefunden habe und denen, die man ohnehin nicht weiter verfolgen kann, als bis in ein digitales Creative-Commons-Universum, in dem wir alle nicht mehr und nicht weniger sind, als die fehlerhafte Kopie eines längst gelöschten Originals.