#1 Netzchinesisch Buzz – Douyin

Douyin (抖音) bedeutet auf Chinesisch „schütteln Töne“ und so ist es auch. Und Douyin ist schnell, sehr schnell. Als hätte Youtube vergessen, sein Ritalin zu nehmen. Zu Beginn wundert man sich noch, warum gerade diese App so durch die Decke geht, aber nach etwa fünf Minuten hat man etwas gefunden, was einem gefällt. Ein ziemlich dicker junger Mann tanzt, Landschaft, Berge, Bungee-Jumping. Eine Frau malt ein Aquarell, Play-Back-Sänger, Witze, Make-Up-Tutorials, Tanzeinlagen. Alles trommelt auf die Hirnrinde, fast immer im Takt der Musik, die den meisten Videos hinterlegt ist.

Die meisten, die Douyin ausprobiert haben, sagen, dass es süchtigt macht. Die App ist eine Synapsenspülung, die man vom Zappen im Fernsehen kannte, und die man im Social Media durch heftiges Durchwischen des News-Feeds erreichen konnte. Aber Douyin hat einige Features, die das Ganze eine Nummer schneller machen:

 

  • Anders als z.B. bei Youtube scrollt man bei Douyin durch die Videos, die sofort starten. Was einem nicht gefällt, wischt man weg. Dadurch wird man mit Videocontent geradezu bombardiert.
  • Die Videos sind alle im Hochformat. Die Plattform hat keine Wurzeln in der Computerwelt, nur das Smartphone ist das Medium.
  • Die meisten Videos sind nur 15 Sekunden lang. Ein Blick, ein Lacher, ein Tanzmoove und das war es auch schon wieder. Nichts kann langweilen.
  • Der Algorithmus achtet sehr genau darauf, was man wie lange ansieht und was man favorisiert. Schnell bekommt man Videos in den Feed, die nach den eigenen Vorlieben ausgesucht sind.
  • Aufnehmen geht kinderleicht. Mit dem Smartphone hat man ein Video in wenigen Minuten aufgenommen, mit Musik hinterlegt und bearbeitet.
  • Es gibt zahlreiche Filter, die einen sofort jünger, schlanker und attraktiver aussehen lassen. Die meisten Protagonisten der Videos haben Comic-artige Züge.

Hier ein Showreel:

 

Inzwischen hat sich die Plattform erweitert. Live-Streaming ist eines der Features, die hinzugekommen sind. Luxus-Marken machen dort Werbung. Eine Version unter dem Namen TikTok lässt sich in den Appstores außerhalb des chinesischen digitalen Ökosystems herunterladen. TikTok hat aktuell die höchsten Downloadzahlen aller Nicht-Spiele-Apps weltweit.

 

 

#3 Schönes neues China: Kein Artenschutz für Hasenväter

 

Unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Da sind wir nicht so streng. Es ist doch auch wichtig, dass einem der Job Spaß macht. Er kann es sich also selbst aussuchen. Zahnarzt oder Rechtsanwalt. Und er hat auch noch ein bisschen Zeit. Er ist zwei. Sein kleiner Bruder hat leider nicht mehr so viel Freiheit. Wenn der Große Zahnarzt werden möchte, und im Moment sieht es so aus, dann wird der Kleine Rechtsanwalt. Als Familie sind wir sonst etwas zu einseitig ausgerichtet.

Das Ganze war ein Kompromiss. Die Eltern von Ehefrau sind da nicht so tolerant. Den Beruf selbst wählen? Nein, soetwas wissen die Eltern doch viel besser. Die berufliche Laufbahn liegt sicher und sanft in den sorgenden Händen der Familie. Und wenn man die lieben Kleinen auf einen steinigen Karriereweg schickt, sollte man nicht kurz vor dem Bewerbungsgespräch anfangen. Das Rennen wird am Anfang verloren, sagt man in China und so wird also von Beginn an trainiert, geschult, geschunden, gelehrt und geschlagen. Aber immer im Sinne der Kinder. Sie werden es einem danken. Eines Tages, wenn Sie einen guten Job haben, ihre düstere Kindheit vorüber und die Narben verheilt sind, dann werden sie froh sein, dass wir unnachgiebig mit ihnen waren. Dass man für die Familie, das ganze Land und natürlich auch für die Kinderchen selbst das meiste aus ihnen herausgeholt hat. Und ach, was werden mit dieser Methode für Fortschritte erzielt. Fortschritte, von denen die Kuscheltierpädagogen des Westens nur träumen können.

Vor inzwischen fast zehn Jahren, da ging ein Raunen durch die deutschen Lande. Hast du es schon vernommen? Hast du es schon gehört? Es ist unglaublich! Die Chinesen! Ja, in Shanghai, da haben sie mitgemacht beim amtlich zertifizierten Bildungsarmdrücken der Weltjugend, auch bekannt als PISA. Und bei dieser weltumspannenden Schul-Spartakiade hat nun die chinesische Volksrepublik, vertreten durch eine Mannschaft aus kurzsichtigen und humorlosen Lernautomaten gleich auf Anhieb den ersten Platz gemacht. Weltspitze in den Disziplinen Lesen, Rechnen, fleißig sein. Die Chinesen! Nein, doch, oh! Wer hätte das gedacht.

Und es ist ja wirklich auch der Wahnsinn. Was der Chinese nicht alles lernen kann, wenn, und das bleibt zu beachten, ja wenn er denn nur früh genug damit anfängt. Was Xiao Wang nicht gelernt hat, das wird Lao Wang erst recht nicht lernen, auch wenn man es in seinen Schädel kloppt. Nein, dann ist es zu spät und das Leben verhunzt. Das kann passieren, muss aber nicht, wenn man, wie schon gesagt, einfach ganz früh anfängt. Und mit früh meine ich hier nicht den Kindergarten oder die Vorschule. Denn dort gibt es in China bereits die ersten Prüfungen.

Bildungbiografien beginnen in China deutlich vor der Geburt. Tai Jiao ist das Stichwort. Das klingt ein bisschen wie Tai Qi, ist aber kein Schattenboxen. Tai Jiao bedeutet „Embryoerziehung“ und es ist genau das. Vorgeburtliche Erziehung. Mozart am Schwangerschaftsbauch. Es sollen schon Gedichte rezitierende Ehemänner am Bauch der Gattin gesichtet worden sein, Bauchnabel als Mikrophon. Wichtig ist auch, dass die werdende Mutter sich während der Schwangerschaft ausreichend geistig betätigt, denn auf diese Weise lernt das Kind gleich mit.

Früh übt sich, wer eine Tigermutter sein will. Apropos Tiger: Der Text von Bruder Jakob geht auf Chinesisch so: „Zwei Tiger, zwei Tiger, laufen schnell, laufen schnell. Einer ohne Ohren, einer ohne Schweif. Sehr seltsam. Sehr seltsam.“ Daran musste ich manchmal denken, als ich das Buch von Amy Chua gelesen habe. Auf Deutsch heißt es „Die Mutter des Erfolgs“, im Original trägt es den schönen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mom“. Ich musste beim Lesen an dieses Kinderlied mit den zerzausten Tigern denken, weil vieles in dem Buch auch sehr seltsam ist. Hinzu kommt, dass die arme Autorin von bösen Gutmenschen-Westeltern immer wieder ganz schön hart rangenommen und arg zugerichtet wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.

Die Grundthese des Buches geht in etwa so: Wenn sich deine Kinder fragen, ob das jetzt ein Bootcamp ist, oder das eigene Zuhause, dann läufts mit der Erziehung. Westliche Eltern sorgen sich um die Psyche der Kinder. Chinesische Eltern nicht. Sie setzen Stärke voraus. Keine Schwäche. Chinesen verlangen erstklassige Noten in allen Fächern, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Ist ein Kind nicht spitzenklasse, gehen sie davon aus, dass es sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen und zu beschädigen. Das steht da so in diesem Buch!

In dem Buch sitzt Amy Chua einmal mit unchinesisch sozialisierten Hasenmüttern gesellig zusammen. Ganz beiläufig erzählt die heroische Tigermutter, dass sie ihre Tochter hin und wieder als „menschlichen Müll“ bezeichnet, wenn ihren Ansprüchen an angemessene Menschendressur nicht genüge getan wird. Und da empören sich die kuschelpädagogisch verhätschelten Westmütter derart. Eine dieser verweichlichten Psycho-Mamas verlässt sogar die Tupperparty. Um Himmels Willen! Aber warum wollen sie denn nicht verstehen, dass Amy Chua selbst, gequält und gedemütigt von ihren eigenen Eltern es ohne Tortur niemals geschafft hätte, jene anerkennungsgeile, inzwischen sogar weltweit bekannte Erfolgsfetischistin zu werden, die sie ist. Auch sie hat all das doch nur erreichen können durch die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche, ihrer Individualität und Persönlichkeit. Und dass das nichts als wohlstandsverwarloster Firlefanz ist, weiß doch jeder. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach Schulnoten, Klavierpokalen und der Färbung der Abdrücke am Geigenhals. Und das ist doch alles nur der Anfang.

In einigen chinesichen Schulen gibt es jetzt Gesichtserkennungssoftware, die die Ausdruck auf Aufmerksamkeit analysiert. Da lässt sich in Sachen Kinderdressur noch einiges optimieren im schönen neuen China. Von nichts kommt nichts. Wenn man Fußballprofi werden will, dann muss man doch auch die Schindereien eines Felix Magath ertragen. Und wenn man ein gutes, angepasstes, auf Unterordnung gedrilltes Mädchen werden möchte – und wer um Himmels willen möchte das nicht – der wird es, wenn nicht jetzt, doch ganz bestimmt im Nachhinein einsehen, dass die Mutter zur Furie werden musste.

Aber unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Der zweite hat es da nicht ganz so leicht.

#2 Schönes neues China: Die Geburt der Deunesen

 

Wir haben jetzt zwei Söhne. Zwei deunesische Stammhalter. Zwei kleine Kaiser. In China ist das gerade in den großen Städten immer noch sehr selten. Denn obwohl die Ein-Kind-Politik im Jahre 2015 vollständig beendet wurde, bekommen Großstadtchinesen selten mehr als ein Kind. Zu teuer.

Unser erster Sohn ist in Berlin geboren. Der zweite in Beijing. Einiges war bei beiden Geburten gleich. Einiges ist ja immer gleich. So hat sich Dingding bei beiden Schwangerschaften immer plötzlich übergeben. Im Auto oder auch in die Einkaufstüten. Ihr wurde auch immer wieder ganz „windelig“, wie sie es nannte.

Einiges war aber auch ganz anders. Für die erste Geburt in Berlin war Schwiegermutter Laoma eigens aus China angereist, als Yuesao: Wochenbettlerin. Hebammen gibt es in China nicht wirklich. Dafür ist aber die Nachsorge um so sorgenvoller.

Es ist soweit. Wir sind im Martin-Luther-Krankenhaus und Laomao sitzt neben mir. Sie sagt, dass es doch viel besser wäre, wenn Ehefrau ihr Kind in China bekommen würde. Bei Problemen könnte man die Verwandten fragen. Die würden schon wissen, was zu tun ist. Ich sage nichts, weil ich der Meinung bin, dass die Verwandten von Ehefrau regelmäßig Hokuspokus mit Medizin verwechseln. Stattdessen zeige ich Laoma das CTG, an das Ehefrau angeschlossen ist und das etwas ganz Wichtiges misst. „Hier, diese Zahl, die zeigt an, wie hoch das CGT ist“, erkläre ich und tippe an den Apparat, bei dem sofort ein rotes Warnlicht aufleuchtet. Daraufhin stürmt eine Ärztin herein, schimpft mit mir und geht wieder. Kurz darauf ist sie wieder da. Dingding hatte einen Blasensprung. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragt Laoma Chinesisch. „Ach“, sagt die Ärztin mit Berliner Dialekt „Ick mach hier jetzt erst mal det CTG zu Ende und denn gucken wa. Ick hör hier erst uf, wenn jemand davonschwimmt.“ „Was hat die Ärztin denn denn gesagt?“, fragt Laoma. Ich übersetze die Diagnose und aber meine Schwiegermutter versteht sie nicht. Berliner Humor lässt sich schwer ins Chinesische übersetzen. Ohnehin ist eine Geburt in einem deutschen Krankenhaus für Chinesen eine Herausforderung.

Als wir den Kreissaal zum ersten Mal besichtigten, ist Ehefrau überrascht. Es gibt einen Gymnastikball, eine Badewanne und eine Sprossenwand. „Man kann det och in Bett tun“, sagt die Schwester. „Det muss aber nicht.“ „Das ist ja wie im Puff in Dongguan“ sagt Ehefrau auf Chinesisch und als die Ärztin fragt, was sie gesagt habe, antworte ich. „Sie findet es sehr schön.“ Denn auch Tianjiner Humor ist schlecht zu übersetzen.

Dingding und ich waren vorher bei einem Schwangerschaftsvorbereitungskurs. Zusammen. Beide. Eine Tatsache, die bei meinen chinesischen Verwandten große Verwunderung auslöste. Chinesische Männer beschäftigen sich mit einer Geburt normalerweise eher indirekt. Und Schwangerschaftsvorbereitung besteht in China vor allem darin, der Frau orakelnde Ernährungstipps zu geben. Es wird zum wichtigsten Thema überhaupt, welche Tier- und Pflanzenarten aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt herangeschafft werden könnten. Großtanten sind sich ganz sicher, dass dieses oder jenes getrocknete Kraut oder Tier sich ausgesprochen positiv auf die Schwangerschaft auswirkt. Ich habe zwei Wochen vor der Geburt auf einem russischen Fischmarkt in Berlin nach einer Art Forelle mit vier Bauchflossen gesucht. Dass Dingding auch auf Ratschläge von geschulten Ärzten hörte, löste bei der chinesischen Verwanschaft Unverständnis aus. Und dass ein Mann, um Gottes Willen ein Mann, bei der Geburt dabei sein möchte und deswegen fachliches Vorwissen erwirbt, das ist äußerst ungewöhnlich.

Dabei war er sehr hilfreich, unser deutscher Hechelkurs. Auch wenn, wie die Hebamme uns aufklärte, da heutzutage gar nicht mehr gehechelt wird. Es sei denn man kommt zu spät und ist ganz außer Atem. Aber wir haben in dem Kurs ganz andere Sachen gelernt. Über den menschlichen Körper und das Leben im Allgemeinen. So eine Geburt hat etwas sehr Dramatisches. All die Schmerzen. Es geht um Leben und Tod. Fast so wie in der zweiten Staffel von Breaking Bad oder in der ersten von Game of Thrones.

Deutsche Hebammen sind im Allgemeinen recht verspielt in der Sprache. „Sternengucker“ nennen sie die Kinder, die mit dem Gesicht nach oben geboren werden. Eine „Glückshaube“ ist eine nicht geplatzte Fruchtblase. Unsere Hebamme Linda hatte ein Talent, die Dinge auf den Punkt zu bringen. „Jede Frau hat einen Topf voller Wehen“, sagte sie. „Darum sollte man sich immer freuen, wenn eine kommt. Wenn der Topf leer ist, hat man es geschafft. Mehr kommen dann nämlich nicht.“ „Wehen sind keine Einzelgänger“, sagte sie auch. „Sie kommen im Rudel.“ Und: „Die Atmung der Frau ist wie ein Treppengeländer, an dem man sich festhält.“ Ganz wichtig war Linda auch das Vertonen der Wehen, also der konstruktive Umgang mit dem Geschrei der werdenden Mutter. „Vertonen, das ist ganz wichtig“, sagte sie. „Wehen muss man besonders am Ende immer vertonen. Aber ausschließlich mit Vokalen. Nie mit Konsonanten. Das stört bloß.“

Chinesische Frauen, so hat es mir Dingding erklärt und vorgemacht, vertonen die Wehen traditionell auch. Aber statt Vokale zu benutzen, beschimpfen bei den vor der Tür wartenden Ehemann. „Du bist an allem Schuld. Verdammter Mistbock. Alles nur wegen Dir. Ich hasse Dich.“ So klingen die vertonten Wehen im Reich der Mitte.

Eine thematische Vorbereitung auf eine Geburt findet in China normalerweise nicht statt. Das überlässt man den Ärzten und die wiederum nehmen da im Zweifelsfall dann auch lieber das Skalpell, als der Frau beim Vertonen der Wehen zuzuhören. China hat neben Brasilien die weltweit höchste Rate an Kaiserschnitten. Annähernd jedes zweite Kind kommt so auf die Welt.

Unser zweiter Sohn hat dann in einem Privatkrankenhaus in Peking das Licht der Welt erblickt. Auch wenn ich in meinen acht China-Jahren die meiste Zeit privat versichert war, bin fast nur in die gewöhnlichen Krankenhäuser gegangen. Wenn einem nichts Ernstes fehlt, ist es auch ganz lustig dort. Denn weil es in China keine niedergelassenen Ärzte gibt, geht man auch mit einer Erkältung dorthin. Im Winter sind die Gänge unbeheizt und die Menschen laufen in dicken Jacken über die Flure. Auf den Wartebänken sitzen Patienten mit Infusionschläuchen in den Armen. Denn in China bekommen eigentlich bei jeder Krankheit zuerst einmal eine Infusion. Und wenn man eine schwerere Krankheit hat, gibt man dem Arzt auf jeden Fall umgehend einen roten Umschlag mit einer ausreichend hohen Bargeldsumme. Denn sollte man das nicht machen, kann man kaum damit rechnen, dass sich jemand die Mühe einer fachgerechten Behandlung macht. Geburten finden in diesen Krankhäusern in gemeinschaftlichen Kreissälen statt und sein Essen muss man selbst mitbringen.

Für die Ankunft unseres zweiten Kindes sollte es dann aber ein Privatkrankenhaus sein: Family United. Und das war dann auch ganz schick und sauber mit eigenem Zimmer und Essen. Ungewöhnlich war nur, dass man die Geburt als Paket kaufen konnte. In China gibt es keinen Frisör, keinen Kinderspielplatz, keinen Fußmassagesalon und kein Café, in dem einem nicht die einfache, gehobene oder VIP-Mitgliedschaft nahegelegt wird. Natürlich immer verbunden mit kostenlosen Extras, Rabattaktionen und Vorzugsbehandlungen. Dass wir uns nun aber auch bei der Geburt zwischen Standard, Premium und Luxus entscheiden mussten, irritierte mich etwas. Konseqent und durchdacht fand ich allerdings die Preisgestaltung. Bei Zwillingsgeburten wurde für das zweite Kind nur die Hälfte berechnet, erklärte uns der Sales-Berater von Family United. Auch für jedes weitere Mehrlingskind galt die Aktion. Dingding und ich berieten uns kurz – das war ja wirklich ein gutes Angebot – entschieden uns dann aber in Ermangelung eines weiteren zu gebährenden Kindes für das Standard-Paket einfacher Ausführung.

#1 Schönes neues China: Ehefrau schlägt Auto

 

Ehefrau schlägt Auto und ich stehe dumm in der Gegend herum. So wie ich, seit wir wieder in China sind, sehr häufig dumm in der Gegend herumstehe. Ehefrau heißt ja eigentlich Ding, also im Doppeldiminuitiv dann Dingding. Aber seit wir verheiratet sind, ist mir das ziemlich egal. Wie sie heißt, meine ich. Denn wir sind verheiratet und nennen uns nicht mehr beim Namen. Meine Frau hat angefangen. Erst hat sie mich konsequent nur noch „Laogong“ also „Ehemann“ genannt und seit dem ersten Kind dann nur noch „Baba“. Wenn sie jetzt über mich spricht, dann sagt sie nur noch „Aiwen ta Ba“, also „Vater des Aiwen“, abgeleitet vom Namen unseres Erstgeborenen. Das ist in China vollkommen normal. Ich habe mir aber trotzdem mehrfach meinen ursprünglichen Eigenamen zurückgewünscht. Erfolglos. Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als mich den alltagskonfuzianistischen Kosekonventionen anzupassen. Ehefrau wird schon sehen, was sie davon hat.

Ein weißer Tiguan rollt auf uns zu. Ehefrau hat ihn mit ihrem Smartphone und Didi gerufen oder „herbeigeschlagen“, wie sie es auf Chinesisch so schön sagt. Früher, da schlug man sich in Peking ein Taxi. Da war das Schlagen von Autos noch echte Handarbeit. Mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, stoppte man einen der zahlreichen grüngelben Wägelchen. Dann musste man nur noch andere potenzielle Fahrgäste, die auf ein Taxi warteten, anschreien oder sich mit ihnen prügeln und schon saß man bequem im wohlig nach Knoblauch und Schweiß riechenden Hyundai. Wenn der Fahrer nicht wusste, wo der Ort liegt, an den man reisen wollte, hat er einfach einen Cousin dritten Grades angerufen und nach dem Weg gefragt. Diese Zeiten sind vorbei, in jedem Fall dann, wenn man Ehemann von Ehefrau ist.

Denn jetzt, jetzt gibt es Didi. Nein, nicht Didi Hallervorden, aber mindestens genau so bekloppt. Didi ist eine App, mit der private Kleinstunternehmer digital zu einer Beförderungsfahrt gerufen werden können. Ursprünglich hat sich das System jemand in Amerika ausgedacht und „Ueber“ genannt. Weil aber die Kommunistische Partei Chinas Unternehmen wie Ueber für digitalimperialistisches Teufelszeug hält, hat man ihnen den Marktzugang verwehrt. Deshalb floriert in Peking, Shanghai und all den anderen schönen Megacities jetzt nur noch Didi. Also quasi: Didi, der Doppelgänger. Von Ueber, jetzt…

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sage ich. „Heute ist kein Feiertag, es regnet nicht und es ist Mittagszeit. Zur Mittagszeit pflegt der Chinese pünklich zu essen. Da fährt er nicht mit dem Taxi“, erkläre ich. „Ja, aber eben auch kein Taxifahrer fährt mit dem Taxi“, erwidert meine Ehefrau. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich will mich überhaupt niemals streiten. Und so stehe ich dann eben dumm in der Gegend herum, während ein leeres Taxi nach dem anderen an uns vorüberfährt, bis dann viel später eben jener weiße Wagen in unsere Straße einbiegt.

Der fabrikneue VW Tiguan rollt langsam auf uns zu. Wir befinden uns zwischen dem Diplomatic Compound und dieser Mall, in der ein Schwimmbad, einen Fat-Burger, einige Beauty-Solons, einen Maßschneider und unseren Familienarzt Dr. Diedrich gibt. Es sind nur einige hundert Meter zwischen der Straßenecke und unserem Standort vor der Mall, aber schon auf dieser kurzen Strecke hat sich hinter dem Wagen ein Stau gebildet. Am Steuer des Autos sitzt eine Dame mittleren bis gehobenen Alters, die uns verstörend unsicher anlächelt und zuwinkt. Sie ist dann auch sichtlich erleichtert, als sie feststellt, dass wir ihre Fahrgäste sind, zu denen ihr Navigationssystem sie geleiten sollte. „Gefunden, geglückt, alles wird gut“, spricht es aus ihrem Gesicht mit einem Strahlen, das unverzüglich wieder verschwindet, als Ehefrau ihr gestikulierend deutet, dass sie doch bitte eine Kehrtwende, machen möge, um auf unsere Seite zu gelangen: einen U-Turn, wie es Neudeutsch so schön heißt. „Wenden?“ „Ich?“ „Mit diesem Ungetüm?“ „Das ist nicht Euer Ernst!“ spricht ihr erschrockenes Gesicht nun ganze Horror-Bände. Weil wir aber mit dem Kinderwagen und dem Schwangerschaftsbauch, den Ehefrau seit einigen Monaten stets mit sich durch die Gegend trägt, nicht mitten auf der Straße in einen weißen Tiguan einsteigen können, legt unsere Didi-Chaufferin aufgeregt und krachend einen, ich vermute den dritten Gang ein. Zeitlupisch bewegt sich der Wagen dann in wenigen Quantensprüngen pro Minute vorwärts und die Fahrerin vollführt offensichtlich das erste Wendemanöver ihres Lebens. Die Leute in den Autos dahinter sind inzwischen wütend ausgestiegen. Aber als sie die Hilflosigkeit der alten Dame bemerken, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als der Frau einweisend über die Straße zu helfen. Auch in der anderen Fahrtrichtung staut sich jetzt der Verkehr. Und dann doch. Die gemeinsamen Anstrengungen haben Erfolg: Wenden in vierundsechzig Zügen. Es ist vollbracht und kurz darauf setzt der Tiguan den Blinker und legt am Bordstein vor der Mall am.

„Taiyanggong?, fragt sie ängstlich, denn das ist die Adresse, die Didi ihr angezeigt hat. Unser Zuhause. Der Ort, an den es uns zieht, bepackt mit Einkaufstüten und Kindern in Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen. „Taxi!“, rufe ich verzweifelt. „Taxi! Taxi! Taxi!“ Ein freies Taxi hält hinter dem Tiguan, aber Ehefrau sagt, ich solle das doch bitte lassen. Ich solle kein Taxi schlagen, sonst schlüge sie vielleich doch noch mich, denn jetzt sei er ja da, unser digital bestellter Chauffeurservice. So bewege man sich eben als moderner Großsstadtchinese in der schönen neuen Welt. „Luohou“ sei ich, sagt sie „zurückgeblieben“, „rückständig“ „abgehängt“. Ich sah wärhenddessen dem davonfahrenden Taxi hinterher und verfrachtete unseren Erstgeborenen, unseren bald auch noch Zweitgeboreren samt Mutter und auch den Kinderwagen in den Tiguan und setzte mich neben die rüstige Fahranfängerin auf den Beifahrersitz. Die gute Frau nahm mich jedoch kaum wahr, hatte sie doch das On-Board-Navi und das Handy-Navi gleichzeitig eingeschaltet. Umgehen konnte sie mit keinem der beiden. Ehefrau und ich wiesen ihr den Weg. Am Autobahnkreuz Sanyuanqiao ordnete sie sich trotzdem falsch ein. Und wir fuhren eine Weile auf dem Highway Richtung Flughafen, wenden unmöglich.

An dieser Stelle muss ich aus dem autobiographischen Modus in den fiktionalen wechseln, weil ich keinen in China gültigen Führerschein besitze, es mir darum untersagt ist, hier Auto zu fahren und ich natürlich niemals das Gesetz brechen würde. Mein fiktionales Ich, mit der schwangeren Ehefrau, dem schlafenden Erstgeborenen, der rüstigen aber verzweifelte Dame im Tiguan ihres Neffen auf dem Weg zum Flughafen, bittet also die Fahrerin rechts ranzufahren und anzuhalten. Mein Erzähl-Ich übernimmt kurzerhand von der erleichterten Didi-Novizin das Steuer und fährt die Familie nach Hause. Dort angekommen, bietet das Ich dann der Fahrerin an, sie nach Hause ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ein Angebot, dass sie ohne zu Zögern annimmt. Von dort aus übernimmt dann wieder das biografische Ich. Und eben dieses Ich stoppt mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, eines der zahlreichen vorbeifahrenden Taxis um im trauten Heim auf dem Handy der Eefrau die Didi-Rechnung des heutigen Tages bestaunen zu dürfen.

Mietfahrräder – Das geht vorüber!

Ich muss mich doch sehr wundern. Da hatte man sich darauf eingestellt, dass der Siegeszug des Automobils in China unumkehrbar, unaufhaltsam und zudem auch noch unheimlich ungesund ist. Und dann das.

Vor ein paar Wochen radelte ich noch eingequetscht zwischen einem zwölftonnenschweren Hausfrauenpanzer, einem buntlackierten Mätressenhobel und einem dieser übermotorisierten Beamtenkinderspielzeuge durch meine bläulich flimmernde pekinger Wahlheimat. Nur ganz selten zeichnete sich die Silhouette eines der wenigen keuchhustenden Leidensgenossen auf einem beinkraftbetriebenen Zweirad im Abgasdunst ab.

Dann geschah etwas, was sich in letzten Monaten zwar angedeutetet hatte, in diesem Ausmaß aber dann doch überraschend kam. Es kam der Mietfahrräder-Hype. In China gibt es ja meist nur Hype oder Untergang, Millionär oder Hungerlöhner. Ganz oder gar nicht. Und nun also ganz. Irgendein Geschäftsmann stellte ein paar Mieträder auf die Straße. Per App gemietet und mit dem Handy bezahlt. Ein Kuai in der Stunde.

Es kam gut an. Sehr gut sogar. Seit diesem Frühling ist ein großer Teil der wieder wachsenden Zahl an Fahrrädern auf den Straße Pekings gemietet.

Wieviele? Übertreibe ich? Kann es sein, dass das so schnell geht? Nun, ich sitze hier gerade in einem Cafe. Ich mach mal eben eine Strichliste, wie viele herkömmliche und wie viele Mietfahrräder hier vorbeikommen. Am Ende dieses Textes kommt dann die Auswertung.

Vor ein paar Monaten erzählten mir meine Studenten davon. Und ich dachte: Och ja, das kenn ich aus Deutschland. Diese Bahnfahrräder gibt es doch schon so lange, dass ich noch von Studentenpartys damit nach Hause geradelt bin. Und das ist wirklich schon eine ganze Weile her. Und so richtig durchgesetzt haben sie sich in Deutschland auch nicht. Ob das mal eine innovative Idee mit Potenzial ist?

Aber China ist eben auch nicht Deutschland. Denn wenn hier irgendetwas Neues auf den Markt kommt, dann will man es zumindest ausprobieren. Und so fahren in diesem Frühling eben Hunderte, Tausende, Millionen von Pekingern auf gelben, blauen, roten Mietfahrrädern durch die Stadt.

Was heißt das schon. Meist hält so ein Hype nicht lange an. Ich kenn mich da aus. Als damals alle anfingen, auf diesen komischen iPhones herumzuwischen, da hab ich auch sofort gewusst: Das hält nicht lange an. Das ist ein Hype. Der Mensch braucht Tasten. Und? Hab ich nicht Recht behalten?

Nun wie versprochen die Strichliste.

Wie viele konventionelle Fahrräder sind an meinem Fenster des Cafés in der Gouzidian-Straße vorbeigekommen?

IIIIIIIIIIIIIIII

Und wie viele Mietfahrräder waren es?

IIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIIII

Aber das ist nur ein Hype. Das geht vorbei. Ich kenn mich da aus.

Himmel Acht (S1E1)

Frank Struck sah aus dem Fenster.

„Nanu“, dachte er. „Ich bin ja wirklich kein Experte für Luftfahrtsicherheit. Nein, ganz und gar nicht. Aber es kommt mir irgendwie, nun ja, ungewöhnlich vor, dass dieses andere Flugzeug da jetzt genau auf uns zufliegt.“

Frank befand, dass es wohl das Beste wäre, wenn er die Flugbegleiterin rufen würde, um sie zu fragen, ob das soweit in Ordnung sei, das mit dem anderen Flugzeug vor seinem Fenster. Als er aber auf den roten Service-Knopf an der Kabinendecke über seinem Sitz drücken wollte, musste er feststellen, dass dieser Knopf ebenso wie die Kabinendecke nicht mehr da war. Auch der Rest der Boeing 747 der Haibei Airlines hatte sich im Vergleich zum ursprünglichen Zustand stark verändert. Dort, wo eben noch das Cockpit war, klaffte ein beachtliches Loch. Wolkenfetzen tanzten. Die erste Klasse hatte sich in einen Feuerball verwandelt und auch in der Economy-Class war das Thema Beinfreiheit nun ganz anders zu verstehen, als noch vor wenigen Millisekunden.

„Oh Mann“, Frank war nicht ohnehin gerade in bester Laune. Die Dienstreise fand in einer Woche statt, in der der Tatort aus Münster kam. Da machte man doch keine Reisen. Das nahm er seinem Chef fast schon persönlich übel. Der Blick aus dem Fenster trug nicht gerade zur Aufhellung seiner Stimmung bei. „Das ist insgesamt aber schon recht ärgerlich. Mhhhm!“

Dann wurde es dunkel. Sehr dunkel. So dunkel, dass Frank begann, in seinen Taschen nach einem Feuerzeug zu suchen, obwohl er gar nicht rauchte und es auch nie wagen würde, explosive Flüssigkeiten an Bord eines Flugzeugs zu schmuggeln. Aber war er überhaupt noch in einem Flugzeug? Es erschien ihm aufgrund der vorausgegangenen Ereignisse inzwischen weitgehend unwahrscheinlich.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, die immer noch sehr finster war, sich aber jetzt soweit aufhellte, um zu erkennen, dass sein Aufenthaltsort eine Art Tunnel zu sein schien. Ein ziemlich langer Tunnel, an dessen Ende ein ungewöhnlich helles und freundliches Licht schimmerte, das auf eine seltsame Art und Weise vertraut schien.
„Na, immerhin“, seine Laune besserte sich doch ein wenig und er machte sich auf den Weg.

Kurz vor Ende des Tunnels hörte Frank laute und aufgeregte Stimmen. Sehr betriebsam ging es dort zu, wo der Tunnel endete. Und als er schließlich vorsichtig den ersten Schritt wagte, wunderte sich Frank, der sonst eigentlich nur Weniges befremdlich fand, doch ein wenig. Eine riesige Halle tat sich vor ihm auf. Eine Halle so groß wie eine Stadt. Eine goldene Kuppel, die am Horizont zu enden schien, überspannte einen gigantischen Terminal. Überall liefen Menschen aufgeregt durch die Gegend und sammelten sich vor haushohen Anzeigetafeln, auf denen Informationen in allen Sprachen der Welt aufflackerten. Die Halle war vollgestopft mit Info-Ständen, an denen die Menschen diskutierten. Die meisten blätterten in Hochglanzbroschüren und nickten fröhlich. Einige stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen in die Rippen und grinsten vor Vergnügen. Andere wiederum wirkten erschrocken und wiesen die vielen Faltblätter, die man ihnen reichte, empört zurück. Die Abfertigungsschalter, die wie an einer gigantischen Perlenschnur vom einem nicht erkennbaren Ende der Halle zum anderen aufgereiht waren, schienen der Mittelpunkt des ganzen Durcheinanders zu sein. Vor ihnen hatten sich lange Schlangen gebildet.

Frank sah sich das Treiben eine Weile etwas nachdenklich an. Dann beschloss er, dass er genug gesehen hatte und wählte den Schalter, bei dem es am schnellsten gehen würde. Das Verhältnis zwischen Schlangenlänge und Geschwindigkeit des Service-Angestellten war an Nummer 8427 am günstigsten. Frank wusste so etwas und er sah keinen Grund, sich von alten Angewohnheiten zu trennen. Auch dieses Mal lag er richtig und es dauerte keine fünf Minuten, da hatte der genervt wirkende Mann die sieben Inder, fünf Afrikaner und zwei Inuit-Damen vor ihm durch die Schleuse gescheucht.

„Wellkom to se Häwen“, nuschelte er. „Nummer?“
„1200933892“, sagte Frank, der nie eine Nummer vergaß.
Mürrisch tippte der Schaltermann auf seinem Computer herum.
Dann blickte er auf. Er sah Frank fragend an.
„Lesbische Veganer? Ist das korrekt so?“
„Wie bitte?“

Der Mann am Schalter bequemte sich einer Auskunft.

„Also gut. Entweder wirken Sie tatsächlich recht männlich, oder Sie fühlen sich in Gegenwart von lesbischen Veganerinnen ausgesprochen wohl, was ich beides nicht ausschließen möchte, aber für eher unwahrscheinlich halte, oder – und das wird die wahrscheinlichste Variante sein – Sie haben sich trotz der nicht zu überhörenden Durchsagen in sämtlichen Sprachen dieser Welt und den insgesamt siebentausendsechshundert Infoständen weder beraten lassen noch den Testfragebogen zu Ihren persönlichen Vorlieben ausgefüllt.“

Der Schaltermann holte Luft.

„Dann wäre 1200933892 sehr wahrscheinlich Ihre unter den augenblicklichen Umständen vollkommen nutzlose Passnummer.“
„Wie bitte?“
Frank spulte zurück, verstand zwar nur kleinen einen Teil von dem, was er gehört hatte, befand aber, dass der Mann irgendwo recht hatte.
„Ja“, sagte Frank.
„Würden Sie dann bitte so freundlich sein und mir entweder ihre vorläufige Himmelsidentifikationsnummer kurz H.I.N. sagen, oder mir wenigstens in etwa mitteilen, wohin die Reise gehen soll, damit ich Sie entsprechend zuweisen kann. Sie halten die Betrieb auf“
„China. Ursprünglich wollte ich beruflich nach China. Ich sollte dort eine Etikettenfabrik begutachten, Etiketten und Aufkleber von Hollerbach-Print. Hollerbach-Print. Die mit dem kleinen Teufelchen als Markenzeichen,“ Frank stockte. „Ist ja auch eigentlich egal, warum. Auf jeden Fall muss ich jetzt dringend nach China.“
„China? Na, also. Warum denn nicht gleich so?“, murmelte der Mann. „Das wäre dann der Himmel Acht.“
„Himmel Acht?“
„Himmel Acht.“
„Also, ich weiß ja nicht.“
„Wenn Sie Bedenken haben…. Da wäre noch Himmel 7526. Mögen Sie Seegurken?“
„Ich glaube nicht“, sagte Frank.
„Dann würde ich Ihnen eher abraten. Da fahren Sie mit Himmel Acht immer noch am besten.“
„Meinen Sie?“
„Ja, sicher“, sagte der Schaltermann. „Himmel Acht ist einer der beliebtesten Himmel überhaupt. Die letzte Erhebung hat ergeben, dass etwa jeder siebte Himmelsreisende diese Wahl trifft.“
„So?“
„Ja.“
„Aha.“
„Na, geht doch. Ich habe Sie entsprechend Ihren Wünschen bereits zugewiesen. Bitte treten Sie einen Schritt vor und sehen in die Kamera. Lächeln! Fantastisch. Danke. Gate 1289, der Transfer-Shuttle geht in vierzehn Minuten. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Weiterreise und einen wunderschönen Aufenthalt in der Ewigkeit.“
„Danke“, sagte Frank und folgte den blinkenden Pfeilen, die zu seinen Füßen erschienen und ihn zu einer gläsernen Rolltreppe führten, an deren Ende sich die Türen einer weißen Shuttlefähre öffneten und mit einem krachenden Geräusch hinter ihm schlossen.

– to be continued –

Bildquelle: beeveephoto, Flickr, (CC BY-SA 2.0), bearbeitet

Journalismus, Objektivität und die neue Ehrlichkeit

Die Huffington Post ist seit ein paar Tagen in Deutschland angekommen und dieses etwas unglücklich mit dem Focus-Magazin und Cherno Jobatey gestartete Projekt ruft die ersten Reaktionen zur neuen Kostenloskultur hervor. Die einen finden den Ansatz gut und für die anderen ist er ein rotes Tuch. Ich denke, es ist gut, dass endlich etwas passiert. Die deutsche Digitalkultur ist in ihrer schriftlichen Form ein Niemandsland, bevölkert von monolithischen Papierzeitunternehmungen, ein paar erfolgreichen Tech-Bloggern, Satirikern und einigen mutigen Pionieren. Mal sehen, ob sich daran nicht doch irgendwann etwas ändert. Hier meine Gedanken zum Thema:

Manchmal regt mich etwas wahnsinnig, oder ich finde etwas paradox, fantastisch, oder unfassbar intelligent gemacht. Hin und wieder habe ich auch etwas zu sagen. Und manchmal habe ich den Wunsch es niederzuschreiben, damit andere es lesen können. In meiner Schulzeit habe ich einmal einen Kommentar in der Schülerzeitung veröffentlicht, in dem es darum ging, dass Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden sollte. Ich fand die Vorstellung, dass bis dahin die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau straffrei bleiben konnte, so absonderlich, als würde man darüber diskutieren, ob Raubmord unter Halb-Schwestern gesetzeswidrig ist. Ich war kein Mitglied der Redaktion der Schülerzeitung, aber ich habe dort einfach diesen Text abgegeben und mich darüber gefreut, dass ihn jemand gelesen hat.

Später wollte ich Journalist werden und ging die Sache mit einer freien Mitarbeit für das Anzeigenblatt „Hallo Stormarn“ an. Gleich am ersten Tag wurde ich beauftragt, über die ADAC-Pannenhilfe eines Auto-Händlers im Nachbardorf zu schreiben. „Nanu“, dachte ich mir „Das ist doch gar kein Thema. Was ist denn daran journalistisch interessant?“ Der Autohändler wollte partout nicht interviewt werden und ich hatte eigentlich nicht vor, ihn davon zu überzeugen, dass seine ADAC-Hilfe ein Thema von öffentlichem Interesse war. Aber der Chefredakteur behauptete, ich müsse als Journalist Hartnäckigkeit zeigen und er würde den Autohändler auch noch einmal anrufen und auf diese tolle Methode der Öffentlichkeitsarbeit hinweisen. Und später könnte der ja vielleicht auch einmal eine vergünstigte Anzeige bei „Hallo Stormarn“ schalten.

Natürlich gibt es überall in den herkömmlichen Medien, auch bei Anzeigenblättern und lokalen Fernsehstationen Menschen, die etwas zu sagen haben. Aber man darf doch nicht vergessen, dass der größte Teil der Medieninstitutionen wirtschaftlichen Zwecken untergeordnet ist und nur sekundär dem Wohle der Gesellschaft dient. Erst kommt der Verkauf und dann kommt die Botschaft. Im meinem Publizistikstudium habe ich darüber nicht viel erfahren und wenn Journalisten ihren Beruf beschreiben, dann schwingt oft sehr viel Pathos mit – als wäre die mediale Kommunikation nicht maßgeblich durch interessengeleitete Informationsvermittlung bestimmt. Wer ehrlich ist, muss aber doch sehen, dass Aufklärung, Ermöglichung der unvoreingenommenen Meinungsbildung, oder gar Objektivität im derzeitigen Mediensystem nur zu oft in den Hintergrund treten, weil viele Botschaften sich einfach nicht gut verkaufen lassen. Ich habe mich in der letzten Zeit viel mit der journalistischen Berichterstattung über China beschäftigt. Die Themenauswahl, der Blickwinkel und die Aufbereitung orientieren sich vor allem daran, was die Rezipienten in Deutschland aufnehmen können, was in ihr Weltbild integrierbar ist oder was sie schockierend finden. Mit einer objektiven Abbildung der chinesischen Realität hat diese Informationsselektion und –vermittlung nur sehr wenig zu tun. Viele spannende Ereignisse und gesellschaftliche Veränderungen in China haben in Deutschland leider den Informationswert des sprichwörtlichen Sacks Reis.

Das Zeitalter der Vielstimmigkeit

Die meisten Menschen haben von den meisten Dingen nur sehr wenig Ahnung. Von einigen, wenigen Dingen verstehen sie hingegen sehr viel. Dieses Wissen lässt sich aber leider so gut wie nie vermitteln, geschweige denn verkaufen, weil fast niemand versteht, was daran denn nun interessant ist. Wir sind alle Experten in irgendetwas und es ist schon lange an der Zeit, dieses Wissen konsequent gesellschaftlich zu nutzen, anstatt die medialen Kanäle der Kaste der zunehmend aufmerksamkeitsfokussierten Journalisten, Politiker und PR-Fachleute zu überlassen. Es beginnt das Zeitalter der Vielstimmigkeit, in dem es zu jedem Artikel einen Kommentator gibt, der über das Thema des Artikels weit mehr weiß als der Autor selbst. Dieses Wissen muss dann eigentlich nur noch aus den herkömmlichen publizistischen Verwertungszusammenhängen befreit und lesergerecht aufbereitet werden.

In der letzten Zeit wurde viel über die „Neue Ehrlichkeit“ geschrieben, das von David Foster Wallace proklamierte Ende der Ironie, die neue Art, es ernst zu meinen mit dem, was man schreibt. Ich denke, dass ein Format wie die „Huffington Post“ ein Weg sein kann, auf dem interessante Menschen die Chance bekommen, gehört zu werden. Geld spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Informationen waren bis zum Aufkommen des gedruckten Wortes weitestgehend kostenlos. Das heißt nicht, dass es sich nicht gelohnt hat, anderen Menschen etwas mitzuteilen, das für sie nutzbringend war. Wer einen privilegierten Zugriff auf Informationen hatte, oder mit Fachwissen in einem bestimmten Gebiet aufwarten konnte, war gefragt. Aber man war nicht darauf angewiesen, mit der Tür ins Haus zu fallen; man musste keinen Redakteur überzeugen, dass ein Text sein Geld auch Wert ist.

Menschen beteiligen sich an Diskussionen und vertreten ihren Standpunkt. Wenn Sie langfristig Recht behalten, anderen gedanklich voraus sind, hört man ihnen zu, man „kauft es ihnen ab“. Jeder Text, jeder Standpunkt ist Werbung für den Autoren, für das, was er macht, wie er arbeitet und worüber er Bescheid weiß. Seit durch die Digitalisierung das gedruckte Wort keine Produktionkosten mehr verursacht, es also vollkommen kostenlos unters Volk gebracht werden kann, wird sich auch das mediale System daran orientieren müssen.

Es wird sich daher auch in Deutschland ein Format etablieren, in dem Menschen sich auf dem Marktplatz der Informationen positionieren, ohne dafür direkt bezahlt zu werden. Ob die deutsche „Huffington Post“ es schaffen wird, oder ob aus Projekten wie carta.info oder theeuropean.de eine solche deutschlandweit bekannte Plattform hervorgehen wird, das weiß ich nicht. Der Untergang des Journalismus wird es jedenfalls nicht sein – eher der Sargnagel für einen Journalismus, der nicht ehrlich ist und der noch immer glaubt, von einem Standpunkt aus schreiben zu können, der die Vielstimmigkeit und Komplexität der Wirklichkeit ignoriert, nur um das letzte Wort zu haben.

Neues vom Planeten Weibo: Die Ente bleibt draußen

Am vierundzwanzigsten Jahrestag des Tiananmen-Massakers haben sich die chinesischen Zensoren besondere Mühe gegeben, dass nun bloß keiner daran denkt, oder über das Thema diskutiert oder vielleicht sogar um die damals Gestorbenen trauert. Ich kann ja durchaus nachvollziehen, dass nicht alle Chinesen an der Aufarbeitung dieser schrecklichen Ereignisse interessiert sind. Aber wie gestört muss jemand sein, der vorsorglich die Emoticon-Kerzen eliminiert, mit denen man sonst auf Weibo Trauer ausdrückt? Li Kaifu, dem derzeit fast 43 Millionen User folgen, hat das folgendermaßen kommentiert:

基于昨日大火,新浪今日收走了所有可能燃烧的表情。安全第一,谢谢新浪!
Wegen des großen Feuers gestern* hat Sina beschlossen, alle brennbaren Emoticons zu entfernen. Sicherheit geht vor, danke Sina!

Irgendjemand kam dann auf die Idee, das Gummi-Enten-Mem, das seit ein paar Wochen durch die sozialen Netzwerke schippert, mit dem Tank Man von 1989 zu kombinieren. Und was machen daraufhin die professionellen Zensurprofis der chinesischen Regierung? Sie sperren den Suchbegriff „Gummi-Ente“. Diese Art der Zensur ist in etwa so effektiv wie die Aufforderung, jetzt bitte nicht an einen Elefanten zu denken.

Lu Xun soll geschrieben haben, dass Lügen aus Tinte niemals Wahrheiten aus Blut auslöschen können. In Zeiten, in denen alle Tintenfässer dieser Welt, alle Druckerpressen dieses Universums nicht mehr vermögen als ein handelsübliches Smartphone, sollte man doch meinen, die chinesische Regierung würde etwas weniger idiotisch auf die neue Herausforderung reagieren. Tut sie aber nicht.

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*offensichtlich eine Anspielung auf den verheerenden Goßbrand in einem fleischverarbeitenden Betrieb am 3.Juni 2013

Die Popkultur als Brücke zwischen Ost und West

Der US-Chinesische Pop-Superstar Wang Lihong hat eine beeindruckende Rede an der Oxford-Universität gehalten. Er hält Softpower für eine Form des Geschichtenerzählens, die es schafft, dass man sich für etwas begeistern kann. Popkultur könne die Wände zwischen den Kulturen einreißen und uns zeigen, dass wir auch über Grenzen hinweg viel mehr Gemeinsamkeiten haben als Unterschiede. Die globalisierte Pop-Welt könne dazu beitragen, uralte Stereotype zu beseitigen. Im globalen Dorf sind wir alle Mitbewohner, die sich besser kennen lernen sollten. Regierung, Nationalitäten, Rassen, all das sind nur artifizielle Abgrenzungen, die uns davon abhalten, einander besser kennenzulernen.

Und um den Langnasen den Zugang zur chinesischen Popmusik zu erleichtern, hat er ein Mixtape mit Liedern, die er liebt, zusammengestellt.

Das Mixtape findet man hier.

Die Drahtpenismänner

Eigentlich wollte ich ja im Moment nicht mehr so viel zum Thema „China“ bloggen, nun kann man aber einige Sachen auch nicht einfach für sich behalten, oder? Herr Poettgen von Stimmen aus China war zum Beispiel so freundlich, mich mit einem Artikel auf die chinesische Version von „Knallerfrauen“ aufmerksam zu machen. Der  epochemachende Erfolg der deutschen Comedy-Serie „Knallerfrauen“, die in chinesischen sozialen Netzwerken und auf Video-Plattformen geteilt wurde, war nicht zu übersehen. Schon Christian Y. Schmidt hat sich einst an einer Übersetzung des Titels versucht und ist bei „Drahtpenisfrauen“ gelandet. Das ist etymologisch zwar mehr als zweifelhaft, trifft aber eine ganze Reihe der Konnotationen des chinesischen Modewortes und Internetphänomens „Diaosi“ sehr gut. Die chinesische Fassung der „Drahtpenisfrauen“ hingegen war mir bisher unbekannt. Eine Fassung mit deutschen Untertiteln ist bereits bei Youtube gelandet (weil ich urheberrechtliche Bedenken habe, dazu nur ein Link und kein eingebettetes Video)

„Stimmen aus China“ hat ein Interview mit dem Schauspieler Dong Chengpeng geführt, das ich hier mit dem größten Vergnügen teile. Sehr schön. Auch die Aussprache.