Himmel Acht (S1E1)

Frank Struck sah aus dem Fenster.

„Nanu“, dachte er. „Ich bin ja wirklich kein Experte für Luftfahrtsicherheit. Nein, ganz und gar nicht. Aber es kommt mir irgendwie, nun ja, ungewöhnlich vor, dass dieses andere Flugzeug da jetzt genau auf uns zufliegt.“

Frank befand, dass es wohl das Beste wäre, wenn er die Flugbegleiterin rufen würde, um sie zu fragen, ob das soweit in Ordnung sei, das mit dem anderen Flugzeug vor seinem Fenster. Als er aber auf den roten Service-Knopf an der Kabinendecke über seinem Sitz drücken wollte, musste er feststellen, dass dieser Knopf ebenso wie die Kabinendecke nicht mehr da war. Auch der Rest der Boeing 747 der Haibei Airlines hatte sich im Vergleich zum ursprünglichen Zustand stark verändert. Dort, wo eben noch das Cockpit war, klaffte ein beachtliches Loch. Wolkenfetzen tanzten. Die erste Klasse hatte sich in einen Feuerball verwandelt und auch in der Economy-Class war das Thema Beinfreiheit nun ganz anders zu verstehen, als noch vor wenigen Millisekunden.

„Oh Mann“, Frank war nicht ohnehin gerade in bester Laune. Die Dienstreise fand in einer Woche statt, in der der Tatort aus Münster kam. Da machte man doch keine Reisen. Das nahm er seinem Chef fast schon persönlich übel. Der Blick aus dem Fenster trug nicht gerade zur Aufhellung seiner Stimmung bei. „Das ist insgesamt aber schon recht ärgerlich. Mhhhm!“

Dann wurde es dunkel. Sehr dunkel. So dunkel, dass Frank begann, in seinen Taschen nach einem Feuerzeug zu suchen, obwohl er gar nicht rauchte und es auch nie wagen würde, explosive Flüssigkeiten an Bord eines Flugzeugs zu schmuggeln. Aber war er überhaupt noch in einem Flugzeug? Es erschien ihm aufgrund der vorausgegangenen Ereignisse inzwischen weitgehend unwahrscheinlich.

Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, die immer noch sehr finster war, sich aber jetzt soweit aufhellte, um zu erkennen, dass sein Aufenthaltsort eine Art Tunnel zu sein schien. Ein ziemlich langer Tunnel, an dessen Ende ein ungewöhnlich helles und freundliches Licht schimmerte, das auf eine seltsame Art und Weise vertraut schien.
„Na, immerhin“, seine Laune besserte sich doch ein wenig und er machte sich auf den Weg.

Kurz vor Ende des Tunnels hörte Frank laute und aufgeregte Stimmen. Sehr betriebsam ging es dort zu, wo der Tunnel endete. Und als er schließlich vorsichtig den ersten Schritt wagte, wunderte sich Frank, der sonst eigentlich nur Weniges befremdlich fand, doch ein wenig. Eine riesige Halle tat sich vor ihm auf. Eine Halle so groß wie eine Stadt. Eine goldene Kuppel, die am Horizont zu enden schien, überspannte einen gigantischen Terminal. Überall liefen Menschen aufgeregt durch die Gegend und sammelten sich vor haushohen Anzeigetafeln, auf denen Informationen in allen Sprachen der Welt aufflackerten. Die Halle war vollgestopft mit Info-Ständen, an denen die Menschen diskutierten. Die meisten blätterten in Hochglanzbroschüren und nickten fröhlich. Einige stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen in die Rippen und grinsten vor Vergnügen. Andere wiederum wirkten erschrocken und wiesen die vielen Faltblätter, die man ihnen reichte, empört zurück. Die Abfertigungsschalter, die wie an einer gigantischen Perlenschnur vom einem nicht erkennbaren Ende der Halle zum anderen aufgereiht waren, schienen der Mittelpunkt des ganzen Durcheinanders zu sein. Vor ihnen hatten sich lange Schlangen gebildet.

Frank sah sich das Treiben eine Weile etwas nachdenklich an. Dann beschloss er, dass er genug gesehen hatte und wählte den Schalter, bei dem es am schnellsten gehen würde. Das Verhältnis zwischen Schlangenlänge und Geschwindigkeit des Service-Angestellten war an Nummer 8427 am günstigsten. Frank wusste so etwas und er sah keinen Grund, sich von alten Angewohnheiten zu trennen. Auch dieses Mal lag er richtig und es dauerte keine fünf Minuten, da hatte der genervt wirkende Mann die sieben Inder, fünf Afrikaner und zwei Inuit-Damen vor ihm durch die Schleuse gescheucht.

„Wellkom to se Häwen“, nuschelte er. „Nummer?“
„1200933892“, sagte Frank, der nie eine Nummer vergaß.
Mürrisch tippte der Schaltermann auf seinem Computer herum.
Dann blickte er auf. Er sah Frank fragend an.
„Lesbische Veganer? Ist das korrekt so?“
„Wie bitte?“

Der Mann am Schalter bequemte sich einer Auskunft.

„Also gut. Entweder wirken Sie tatsächlich recht männlich, oder Sie fühlen sich in Gegenwart von lesbischen Veganerinnen ausgesprochen wohl, was ich beides nicht ausschließen möchte, aber für eher unwahrscheinlich halte, oder – und das wird die wahrscheinlichste Variante sein – Sie haben sich trotz der nicht zu überhörenden Durchsagen in sämtlichen Sprachen dieser Welt und den insgesamt siebentausendsechshundert Infoständen weder beraten lassen noch den Testfragebogen zu Ihren persönlichen Vorlieben ausgefüllt.“

Der Schaltermann holte Luft.

„Dann wäre 1200933892 sehr wahrscheinlich Ihre unter den augenblicklichen Umständen vollkommen nutzlose Passnummer.“
„Wie bitte?“
Frank spulte zurück, verstand zwar nur kleinen einen Teil von dem, was er gehört hatte, befand aber, dass der Mann irgendwo recht hatte.
„Ja“, sagte Frank.
„Würden Sie dann bitte so freundlich sein und mir entweder ihre vorläufige Himmelsidentifikationsnummer kurz H.I.N. sagen, oder mir wenigstens in etwa mitteilen, wohin die Reise gehen soll, damit ich Sie entsprechend zuweisen kann. Sie halten die Betrieb auf“
„China. Ursprünglich wollte ich beruflich nach China. Ich sollte dort eine Etikettenfabrik begutachten, Etiketten und Aufkleber von Hollerbach-Print. Hollerbach-Print. Die mit dem kleinen Teufelchen als Markenzeichen,“ Frank stockte. „Ist ja auch eigentlich egal, warum. Auf jeden Fall muss ich jetzt dringend nach China.“
„China? Na, also. Warum denn nicht gleich so?“, murmelte der Mann. „Das wäre dann der Himmel Acht.“
„Himmel Acht?“
„Himmel Acht.“
„Also, ich weiß ja nicht.“
„Wenn Sie Bedenken haben…. Da wäre noch Himmel 7526. Mögen Sie Seegurken?“
„Ich glaube nicht“, sagte Frank.
„Dann würde ich Ihnen eher abraten. Da fahren Sie mit Himmel Acht immer noch am besten.“
„Meinen Sie?“
„Ja, sicher“, sagte der Schaltermann. „Himmel Acht ist einer der beliebtesten Himmel überhaupt. Die letzte Erhebung hat ergeben, dass etwa jeder siebte Himmelsreisende diese Wahl trifft.“
„So?“
„Ja.“
„Aha.“
„Na, geht doch. Ich habe Sie entsprechend Ihren Wünschen bereits zugewiesen. Bitte treten Sie einen Schritt vor und sehen in die Kamera. Lächeln! Fantastisch. Danke. Gate 1289, der Transfer-Shuttle geht in vierzehn Minuten. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Weiterreise und einen wunderschönen Aufenthalt in der Ewigkeit.“
„Danke“, sagte Frank und folgte den blinkenden Pfeilen, die zu seinen Füßen erschienen und ihn zu einer gläsernen Rolltreppe führten, an deren Ende sich die Türen einer weißen Shuttlefähre öffneten und mit einem krachenden Geräusch hinter ihm schlossen.

– to be continued –

Bildquelle: beeveephoto, Flickr, (CC BY-SA 2.0), bearbeitet

Journalismus, Objektivität und die neue Ehrlichkeit

Die Huffington Post ist seit ein paar Tagen in Deutschland angekommen und dieses etwas unglücklich mit dem Focus-Magazin und Cherno Jobatey gestartete Projekt ruft die ersten Reaktionen zur neuen Kostenloskultur hervor. Die einen finden den Ansatz gut und für die anderen ist er ein rotes Tuch. Ich denke, es ist gut, dass endlich etwas passiert. Die deutsche Digitalkultur ist in ihrer schriftlichen Form ein Niemandsland, bevölkert von monolithischen Papierzeitunternehmungen, ein paar erfolgreichen Tech-Bloggern, Satirikern und einigen mutigen Pionieren. Mal sehen, ob sich daran nicht doch irgendwann etwas ändert. Hier meine Gedanken zum Thema:

Manchmal regt mich etwas wahnsinnig, oder ich finde etwas paradox, fantastisch, oder unfassbar intelligent gemacht. Hin und wieder habe ich auch etwas zu sagen. Und manchmal habe ich den Wunsch es niederzuschreiben, damit andere es lesen können. In meiner Schulzeit habe ich einmal einen Kommentar in der Schülerzeitung veröffentlicht, in dem es darum ging, dass Vergewaltigung in der Ehe unter Strafe gestellt werden sollte. Ich fand die Vorstellung, dass bis dahin die Vergewaltigung der eigenen Ehefrau straffrei bleiben konnte, so absonderlich, als würde man darüber diskutieren, ob Raubmord unter Halb-Schwestern gesetzeswidrig ist. Ich war kein Mitglied der Redaktion der Schülerzeitung, aber ich habe dort einfach diesen Text abgegeben und mich darüber gefreut, dass ihn jemand gelesen hat.

Später wollte ich Journalist werden und ging die Sache mit einer freien Mitarbeit für das Anzeigenblatt „Hallo Stormarn“ an. Gleich am ersten Tag wurde ich beauftragt, über die ADAC-Pannenhilfe eines Auto-Händlers im Nachbardorf zu schreiben. „Nanu“, dachte ich mir „Das ist doch gar kein Thema. Was ist denn daran journalistisch interessant?“ Der Autohändler wollte partout nicht interviewt werden und ich hatte eigentlich nicht vor, ihn davon zu überzeugen, dass seine ADAC-Hilfe ein Thema von öffentlichem Interesse war. Aber der Chefredakteur behauptete, ich müsse als Journalist Hartnäckigkeit zeigen und er würde den Autohändler auch noch einmal anrufen und auf diese tolle Methode der Öffentlichkeitsarbeit hinweisen. Und später könnte der ja vielleicht auch einmal eine vergünstigte Anzeige bei „Hallo Stormarn“ schalten.

Natürlich gibt es überall in den herkömmlichen Medien, auch bei Anzeigenblättern und lokalen Fernsehstationen Menschen, die etwas zu sagen haben. Aber man darf doch nicht vergessen, dass der größte Teil der Medieninstitutionen wirtschaftlichen Zwecken untergeordnet ist und nur sekundär dem Wohle der Gesellschaft dient. Erst kommt der Verkauf und dann kommt die Botschaft. Im meinem Publizistikstudium habe ich darüber nicht viel erfahren und wenn Journalisten ihren Beruf beschreiben, dann schwingt oft sehr viel Pathos mit – als wäre die mediale Kommunikation nicht maßgeblich durch interessengeleitete Informationsvermittlung bestimmt. Wer ehrlich ist, muss aber doch sehen, dass Aufklärung, Ermöglichung der unvoreingenommenen Meinungsbildung, oder gar Objektivität im derzeitigen Mediensystem nur zu oft in den Hintergrund treten, weil viele Botschaften sich einfach nicht gut verkaufen lassen. Ich habe mich in der letzten Zeit viel mit der journalistischen Berichterstattung über China beschäftigt. Die Themenauswahl, der Blickwinkel und die Aufbereitung orientieren sich vor allem daran, was die Rezipienten in Deutschland aufnehmen können, was in ihr Weltbild integrierbar ist oder was sie schockierend finden. Mit einer objektiven Abbildung der chinesischen Realität hat diese Informationsselektion und –vermittlung nur sehr wenig zu tun. Viele spannende Ereignisse und gesellschaftliche Veränderungen in China haben in Deutschland leider den Informationswert des sprichwörtlichen Sacks Reis.

Das Zeitalter der Vielstimmigkeit

Die meisten Menschen haben von den meisten Dingen nur sehr wenig Ahnung. Von einigen, wenigen Dingen verstehen sie hingegen sehr viel. Dieses Wissen lässt sich aber leider so gut wie nie vermitteln, geschweige denn verkaufen, weil fast niemand versteht, was daran denn nun interessant ist. Wir sind alle Experten in irgendetwas und es ist schon lange an der Zeit, dieses Wissen konsequent gesellschaftlich zu nutzen, anstatt die medialen Kanäle der Kaste der zunehmend aufmerksamkeitsfokussierten Journalisten, Politiker und PR-Fachleute zu überlassen. Es beginnt das Zeitalter der Vielstimmigkeit, in dem es zu jedem Artikel einen Kommentator gibt, der über das Thema des Artikels weit mehr weiß als der Autor selbst. Dieses Wissen muss dann eigentlich nur noch aus den herkömmlichen publizistischen Verwertungszusammenhängen befreit und lesergerecht aufbereitet werden.

In der letzten Zeit wurde viel über die „Neue Ehrlichkeit“ geschrieben, das von David Foster Wallace proklamierte Ende der Ironie, die neue Art, es ernst zu meinen mit dem, was man schreibt. Ich denke, dass ein Format wie die „Huffington Post“ ein Weg sein kann, auf dem interessante Menschen die Chance bekommen, gehört zu werden. Geld spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle. Informationen waren bis zum Aufkommen des gedruckten Wortes weitestgehend kostenlos. Das heißt nicht, dass es sich nicht gelohnt hat, anderen Menschen etwas mitzuteilen, das für sie nutzbringend war. Wer einen privilegierten Zugriff auf Informationen hatte, oder mit Fachwissen in einem bestimmten Gebiet aufwarten konnte, war gefragt. Aber man war nicht darauf angewiesen, mit der Tür ins Haus zu fallen; man musste keinen Redakteur überzeugen, dass ein Text sein Geld auch Wert ist.

Menschen beteiligen sich an Diskussionen und vertreten ihren Standpunkt. Wenn Sie langfristig Recht behalten, anderen gedanklich voraus sind, hört man ihnen zu, man „kauft es ihnen ab“. Jeder Text, jeder Standpunkt ist Werbung für den Autoren, für das, was er macht, wie er arbeitet und worüber er Bescheid weiß. Seit durch die Digitalisierung das gedruckte Wort keine Produktionkosten mehr verursacht, es also vollkommen kostenlos unters Volk gebracht werden kann, wird sich auch das mediale System daran orientieren müssen.

Es wird sich daher auch in Deutschland ein Format etablieren, in dem Menschen sich auf dem Marktplatz der Informationen positionieren, ohne dafür direkt bezahlt zu werden. Ob die deutsche „Huffington Post“ es schaffen wird, oder ob aus Projekten wie carta.info oder theeuropean.de eine solche deutschlandweit bekannte Plattform hervorgehen wird, das weiß ich nicht. Der Untergang des Journalismus wird es jedenfalls nicht sein – eher der Sargnagel für einen Journalismus, der nicht ehrlich ist und der noch immer glaubt, von einem Standpunkt aus schreiben zu können, der die Vielstimmigkeit und Komplexität der Wirklichkeit ignoriert, nur um das letzte Wort zu haben.

Die Drahtpenismänner

Eigentlich wollte ich ja im Moment nicht mehr so viel zum Thema „China“ bloggen, nun kann man aber einige Sachen auch nicht einfach für sich behalten, oder? Herr Poettgen von Stimmen aus China war zum Beispiel so freundlich, mich mit einem Artikel auf die chinesische Version von „Knallerfrauen“ aufmerksam zu machen. Der  epochemachende Erfolg der deutschen Comedy-Serie „Knallerfrauen“, die in chinesischen sozialen Netzwerken und auf Video-Plattformen geteilt wurde, war nicht zu übersehen. Schon Christian Y. Schmidt hat sich einst an einer Übersetzung des Titels versucht und ist bei „Drahtpenisfrauen“ gelandet. Das ist etymologisch zwar mehr als zweifelhaft, trifft aber eine ganze Reihe der Konnotationen des chinesischen Modewortes und Internetphänomens „Diaosi“ sehr gut. Die chinesische Fassung der „Drahtpenisfrauen“ hingegen war mir bisher unbekannt. Eine Fassung mit deutschen Untertiteln ist bereits bei Youtube gelandet (weil ich urheberrechtliche Bedenken habe, dazu nur ein Link und kein eingebettetes Video)

„Stimmen aus China“ hat ein Interview mit dem Schauspieler Dong Chengpeng geführt, das ich hier mit dem größten Vergnügen teile. Sehr schön. Auch die Aussprache.

Neues vom Planeten Weibo: Mike Sui

Mike Sui hat etwas geschafft. Er hat den unendlich langweiligen, nicht unsympathischen, aber komplett selbstironie- und humorbefreiten Mark Rowswell, besser bekannt als Da Shan, von seinem Thron gestoßen. Rowswell war der chinesische Medien-Ausländer der Fernsehgeneration, der mit seiner fehlerfreien Aussprache des Hochchinesischen das Bild des gebildeten China-Verstehers aus dem Westen definierte.

Aber Da Shan war in seiner Art auch immer sehr angepasst, sehr stark darauf bedacht, den richtigen Ton zu treffen. Sonst hätte man ihn auch sicher nicht ins chinesische Fernsehen gelassen. Da Shan ist out. Und der Ausländer, dem in China jetzt die Herzen zufliegen, ist im Grunde gar kein Ausländer. Sein Vater ist Chinese, seine Mutter US-Bürgerin und auf den ersten Blick würde man ihn eher für einen Kirgisen oder vielleicht für einen Israeli halten.

Aufgewachsen ist Mike Sui irgendwo zwischen der Idylle Wisconsins und den brodelnden Beijinger Hutongs. Chinesisch ist im wahrsten Sinne sein Muttersprache. Als Kind war er einmal mit einem übergewichtigen Bekannten seiner Mutter in Beijing unterwegs, so erzählt er es in einem Interview. Und er hörte wie zwei Chinesen miteinander sprachen: „Guck mal, der Ausländer da. Der ist aber dick und hässlich. Aber dieser kleine Ausländer, der ist eigentlich ganz süß.“ Mike Sui ist damals zu den beiden Chinesen gegangen und hat zu ihnen auf Chinesisch gesagt: „Mag sein, dass er nicht gut aussieht und etwas übergewichtig ist. Aber ihr, die ihr über ihn lästert, ihr seid wirklich hässlich und solltet euch was schämen.“

Er war wohl schon damals nicht auf den Mund gefallen. Heute begeistert er ein Millionenpublikum mit seinen Videos und ist ein Weibo-Star, der eine Community von über 500.000 Followern unterhält. Derzeit macht er jeden Monat einen Rap-Song, in dem er die Ereignisse Revue passieren lässt (März, April). Aber bekannt geworden ist er mit seiner unglaublich fantastischen Persiflage auf Ausländer und Chinesen in Beijing, die er allesamt selbst spielt. Der Olli Dittrich Chinas: Mike Sui.

Interview: Zombie-Attacke bei Weibo?

Nachdem ich mich nun so viele Jahre zu weltbewegenden Fragen in der Badewanne selbst interviewt habe, hat sich nun endlich jemand meiner erbarmt. Maximilian Kalkhof, einer der Autoren von Stimmen aus China, hat mich für das Webmagazin „Tintenkiller“ befragt. Das Interview war Teil einer Recherche zu der Frage, welchen Einfluss Sina Weibo denn tatsächlich auf die chinesische Öffentlichkeit hat. Den vollständigen Artikel „Sina Weibo – Leichen im Keller“ findet man hier. Wie immer würde ich mich über Kommentare, Meinungen und Kritik freuen.

Und es hat Bing gemacht!

Hey super, die Jungs von Microsoft haben endlich den Babelfisch aus „Per Anhalter durch die Galaxis“ entwickelt. Das wurde langsam aber auch Zeit. Immer dieses öde Vokabelpauken. Wozu gibt es denn Computer?

 

Microsoft Forschungschef Rick Rashid behauptet doch ernsthaft, dass die Technik zwar noch nicht perfekt sei und es noch viel Arbeit gebe. Aber das Ganze sei doch vielversprechend und er hofft, dass wir in einigen Jahren ein System zur Verfügung haben werden, das die Sprachbarrieren beseitigen wird.

In einigen Jahren? Schon heute leistet das Übersetzungswunder Bing.com doch so fantastische Dienste in der automatischen Translation, dass die Sprachbarriere von dieser Software quasi pulverisiert wurde.

Ein kurzer Test zeigt, wie viel Sinn es macht, sich in Zeiten von Bing, Siri und Cleverbot (ein schönes Video dazu hier) auf die geistigen Leistungen von Computern zu verlassen.

Hier einige Artikel-Überschriften von tom.com:

  • 中方就日本右翼支持达赖反华提出严正交涉
  • ·日右翼公然支持达赖反华活动达赖所作所为为中国人民所不齿
  • ·十八大是如何选举中央机构的直面国企改革三大热点
  • ·姚晨17日新西兰完婚揭秘婚礼细节姚晨与亲朋好友已启程
  • ·郭富城自曝马代游真相否认求婚央视改版6主持人有节目带
  • ·中国司法整体上公正我国已建立完整困难学生资助体系
  • ·“大便弟”怪不到别人头上“晶刚”大婚谁是受益者?
  • ·范佩西因伤退出荷兰队曝梅西巴萨续约陷僵局
  • ·罗比尼奥离开米兰倒计时?国米1月将尝试回购巴神
  • ·卡扎菲美女保镖在家中身亡·日本海上自卫官半年强奸6女子

 

Und hier die Übersetzung, die Bing vorschlägt:

  • China Japan rechten Flügel unterstützt den Dalai Lama gegen China feierliche vorstellig
  • Was die Aktivitäten der japanischen rechten Flügel unterstützt offen Dalai Lama gegen China den Dalai Lama zu den Chinesen Menschen als kritikwürdig
  • 18 wie Wahl gegenüberliegende Staatsunternehmen der Zentralstelle heißen reformieren
  • Du Lala 17. Neuseeland verheiratet geheime du Lala Hochzeit Informationen mit Freunden und Familie verlassen hat, für
  • Pferd Tour mit Aaron Kwok Belüftung Wahrheit leugnen die vorgeschlagene Revision 6 Host-Programme von CCTV
  • Chinas Freiheit als eine ganze Schwierigkeiten in China hat ein komplettes System der finanziellen Unterstützung von Studenten gegründet.
  • Scheiße Bruder „Schuld auf andere ist nicht“ c – „Wer sind die Begünstigten Ehe?
  • Robin van Persie wegen Verletzung Niederlande Meixibasa sparging erneuert Pat
  • Links · Mailand, Robinho, den Countdown? Inter Januar versucht Gott BA kaufen
  • Schöne Gaddafi-Leibwächter getötet · Japan maritime Self-Defense Offizier zu Hause sechs Monate 6 Frauen vergewaltigt

Alles klar? Ich bin ganz sicher, Bing wird uns in eine bessere Welt führen, in der wir uns alle verstehen und es ist nur ein Frage der Zeit, bis Microsoft Ironie, Mehrdeutigkeiten, Wortneuschöpfungen und all die anderen feinen Nuancen der menschlichen Sprache hinfortprogrammiert hat.

Und was sagt Bing dazu? Folgendes kommt heraus, wenn man den Satz damit ins Chinesische übersetzt und dann wieder zurück ins Deutsche:

„Ich bin sicher. Bing führt uns zu einer besseren Welt, in der wir alle verstehen, und Microsoft ist nur Ironie, Mehrdeutigkeit, Word erstellt die neue und alle anderen feinen Nuancen der menschlichen Sprache Zeit wurde ins Fort programmiert.“

Ins Fort programmiert? Ja, da gehörst du auch hin, du dummes Bing, ähh Ding!

Chinabildblog: Die geschlagene Gurke und die ewige Ente

Journalisten haben es schwer. Die Welt ist groß und sie sind klein. Gerade in China, dem Land in dem eigentlich niemand genau weiß, was wirklich passiert und jeder sich aus ungesicherten und fragwürdigen Informationen die Ereignisse so gut es geht zusammenreimt, ist es keine einfache Aufgabe, einen Job auszuüben, bei dem es auf Objektivität und sachorientierte Information ankommt.

Wenn man dann auch noch für eine Leserschaft schreibt, die über China nicht sonderlich viel mehr weiß, als dass dort die vielen bunten und giftigen Plastikspielsachen herkommen, dann kann man schon verstehen, dass der eine oder andere Bericht nicht gerade pulitzerpreisverdächtig ist. Und wenn man dann außerdem, wie ein großer Teil der westlichen China-Berichterstatter, nicht über die sprachlichen Kenntnisse verfügt, um dem gesellschaftlichen Leben zumindest als Beobachter zu folgen, ja was soll denn dabei auch herauskommen? Ach, Sie glauben, China-Korrespondenten sollten doch wohl chinesische Zeitungen lesen können? Nun ja, ein anderes Thema. Und es gibt ja auch viele deutsche Journalisten, die ihre Sache sehr gut machen. Johnny Erling, Mark Siemons und Felix Lee gehören z.B. zu dieser Spezies. Auch die schwierigen Umstände, unter denen in China gearbeitet wird, sollen hier nicht unterschlagen werden.

Der Marco-Polo-Effekt

Zu der allgemein misslichen Lage in China kommt aber nun noch etwas hinzu. Der „Marco-Polo-Effekt“, wie ich es nennen möchte, verliert allmählich seine Wirkung. Dieser Effekt hat sich Tausende von Jahren segensreich auf das Ansehen der Berichterstatter aus fremden Ländern ausgewirkt und wird nun durch das Internet und den grenzüberschreitenden Informationsverkehr in Echtzeit stark abschwächt. Gemeint ist Folgendes: Je weiter das Land entfernt ist, aus dem du berichtest, desto geringer ist die Chance, dass jemand noch während deiner Lebenszeit etwaige Ammenmärchen und Plattitüden, die du aufgetischt hast, entlarvt und desto weniger Mühe musst du dir geben, die Wahrheit in ihrer ganzen vertrackten Komplexität zu beachten.

Das ist vorbei, seit das Internet der Zeitung einen unregulierbaren Feedback-Kanal spendiert hat. Die Ansprüche sind seitdem gestiegen und ich sehe kaum, dass der Journalismus darauf in irgendeiner Weise angemessen reagiert.

Zwei Geschehnisse, die während meiner Arbeit als Dozent an einer chinesischen Universität passiert sind, sollen hier nur als Beispiel dafür stehen, warum ich die Ansicht für falsch halte, dass unser westlich geprägtes Mediensystem samt seiner verholzten Wurzeln in der Papierzeit noch zeitgemäß ist.

Die geschlagene Gurke

Anfangen möchte ich mit dem Ehec-Skandal. Damals, als dieser Keim die ersten Todesopfer in Deutschland forderte, berichteten auch die chinesischen Medien darüber. Was mich allerdings sehr störte, war der Unterton der Berichterstattung: „Seht her, das passiert nicht nur bei uns, sondern auch im angeblich so sicheren Westen.“

Als ich damals ins Seminar kam, sprach mich ein Student auf den Skandal an. Er sagte: „Herr Hänke, haben Sie schon gehört? In Deutschland ist das Essen auch nicht sicher. Die spanischen Gurken sind giftig.“

Ich habe dann zunächst einmal versucht zu erklären, dass die chinesischen Staatsmedien diesen Vorfall benutzen, um die eigenen Verhältnisse, die mit kaum Deutschland zu vergleichen sind, zu relativieren. Ich habe erzählt, dass das deutsche Gesundheitsamt mit ziemlicher Sicherheit kaum einen chinesischen Betrieb genehmigen würde. Ich habe behauptet, dass das Ausmaß der chinesischen Lebensmittelskandale die deutschen Verhältnisse bei weitem übertrifft. Ich habe über das Milchpulver, die Restöl-Verwertung, den gefälschten Alkohol und all die widerlichen Dinge gesprochen, die täglich in Chinas nahrungsmittelverarbeitendem Gewerbe geschehen. Ich habe gesagt, dass der TÜV, Foodwatch und ein funktionierendes Lebensmittelkontrollsystem in China mit Sicherheit mehr Menschenleben retten würden, als alle Menschenrechtsorganisationen dieser Erde zusammengenommen. Ich habe behauptet, dass in China in jeder Stunde mehr Menschen an vergiftetem Essen sterben, als in Deutschland in einem ganzen Jahr.

Aber dann habe ich auch noch etwas anderes behauptet. Ich habe gesagt, dass ich es für ausgesprochen wahrscheinlich halte, dass – trotz der Panikmache, trotz der Vernichtung riesiger Mengen an Lebensmitteln, trotz der Bilder der mutmaßlich giftigen Gurken neben tausendfachen Vergrößerungen der gefährlichen Keime – die spanischen Gurken damit gar nichts zu tun haben. Ich war mir da irgendwie sicher. Denn zu diesem Zeitpunkt handelte es sich ja um einen bloßen Verdacht, der von SpiegelOnline, dem hypernervösen Zappelphillip der deutschen Medienlandschaft, mediendramaturgisch ausgeschlachtet wurde.

Ich sollte Recht behalten. Die arme Gurke war unschuldig und bis heute ist wohl nicht endgültig geklärt, wer für den durch Panikmache entstandenen Schaden haften soll. Ab diesem Zeitpunkt sagten die Studenten immer, wenn ich zu weit vom Thema abkam: „Er schlägt schon wieder die Gurke.“ „Geschlagene Gurke“ ist ein Gericht der chinesischen Küche.

Der Ehec-Fall mag in seiner Ausprägung einige Besonderheiten haben, typisch für das deutsche Mediensystem ist aber, dass Skandalisierungen, Panik-Mache, Ungenauigkeiten bei der Präsentation von Fakten und vor allem die Übernahmen ungesicherter Informationen einen vernunftorientierten Diskurs oft geradezu unmöglich werden lassen, im Zeitalter der Echtzeitkommunikation ganze Lawinen von Informationsmüll lostreten können und es kaum Mechanismen gibt, die den Prozess verlangsamen.

Die ewige Ente

Die zweite Geschichte, die mit meiner Arbeit und mit der China-Berichterstattung noch viel mehr zu tun hatte, nenne ich die ewige Ente. Es war in der Zeit vor der Olympiade. Damals erhielt ich plötzlich und für mich ziemlich unerwartet von Freunden aus Deutschland E-Mails, in denen ich gefragt wurde, ob die chinesische Regierung mich denn auch bald aus dem Land werfen würde. In China hätte man doch jetzt alle ausländischen Studenten ausgewiesen.

Ich hatte damals auch von Visa-Problemen gehört. Insbesondere vor den Olympischen Spielen schien man strenger vorzugehen. Vielleicht versuchte man aber auch einfach, bei der Visa-Vergabe internationale Standards zu erreichen, denn meine Erfahrung sagt mir, dass es in China viele Wege gibt, die offiziellen Bestimmungen zu umgehen. Zwar geschieht es nicht selten, dass Ausländer in China gezwungen werden, das Land zur Visa-Verlängerung zu verlassen. Meist reicht jedoch ein Kurz-Trip nach Hongkong und das Problem ist gelöst.

Sicher gab und gibt es oft Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums, aber wer jemals erlebt hat, welche bürokratischen Hürden chinesische Studenten nehmen müssen, die nach Deutschland einreisen möchten, der wird verstehen, dass gerade Deutsche in dieser Frage nicht unbedingt mit Anschuldigungen um sich werfen sollten.

Um die Geschichte abzukürzen: Die DPA-Meldung, auf der die Medienberichterstattung der Tageszeitungen und Online-Medien beruhte, war eine Falschmeldung – eine Ente. An der ganzen Geschichte war im Grunde nichts dran. Dass sich sachliche Fehler in die Berichterstattung einschleichen, ist ja nichts Außergewöhnliches. Jedem Journalisten, sei er noch so gewissenhaft, unterlaufen Fehler. Allerdings ist in diesem Fall das Ausmaß schon sehr erschreckend. Eine offizielle Anweisung, die ausländischen Studenten während der Olympischen Spiele auszuweisen, ist ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass ich mich damals gefragt habe, welche Vorstellung denn in den Köpfen der Verantwortlichen vorherrscht – und wie der Unsinn dort hineingekommen ist -, wenn sie so einen Unfug einfach unreflektiert übernehmen, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Die Olympischen Spiele wurden in China auch vom einfachen Volk als eine Gelegenheit gesehen, sich der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Viele Zuschauer hätten sich mehr Offenheit und Herzlichkeit und weniger bombastischen Perfektionismus gewünscht und auch ich fand die offizielle Inszenierung der chinesischen Nation teilweise sehr abweisend. Allerdings herrschte damals in der gesamten Bevölkerung eine nahezu fanatische Freude, jetzt einmal selbst Gastgeber einer solchen globalen Veranstaltung zu sein. Ganze Horden von Freiwilligen bereiteten den Empfang der internationalen Besucher vor. Eine Anweisung, ausländische Studenten auszuweisen, hätte niemand in China ernsthaft befürwortet. Das hätte man wissen können. Das nehme ich den deutschen Medien, insbesondere dem Spiegel, der damals gerade den Weltkrieg um Wohlstand ausgerufen hatte, bis heute übel.

Und warum die „ewige“ Ente? Ganz einfach: Das Netz vergisst nichts, zumindest dann nicht, wenn man es nicht explizit dazu auffordert. Und bis auf SpOn hat sich bis heute kein Online-Medium die Mühe gemacht, diesen Unfug zu korrigieren.

Und somit bleibt diese hektisch herausposaunte Legende für immer im Netz der kollektiven Erinnerung hängen. Die Ausweisung der Gaststudenten während der Olympiade gehört heute zu China wie die Glückskekse nach dem Essen. Ach, in China gibt es gar keine Glückskekse? Nein? Das ist ja ein Ding!

Hier die ewigen Enten:

 

Das doppelte Gangnam

Noch immer scheint die ganze Welt nicht vom koreanischen Gangnam-Fieber geheilt. Vielleicht gibt es ja im tiefsten brasilianischen Urwald noch jemanden, der dieses Video noch nicht gesehen hat. Vielleicht. Bei Youtube allerdings ist inzwischen die 100-Millionen-Grenze im unnachahmlichen Hoppe-Hoppe-Reiter-Schritt genommen.

Doch halt. Unnachahmlich. Nicht unbedingt. Was haben die Netizens rund um den Planeten nicht alles angestellt mit diesem Video. Auch die chinesischen Video-Portale quellen geradezu über mit skurrilen Adaptionen. Beliebt sind der Obama-Style, eine technisch beeindruckende, aber fraglos vollkommen politisch-unkorrekte Fassung im Hitler-Style und eine Folkrock-Variante.

Doch die kommen alle nicht aus China. Das beeindruckendste Ergebnis der künstlerischen Auseinandersetzung mit dem kollektiven Trash-Techno-Galopp aus China ist – böse Zungen würden behaupten erwartenswerterweise – eine Kopie. Aus Hongkong stammt die Version, bei der man schon sehr genau hinsehen muss, um sie vom Original zu unterscheiden.

Tatatatataaa und Hopp:

Die Ruhe. Das Nichts-Tun

„Dao ke dao, fei chang dao“, sagte Doktor Cao. Er sagte es nachdenklich und auch sein Ellenbogen schob sich deutlich langsamer zwischen meine Lendenwirbel. Ich hatte diesen Satz gelesen, als ich noch im Vorzimmer wartete, während Doktor Cao, die Nackenmuskulatur einer zierlichen jungen Frau massierte, auf deren bunt-lackierten Fingernägeln kleine, funkelnde Schmetterlinge um eine Blume kreisten.

Der Begleiter der jungen Frau spielte währenddessen Golf auf seinem I-Phone. Ich saß auf einer rissigen Ledercouch und sah mich im Vorzimmer um. Die Tapeten waren vergilbt und auf dem schwarzen Rattan der Möbel lag eine dicke Schicht aus Staub. An der Wand hing ein Bild mit Meridianen, die sich durch den Körper zogen, wie Ameisentunnel durch den Waldboden. Nachdem ich mir die verschiedenen Geräte, die sonderbaren Schröpfkugeln, die Schabmesser und die Saugpumpen angesehen hatte, die auf einem Regal aufgereiht waren, fielen mir die Bücher auf, die in einem Zeitungsständer neben der Couch lagen. Ich nahm wahllos eins heraus. Es war das „Dao De Jing“, ein Ur-Text der Taoisten, und als ich das Buch aufschlug, las ich diesen Satz. „Dao ke dao, fei chang dao“

Als Doktor Cao dann seine Arbeit an der Nackenmuskulatur beendet hatte und die junge Dame sich von ihrem Begleiter ihre französische Handtasche geben ließ, um zu bezahlen, ging mir der Satz immer noch durch den Kopf. Das Mädchen mit den Schmetterlingshänden war gegangen und Doktor Cao, der eigentlich kein Doktor ist, sondern ein blinder Masseur, ließ mich rufen. Man pflegt ja chinesischen Sprache oft sehr höfliche Umgangsformen und so sagte der Rezeptionist: „Doktor Cao, dein ausländischer Freund, der Lehrer Han ist da.“

Ich lernte Doktor Cao kennen, als meine Eltern mich während der olympischen Spiele besuchten. Weil der Sommer in Beijing wie immer unerträglich heiß war, beschloss damals meine Mutter, auch nachts die Klimaanlage auf eine Temperatur einzustellen, bei der selbst Eskimos ihre Pelzkapuzen tief ins Gesicht gezogen hätten. Mein Vater hat schon sehr lange immer mal wieder Rückenprobleme, dieses Mal waren es ernste. Er hatte sich, wie Doktor Cao es ausdrückte, „Kälte gefangen“. Vielleicht kam noch hinzu, dass die Matratze des Gästebettes an traditionelle chinesische Foltergerätschaften erinnerte und die Sprungfedern an einigen Stellen deutliche Abdrücke auf dem Laken hinterließen. Mein Vater jedenfalls schaffte es an diesem Tag kaum aus dem Bett. Die meiste Zeit konnte er sich nur mit Hilfe eines Rollkoffers durch die Wohnung bewegen, den er als Gehwagen zweckentfremdet hatte. Zwar war der Urlaub meiner Eltern bald zu Ende, aber es war kaum vorstellbar, wie mein gebückter Vater in diesem Zustand die Strapazen der Heimreise überstehen sollte. Wir brauchten Hilfe.

Die Massagepraxis, in der Doktor Cao arbeitet, hatte damals gerade erst aufgemacht. Sie war mir sofort aufgefallen, schließlich habe ich die Rückenprobleme meines Vaters geerbt. Ich zögerte damals allerdings, das Wohlbefinden meines oder des Rückens meines Vaters noch einmal in die Hände eines blinden Masseurs zu legen. Mit blinden Masseuren hatte ich keine besonders guten Erfahrungen gemacht. Ein einziger Besuch dort hatte mich in mehrerer Hinsicht stark überfordert. Und erst die Bekanntschaft mit Doktor Cao ermöglicht es mir, bei dem Thema „Blinder Masseur“ nicht mehr sofort an die Worte „röhren“ und „Kamel“ zu denken.

Jiang Li, meine Kollegin, die zur Aufbesserung ihres kargen Universitätsgehaltes hin und wieder Übersetzungen anfertigte und der ich oft dabei half, hatte mir einmal eine SMS mit folgendem Inhalt geschickt. „Welches Geräusch macht ein Kamel?“ Es dauerte etwas, bis ich verstand, was sie meinte und dass sie bei einer Übersetzung auf eine Schwierigkeit gestoßen war. „Evtl. röhren; wie ein Hirsch“, war meine Antwort. Und während meines ersten Besuches bei einem blinden Masseur, da dachte ich: „Das passt. Dieser Masseur röhrt wie ein Kamel.“

Der junge Mann, der mich massieren sollte, war eindeutig blind. Nicht alle blinden Masseure in China sind auch wirklich blind, aber dieser war es. Nachdem ich der Empfangsdame in meinem damals noch sehr schlechten Chinesisch irgendwann erfolgreich vermitteln konnte, dass ich eine Rückenmassage wollte, kam dieser junge Mann. Ich lag schon auf der Liege, als er den Raum betrat. Seine Augen lagen tief im Kopf hinter einem milchigen Schleier. Er war insgesamt von einer bemitleidenswerten Gestalt. Doch so sehr er mir auch Leid tat, so sehr ekelte ich mich vor ihn und den Geräuschen, die er machte.

Vor meiner Zeit in China war das Thema „Massage“ ist in meinem Gehirn in einer ganz bestimmten Region abgespeichert – der „Wellness-Plätschermusik-Ayuweda-Öl-Ecke“. Doch die Erfahrungen, die ich in China gemacht habe, zwangen mich, das ursprüngliche Konzept deutlich weiter zu fassen.

Es begann mit einem Rumpeln im Magen des Masseurs. Ich lag auf dem Bauch und mein Gesicht befand sich in der runden Aussparung der Massage-Liege. Ich schloss meine Augen und versuchte das Rumpeln zu ignorieren. Masseure in China wollen sich während der Arbeit meist ein bisschen unterhalten, entweder weil sie es für höflich halten, oder um die Gelegenheit zu nutzen, etwas von einem weitgereisten Fremden über seine ferne Heimat zu erfahren. Dieser Masseur sagte nichts. Nur sein Magen gab langgezogene, säufzende Laute von sich. Dann rülpste der Masseur. Ich vermutete zunächst, er habe etwas schwer Verdauliches gegessen hatte. Und es ist ja nicht selten, dass Menschen in China auch in der Öffentlichkeit laut rülpsen. Ich hatte sogar einmal eine Studentin, die aus irgendeinem Grund in fast jedem Unterricht rülpste. Also dachte ich mir bei diesen Geräuschen zunächst nicht viel.

Dann rumpelte es wieder. Das Rülpsen wurde lauter. Und es wurde länger. Hörbar bahnten sich Unmengen von Gasen ihren Weg aus dem Körper des blinden Masseurs. Ich kann mir bis heute nicht erklären, wie es körperlich möglich ist, in so kurzer Zeit so viel Gas im Magen zu erzeugen. Eine Stunde lang lag ich auf der Liege, mit dem Gesicht nach unten. Etwa alle dreißig Sekunden rumpelte es, woraufhin jedes Mal ein unglaublich langgezogener Rülpser folgte, der an die durchschnittliche Lautstärke eines röhrenden Kamels bei weitem übertraf und dessen Geräusch bei mir unverzüglich einen starken Würgreflex auslöste. Eine Stunde lag auf der Liege und kämpfte mit meinem Brechreiz. Ich war unfähig aufzustehen, weil der Mann mir Leid tat.

Vielleicht hätte ich diesem Mann, der durch seine Blindheit und seine sonderbare Krankheit vom Schicksal besonders hart geschlagen war, irgendwie helfen können. Vielleicht war dieses Rülpsen ja auch nur temporär. Vielleicht hätte ich mich auch überwinden können. Ich hätte mir beim nächsten Mal extra-dicke Oropax mitnehmen und während der Massage eine Traumreise zu leichtbekleideten Hula-Mädchen an Palmenstränden machen können. Die Wahrheit jedoch ist: Ich habe es nicht gemacht. Ich bin nie wieder zu diesem Masseur gegangen, weil ich mich vor ihm geekelt habe.

Und als dann mein Vater fragte, ob das nicht eine Massagepraxis gewesen sein, deren Leuchtreklame die grauen Betonwände des Treppenhausen in regelmäßigen Abständen in grünes und rotes Neonlicht tauchte, da dachte ich an die Worte „röhren“ und „Kamel“ und an meinen Brechreiz und an milchige Augen und zögerte. Aber weil mein Vater in den letzten Tagen einen Rollkoffer als Gehwagen benutzte, fortwährend die Erfindung der Klimaanlage verfluchte und der häusliche Frieden meiner Eltern ernsthaft auf dem Spiel stand, überwand ich meine inneren Widerstände und meldete meinen Vater bei dem blinden Masseur im ersten Stock an.

Die Rückenschmerzen meines Vaters schmolzen unter den Händen von Doktor Cao, wie Erbsen-Eis in praller Mittagssonne und jedes Mal wenn wir später telefonierten, fragt er mich, wie es seinem kleinen Masseur geht. Und auch Doktor Cao fragte mich oft nach dem Wohlbefinden meines Vaters. Und ich fragte mich, ob Doktor Cao, der mit seinen Händen in kürzester Zeit die Verspannungen findet, ohne dass man etwas sagen muss, jedes Mal bei meinem Rücken an den Rücken meines Vaters denkt und dadurch dessen Zukunft sehen kann. Doktor Cao und ich reden über Vieles, aber das habe ich ihn noch nie gefragt.

Doktor Cao wurde vor sechsundzwanzig Jahren in einem kleinen Ort nicht weit von Taiyuan in der Prozinz Shanxi geboren. Seine Mutter war Krankenschwester und wenn ich es richtig verstanden habe, arbeitete sein Vater in einem Steinbruch und starb bei einem Unfall als Doktor Cao sieben Jahre alt war. Er war ein normales Kind, fleißig in der Schule und gut zu seinen Eltern. Kurz nachdem sein Vater gestorben war, begannen seine Augen sich zunehemend zu verschlechtern. Kein Arzt konnte den Grund dafür herausfinden und noch vor seinem neunten Geburtstag konnte er den hellsten Sonnenschein nicht von der tiesten Nacht unterscheiden. Seine Mutter war eine starke Frau und gewohnt „Bitterkeit zu essen“. Sie kümmerte sich um ihn, kochte ihm morgens, mittags und abends etwas zu essen. Aber als sie merkte, dass ihre Kräfte nachließen, wusste sie, dass sie sich trennen mussten. In dem kleinen Ort würde Doktor Cao nicht für sich selbst sorgen können. Über eine Bekannte stellte sie einen Kontakt nach Beijing her, wo ihr Sohn an einer Schule für Masseure eine kurze Ausbildung machte. Danach fand er eine Anstellung in dieser kleinen Massagepraxis, die er so gut wie nie verlässt. Er isst, was seine Kollegen für ihn kochen und er schläft nachts auf einer der Massageliegen.

„Dao ke dao fei chang dao“, sagte Doktor Cao. „Dieser Satz sagt Vieles. Es geht um die Mitte, um das Zentrum, in dem die Ruhe liegt.“

„Die Ruhe?“, fragte ich.
„Ja. Die Ruhe. Das Nichts-Tun“, antwortete er.
„Das kann ich gut. Das ist ja nicht schwer“, warf ich ein. Ich verfügte damals noch über zu wenig Sprachkenntnisse, um eine ernsthafte Diskussion längere Zeit am Leben zu halten.
„Ja, das kannst du gut. Darum ist dein Rücken auch so krumm. Weil du dich nicht bewegst.“
„Dann haben alle Taoisten also Rückenschmerzen“, versuchte ich diesen Gedanken weiter zu entwickeln.
„Nein“, sagte Doktor Cao ruhig.
„Aber was ist denn dieses Dao nun eigentlich?“ fragte ich.
„Das ist es ja eben. Das Dao passt irgendwie nicht in die Sprache und die Worte. Nicht einmal in die chinesische. Das ist die eigentliche Bedeutung des Satzes.“

Dieses Mal sprachen wir weniger als sonst. Doktor Cao interessiert sich sehr für Sprachen und fragte mich oft nach den Worten. Er hat über das Radio etwas Englisch gelernt und ist fasziniert von fremden Klängen und seltsamen Bedeutungen. Ich hatte immer das Gefühl, dass dieser kleine, blinde Mann viel mehr von Sprache versteht, als die meisten Studenten, die beim mir studiert haben. Aber dieses Mal redeten wir wenig.

Der iMönch und das Affentheater

Yancan Fashi ist ein ganz besonderer Mönch, eine Art IMönch. Denn er hat sich zum Ziel gesetzt, die Weisheit des Buddhismus auf allen zur Verfügung stehenden Wegen zu verbreiten. Weil Weibo, die niemals ruhende Quasselmaschine, das unglaublichste aller derzeit auf diesem Planeten existierenden Medien ist, M-bloggt er. Na, was denn auch sonst? Und weil er nicht nur als Lebensberater und Seelenbeistand den Menschen Vieles zu geben hat, sondern auch noch ein lustiger Typ ist, lieben ihn die Menschen in China.

Ist das wirklich der wahre Grund, warum Yancan Fashi praktisch über Nacht zu einer Berühmtheit geworden ist, die in Fernseh-Shows auftritt? Wie kann es sein, dass er in kürzester Zeit über 2 Millionen Follower auf seinem Weibo versammelt hat? Vielleicht liegt es ja auch ein bisschen an dem folgenden Video. Nicht nur die Affenbande, die ihm zu schaffen macht, ist ein absolutes Highlight der jüngeren Weibo-Historie. Es ist vor allem sein mit ernster Miene vorgetragenes buddhistisches Gedicht über einen heiligen Berg. Denn das Komische daran ist, dass der liebe Mann sich zwar sehr viel Mühe gibt, aber am Hochchinesisch kläglich scheitert. Nicht, dass ich das beurteilen könnte, aber ich habe mir sagen lassen, dass sein breiter Hebei-Dialekt samt seiner falschen Töne unglaublich komisch klingt. Aber sehen Sie selbst!