A Bite of China – Anspruch und Wirklichkeit

<von Sven Hänke>
Da meint man jahrelang, die chinesische Regierung wird ihre Softpower-Milliarden vollkommen umsonst ausgeben und all die folkloristischen und belanglosen Publikationen und Veranstaltungen bleiben mittelfristig ähnlich erfolgreich wie die Werbeplakate der CDU in Berlin-Kreuzberg und schwupps überrascht einen das Propaganda-Ministerium mit einem Coup. Die Dokumentation „A Bite of China“ ist schon jetzt weltweit ein Publikumserfolg und weil dem so ist, zeigen wir hier auf Doppelpod den ersten Teil der optisch wirklich gelungenen Fernsehproduktion über die Wunder der chinesischen Kochkunst (leider ohne Untertitel). Ich persönlich schätze die chinesische Küche und Ernährungsphilosophie sehr, aber weil ich einen Großteil der chinesischen Nahrungsmittelproduzenten für fast noch geldgieriger und moralisch verkommener halte als deutsche Hegdefonds-Manager, ist dem Bilderrausch für die Geschmacksnerven ein weiterer Film aus dem Hause CCTV1 vorangestellt: ein Nachrichtenbeitrag über den Abfluss-Öl Skandal (地沟油). Skrupellose Lebensmittelhändler hatten über Jahre hinweg Öl, das unter anderem aus Speiseresten und Tierkadavern hergestellt wurde, als Speiseöl verkauft (das ehemalige Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“ hat darüber übrigens mal wieder nicht berichtet). Genießen Sie mit allen Sinnen!

 



Wir alle sind nur die Kopie eines längst gelöschten Originals

Man könnte mir vorwerfen, dass der Untertitel „Gebrauchsanweisung für den erfolgreichen Kulturschock“ nicht besonders originell ist. Man könnte sogar sagen, dass er geklaut ist. Das ist etwas drastisch formuliert, aber vollkommen korrekt. Es ist geklaut und das ist auch gut so. Denn ich berufe damit auf die chinesische Shanzhai-Kultur, in der Nachahmung zur Kunstform wird und deren Protagonisten die Konzepte „Originalität“ und „Echtheit“ für belangloses Beiwerk ihrer Arbeit halten. Shanzhai, das ist auch der Gedanke, dass sich geistiges Eigentum so wenig einzäunen lässt wie wilde Pferde. Aber das ist nicht der einzige Grund für mein hier vorgetragenes Loblied auf die Kopie. Wenn man wissen möchte, welche Auswirkungen der Originalitätszwang und die Tabuisierung der Kopie zum Beispiel auf die westliche Pop-Kultur hat, dann empfehle ich einen Blick in den Kleiderschrank von Lady Gaga. Da wird dann vielleicht mancher ausrufen: „Oh, ein Fleischkleid, das ist ja mal was anderes. Sehr originell und kreativ.“ Und falsch ist das nicht, denn ein Fleischkleid gab er vor Lady Gaga noch nicht.

 

Innovation und Kreativität stehen in der westlichen Kultur derzeit im Allgemeinen sehr hoch im Kurs. Die Kopie wird hingegen verachtet. Sie erscheint uns wertlos. Aber ist nicht die Kopie, die Nachahmung des Guten und des Erfolgreichen der Kern einer jeden kulturellen Veränderung? Picasso sagte: „Gute Künstler kopieren, großartige Künstler klauen.“ Und Goethe. Als der seinen Faust schrieb, da war diese Geschichte über den zum Okkulten neigenden Wissenschaftler längst ein alter Hut. Ein sogenanntes Volksbuch von Johann Spies war schon im sechzehnten Jahrhundert ein großer Erfolg. Dieses Buch war so beliebt, dass es davon eine ganze Reihe von nicht-autorisierten Nachdrucke gab. Heute würde man wohl Raubkopien dazu sagen.

Und Goethe selbst, war der jetzt ein Raubkopierer? Im Grunde schon. Denn Goethes Faust war nicht einmal das erste Theaterstück zu diesem Stoff. Das schrieb der Engländer Christopher Marlowe etwas mehr als zweihundert Jahre zuvor. Goethe, der Inbegriff des deutschen Ur-Genies, sozusagen der Ur-Urheber, war noch nicht einmal der Erste, dem Ganzen im Kontext der Aufklärung eine neue Bedeutung verlieh. Das was Lessing.

Goethes Faust ist also in erster Linie eine Adaption, eine Kopie, ein Mash-Up. Ein weiteres Beispiel ist der Buchdruck. Die Rechte an dem Gerät, das maschinelles Kopieren von Texten überhaupt erst ermöglicht hat, würden heute vielleicht vor einem Patent-Gericht verhandelt werden. Denn als damals Johannes Gutenberg das Drucksystem entwickelte, waren bereits über vierhundert Jahre vergangen, seit der Chinese Bi Sheng bewegliche Letter erfand. Und so ist es bei den meisten genialen Schöpfungen der Menschheitsgeschichte. Sie sind Adaptionen, Kopien, Mash-Ups – bis heute. Das erste soziale Netzwerk der Welt hieß nicht Facebook. Es trug den schönen Namen 5460 und wurde in China programmiert. Und auch die erste Video-Plattform war nicht YouTube.

Seit ich meine Ansichten über China, Deutschland und die Welt, zu Papier, oder vielleicht besser gesagt, zu Pixel bringe, mache ich mir auch Gedanken darüber, in welcher Form. Ich könnte ja vielleicht ein Buch schreiben, um damit mein Taschengeld ein wenig aufzubessern. Ein wenig gegrillter Hund, Konkubinen, kleine Kaiser und Panikmache vor der kommunistischen Weltherrschaft – und fertig ist der deutsche China-Bestseller.

Aber gedruckte Bücher, diese Lieblingsdekorationen deutscher Wohnzimmer, haben einen großen Nachteil. Das Kopieren ist aufwändig und teuer. Und noch etwas ist mir dann eingefallen: Warum sollte ich für Geld schreiben? Ich habe doch so viel China-Kompetenz und da gibt es derzeit viel bessere Möglichkeiten, Geld zu verdienen, als mit dem Schreiben von Büchern: Ich könnte zu Beispiel mit Plastikschrott handeln. Oder ich könnte Autofirmen helfen, noch mehr Fabriken zu bauen, in denen benzinfressende Luxuskarossen für die Zweitfrauen von korrupten Beamte produziert werden und die Arbeiter zum Hungerlohn für die Yachten der Aktionäre schuften. Es gibt es doch noch so viel zu tun für China-Kenneren? Warum sollte man da überhaupt jemand Bücher schreiben? Das lohnt sich doch kaum noch.

Es wäre aber schon schön, wenn das hier jemand liest oder hört. Ich geb mir ja Mühe. Ich wollte daher zunächst wissen, welche Aspekte die Deutschen beim Thema China besonders interessieren. Und ich hätte fast McKinsey angeheuert, das Potenzial zu evaluieren. Das war mir aber doch zu teuer. Deswegen habe ich dann einfach bei Amazon nachgesehen, welche Bücher besonders oft gekauft werden.

Relativ schnell hat sich herausgestellt, dass die Deutschen besonders gerne Ratgeber und „Gebrauchsanweisungen“ kaufen – für die schnelle Orientierung im richtigen Umgang mit der neuen Supermacht. Außerdem ist mir aufgefallen, dass die Worte „Schock“, und „erfolgreich“ bei fast jedem zweiten Buch auftauchen.

Das, was die Deutschen über China wissen wollen, findet also hauptsächlich im semantischen Feld dieser drei Worte statt. Zunächst einmal ist da der Schock: „Hilfe, die Chinesen erobern den Planeten. Und die sind ja so anders. Ahh. Hilfe.“ Dann kauft man sich ein Buch von einem Chinakenneren, einen Ratgeber, eine Gebrauchsanweisung, in der die Dinge stehen, die man wissen muss, um mit dem Problem angemessen umzugehen. Und am Ende steht dann der „Erfolg“ und alles ist wieder gut.

Diese Methode erinnert an das Buch „Den Himmel gibt’s echt“. Das ist ein Buch über die Nahtoderfahrung eines Vierjährigen und in einer Rezension hieß es, es könne „Eltern und vor allem Kindern helfen, besser mit dem schwierigen Thema Tod umzugehen.“ Das klingt, als wäre der Tod therapierbar, oder als ob er mit der richtigen Gebrauchsanleitung zum Kinderspiel wird. So in der Richtung: „Sterben für Dummys – Alles was sie wissen müssen“. Und so ist es offenbar auch beim Thema China. Viele Leute glauben, dass China sich schon irgendwie zurecht-erklären und in ein eindimensionales und manchmal auch dekadentes Weltbild integrieren lässt. Einige Menschen haben die Hoffnung, dass die Globalisierung nach dem McDonalds-Prinzip funktioniert und für uns im Westen im Grunde alles beim Alten bleibt. So wird es aber wahrscheinlich nicht kommen. Denn die Chinesen kopieren vor allem unsere intellektuelle Open-Source-Software und viele dieser Kopien übertreffen schon heute das Original.

Wenn in China ein Geschäft eröffnet wird und erfolgreich ist, dann dauert es meist nur wenige Monate, bis direkt daneben ein Laden aufmacht, der den Erfolg bis ins Detail kopiert, und nicht nur einer. Ich kenne in Peking ganze Straßen, die bestehen nur noch aus Geschäften für Musikinstrumente oder Schreibutensilien oder sonst etwas. Und keiner stört sich daran.

Im Internet gibt es keine Straßen. Da gibt es Suchmaschinen und da muss man sich seine Nachbarschaft nach Wortverwandtschaften aussuchen, um gefunden zu werden. Wenn ich mich also begrifflich mit einigen fremden Federn schmücke, dann aber nur mit denen, die ich auf der Straße gefunden habe und denen, die man ohnehin nicht weiter verfolgen kann, als bis in ein digitales Creative-Commons-Universum, in dem wir alle nicht mehr und nicht weniger sind, als die fehlerhafte Kopie eines längst gelöschten Originals.

Chinabildblog: In die Luft gegriffen – Die Berichterstattung über die Brüste von Kate Winslet

Der Frühling ist da und im April geht ja bekanntlich einiges drunter und drüber. Die Hormone spielen verrückt und manch ein chinesischer Mann kann selbst bei dem eher mäßig erotischen Hollywood-Schinken „Titanic“ seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Denn wenn man einigen Medien glauben darf, wurde die Szene, in der  Leonardo Di Caprio die nackte Kate Winslet malt und man ihren entblößten Oberkörper zu sehen bekommt, von der chinesischen Medienbehörde „China’s State Administration of Radio, Film and Television“ (SARFT) mit dieser Begründung zensiert. So schreibt es zumindest „Welt Online“:

Es sollte mit der Zensur aber nicht nur öffentliches Ärgernis vermieden werden, sondern auch ein anderes mögliches Phänomen. Die chinesischen Sittenwächter hatten befürchtet, die Zuschauer könnten im Kinosaal in die Luft greifen, um die Brüste von Winslet berühren zu wollen. Damit würde der Filmgenuss der anderen Kinogänger beeinträchtigt.

Dummerweise ist diese Begründung reiner Humbug und geht auf einen 5-Tage alten Blogeintrag zurück, der diese satirisch gemeinte Begründung offensichtlich seinerseits aus dem chinesischen Internet übernommen hat. Hier ist der vom Ministry of Tofu verlinkte Kommentar im chinesischen Original.

更有网友调侃:估计广电总局是考虑到3D电影的特殊性,担心播放此片段时观众会伸手去摸,打到前排观众的头,造成纠纷,所以才做出删除的决定.

Einige User lästerten: Ich vermute, die Filmregulierungsbehörde hat sich über die Besonderheiten der 3D-Technik Gedanken gemacht und befürchtet nun, dass die Zuschauer ihre Hände ausstrecken werden und die Köpfe der Leute vor ihnen streicheln werden. Das gibt natürlich Ärger und daher die Entscheidung, die Szene herauszuschneiden.

Ich bin ja schon seit Langem der Meinung, dass viele Journalisten sich nur zu gern aktiv am sozial-medialen „Stille-Post-Spielen“ beteiligen und wie „Welt Online“ meist nicht eimal ihre Quellen angeben. Damit befindet sich das deutsche „Qualitätsblatt“ allerdings in guter Gesellschaft. Die gefälschte Begründung der Zensur-Entscheidung, die meiner bescheidenen Meinung nach wohl eher auf den Fakt zurückzuführen ist, dass in chinesischen Kinos aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage niemals weibliche Oberweiten zu sehen sind, kam äußerst gut bei den Medien an.

Viele Medien schrieben diese Geschichte voneinander ab, ohne sich mit lästiger Recherche-Arbeit aufzuhalten. Hier nur einige exemplarisch:

Im Vergleich zu den US-amerikanischen Seiten sind die deutschen Medien allerdings etwas im Verzug. Dort wurde bereits vor einigen Tagen darüber berichtet. Verwunderlich ist das nicht, denn von denen schreibt man seine China-Nachrichten offensichtlich ab:

Die „Huffington Post“, die auch darüber berichtete, hat den Unfug inzwischen korrigiert und als Satire ausgewiesen. Es wäre zu hoffen, dass man das in den deutschen Medien dann auch noch kopiert. Und vielleicht ändert dann ja auch James Cameron, der Regisseur von „Titanic“, noch seine Meinung.

They were affraid, that Chinese men would actually be reaching out towards the screen. This is true. You can’t make this up.
Sie hatten Angst, dass die chinesischen Männer ihre Hände zum Bildschirm hin ausstrecken würden. Das ist die Wahrheit. Das kann man sich nicht ausdenken.

Doch James. Man kann.

Nachtrag: Der Gott des angebissenen Apfels

Die Nachricht schlug in China ein wie eine Bombe. Gott ist tot. Als Steve Jobs starb, da waren viele Chinesen verwirrt. Sicher, man hatte von seiner Krankheit gehört und man hatte wahrgenommen, dass er bei den Produktpräsentationen von Mal zu Mal gebrechlicher wirkte. Aber tot? Steve Jobs war also wirklich sterblich?

Steve Jobs wurde in China in einem Maße vergöttert, das noch weit über die kultische Verehrung hinausgeht, die man weltweit vor allem in den sogenannten Kreativberufen antrifft. Apple ist mehr als nur eine Firma, die Endgeräte ohne USB-Anschluss baut. Apple ist eine weltumspannende Religion. Ganz sicher. Und wer einmal dieses Leuchten in den Augen eines Grafikdesigners gesehen hat, wenn er sein neues 4S aus der medizinisch-neutral-weißen Verpackung herausnimmt und zum ersten Mal die Finger zärtlich über das Display gleiten lässt, der weiß, dass in Palo Alto keine Computer und Handys entworfen werden, sondern Visionen eines besseren Lebens, die aus den sphärischen Dimensionen der Cloud zu den Menschen gelangen.

Bisher hat sich China durch die Jahrtausende eigentlich gegenüber jeder Form des Glaubens an spirituelle Welten erfolgreich verschlossen. Oder aber die Religion wurde – wie der Buddhismus – so stark an die Gegebenheiten in China angepasst, dass von ihr nicht viel übrig blieb. Auch der Ausschließlichkeitsanspruch von Religionen wurde in China nie so stark betont wie in anderen Ländern. In den Tempeln sieht man auch heute noch Ahnenverehrung, Konfuzianismus und Buddhismus in einer bunten Mischung nebeneinander. Wie beim Kungfu existieren unzählige Schulen. Chinesen sehen meist keinen kategorischen Unterschied zwischen Religionen und warmen Wollsocken. Je mehr man davon hat, desto besser. Und nur weil man die eine Lehre bevorzugt, besteht für viele Chinesen noch lange kein Anlass, nicht auch die andere zu praktizieren. Ich habe einmal einer Studentin geholfen, sich für ein theologisches Promotionsstudium in Deutschland zu bewerben. In der Ausschreibung stand, dass die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion für ein Stipendium vorausgesetzt wird. Als ich sagte, dass sie sich daher leider nicht auf das Stipendium bewerben könne, sagte sie: „Warum? Ich kann doch vorher Christin werden? Oder gibt eine Aufnahmeprüfung?“

Das nun aber gerade der ewig rollbekragte Steve Jobs nach seinem Tod zum Messias der Chinesen geworden ist und in den Großstädten auf zahllosen Plakaten sein grüblerisches Lächeln verbreitet, ist ein wenig inkonsequent.

Schließlich muss man sich beim Thema Tibet von den meisten Chinesen anhören, dass die Gelbmützensekte um den Dalai Lama einst ein religiöses Sklavensystem geschaffen hat und es daher doch vollkommen hirnlos ist, diesen Vertreter einer Ausbeuterideologie zu verehren. Wenn Chinesen in Deutschland in der Exotik-Ecke des Buchladens den tibetischen Religionsführer auf den unzähligen Buchtiteln lächeln sehen, dann wundern sie sich über die Begeisterung, die diesem Mann entgegengebracht wird.

Nun sind zwar nicht alle Geschichten über die Zustände in den chinesischen Apple-Zulieferbetrieben auch nach dem Fakten-Check einer Spiegelgeschichte würdig. Aber unbestreitbar entstehen die paradiesischen Gewinnmargen der Firma mit dem angebissenen Apfel auch durch eine Art Sklavensystem. Apple floriert vor allem deswegen, weil chinesische Arbeitskräfte für einen Hungerlohn die Drecksarbeit machen. Nicht, dass die anderen globalen Firmen, die in China produzieren auch nur einen Deut besser wären. Nein, auch Samsung, Nokia und Siemens und die meisten anderen Konzerne, die in China fertigen lassen, sind auf dem Prinzip der Ausbeutung chinesischer Arbeitskräfte durch Niedriglöhne aufgebaut. Apple hat das Prinzip nur perfektioniert.

Aber warum lieben die Chinesen denn den Mann und seine Firma, für dessen Aktienkurssteigerung zahlreiche ihrer Landsleute in den Werkshallen schuften? Ich kann es mir eigentlich nur durch das Stockholm-Syndrom erklären. Oder durch die Tatsache, dass Apple die besten und schicksten Endgeräte ohne USB-Anschluss baut.

Die Armut, die bitterkalte Armut

Es war gegen zwei Uhr an einem Donnerstag in einer eisigen Winternacht und ich hatte Hunger. Nicht immer verzeiht mir mein Magen diese nächtlichen Ausflüge zu den chinesischen Garküchen, aber diesmal musste es Malatang sein. Malatang und Sichuan-Pfeffer machen süchtig. Ich zog meine dickste Winterjacke an und ging zu Fuß von unserer Wohnung nach Sanlitun; erst durch die ungewohnt menschenleeren Hutong-Gassen, dann durch die verspiegelten Hochhausschluchten.

Gucci, Apple, Starbucks

Sanlitun steht wie kaum ein anderer Ort für den manchmal so herzlosen und hektischen Auftstieg des neuen Chinas. Sanlitun, das ist das „Village“, ein modernistischer Einkaufskomplex, der die Besucher mit dem größten Adidas-Store der Welt begrüßt und in dem sich Gucci, Apple, Starbucks und all die anderen Markführer ihre neue Konsumentenschicht heranzüchten. Sanlitun ist auch das „Soho“, eine Stadt in der Stadt, ein überdimensionierter Wohn- und Arbeitskomplex, der mit geschwungenen Milchglasfassaden über dem Gelände thront wie ein gigantisches Sound-Essemble von Bang und Olufsen. Sanlitun ist die Kneipenstraße mit den Touristenschuppen und den lustlosen Karaokebands, den Clubs mit ihrer grellbunten Technowelt und den verrauchten Bars.

In den heißen Sommernächten ist die Kneipenstraße vollgestopft mit Touristen, Expats und Gaststudenten, die sich verschwitzt und betrunken von Club zu Club hangeln. Die Fremden aus dem Westen und ihre vollen Geldbeutel haben über die Jahre eine ganze Reihe von Gangstern, Prostituierten und Bettlern angelockt, die den Mark untereinander aufteilen. An den dunklen Ecken stehen die Drogendealer schwarzafrikanischer Herkunft, die Marihuana verkaufen. Die etwas abseits gelegenen Straßen sind gesäumt von jungen Frauen, die einsame ausländische Männer mit den immer gleichen Worten „Massaji“ und „Ladybar“ für ihre Dienste gewinnen wollen. Etwas weiter westlich, am Arbeiterstadion, stehen die schmutzigen Bettlerinnen mit ihren Kindern auf dem Arm und bitten die betrunkenen Austauschstudenten mit ihren Plastikbechern in der Hand um etwas Kleingeld.

Tiefgefrorenes Sandpapier

In der Hochsaison wimmelt es in der Kneipenstraße von chinesischen Kleinunternehmern. Direkt im Village sieht man sie nicht, da werden sie von den Ladenbesitzern und den Ordnungsbeamten vertrieben; nur die Rikschafahrer, die vor dem Adidas-Store zwischen den Taxis und den neuesten Modellen der Oberklasse hindurchmanövrieren, werden toleriert. In der Kneipenstraße jedoch stehen die Verkäufer mit ihren Ständen. Sie verkaufen gefälschte Marken-Zigaretten, Getränke, Blumen, chinesische Musikinstrumente und Plastikspielzeug. Im Sommer gleicht die Straße einem chaotisch bunt-blubbernden Feuertopf. Bis in die späten Nachtstunden stehen die Verkäufer dort mit ihren Garküchen, bei denen man für wenig Geld Lammspieße, Hänchenflügel und eben Malatang bekommt.

In dieser Nacht war es minus sieben Grad. Leere Plastiktüten wehten durch die Einkaufpassage und ein paar Drogendealer gingen eine Weile neben mir her, bis sie merkten, dass ich nicht deswegen nach Sanlitun gekommen war. Vereinzelte Touristengruppen kamen aus den Bars, in denen die Bässe die leeren Tanzflächen bedröhnten. Obwohl es mitten in der Nacht war und der beißend staubtrockene Wind sich auf der Haut anfühlte wie tiefgefrorenes Sandpapier, standen die frierenden Männer und Frauen wie immer an ihren Garküchen und warteten auf Kundschaft. Auch die Verkäufer mit ihren bunten gasgefüllten Luftballons, den Blumen und den Spielsachen waren wie immer in der Kneipenstraße.

Dieses Mal aber war es echt

Ich stetzte mich auf einen der winzigen Schemel, die vor einem Malatang-Stand aufgereiht waren. Spieße mit Pilzen, Gemüse, kleinen Würstchen, Tofu, Fischklößchen und auch einigen Innereien schwammen in der dunkelroten Brühe aus Fett, Chillischoten und Sichuan-Pfeffer, der wegen seiner leicht betäubenden Wirkung ein Prickeln auf der Zunge hinterlässt.

Die Verkäuferin war froh, dass ihr in dieser Nacht noch jemand ein paar Spieße abkaufte. Eine ganze Zeit saß ich und aß stumm das, was sie mir auf den Teller legte. Hin und wieder kamen Verkäufer mit ihren Luftballons und ihren Spielsachen. Nach einer Weile kam eine der Frauen mit den bunten Luftballons und fragte mich, ob ich ihr vielleicht einen Tofuspieß kaufen könnte. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und ihre Wangen waren rot wie gerocknete Äpfel. Ich sagte ja und sie nahm sich einen Spieß, den sie hungrig verschlang. Sie fragte, ob sie noch einen essen dürfe und als ich ja sagte, setzte sie sich neben mich. Ich sagte, dass es ohnehin sehr ungesund sei, allein zu essen und lachte. Sie lachte auch und aß hastig. Nach einer Weile kamen auch die anderen Luftballonverkäufer und ich lud sie zum Essen ein. Am Ende waren wir zu fünft.

Wie oft habe ich in den letzten Jahren in einem Restaurant an einem der runden Tische gesessen, bei Geschäftsessen oder mit der Familie und nach chinesischer Sitte die anderen höflich dazu aufgefordert, zuzugreifen. In China drängt man seine Freunde beständig, sich satt zu essen und nicht zurückhaltend zu sein. Eigentlich war das für mich meist ein eher abstruses Schauspiel, bei dem es darum ging, seine soziale Kompetenz zu beweisen, in dem man sich bescheiden und großzügig zeigt. Dieses Mal aber war es echt. Wer in einer eiskalten Winternacht verzweifelt versucht, den versprengten Touristen für ein paar Yuan einen Luftballon zu verkaufen, für den sind Bescheidenheit und Großzügigkeit beim Essen keine leeren Formeln sozialer Interaktion.

Der Mann, der mir an diesem Abend gegenüber saß, hatte Hunger. Und ich sah den Scham in seinen Augen – den Scham, von mir, einem Ausländer, diese Form der Großzügigkeit anzunehmen. Ich hingegen schämte mich dafür, dass ich manchmal an einem Abend in den Bars und Geschäften dieser Gegend soviel Geld ausgegeben hatte, wie dieser Mann in einem ganzen Monat oder vielleicht sogar in einem halben Jahr verdient. Der Mann aß langsam und voller Würde und als ich ihn bat, noch etwas zu nehmen, lehnte er bescheiden ab.

Die Böden sind schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch

Die Verkäufer kamen alle aus Hunan, eine Provinz, in der, wie sie sagten, die Böden schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch sind. Wer weiß, welche Schicksalsschläge sie nach Beijing geführt hatten und welche Versprechungen ihnen gemacht wurden, welcher sprupellose Geschäftsmann ihnen die Luftballons und die Spielsachen verkauft hat. Wer weiß, welchen Anteil sie vielleicht auch selbst daran haben, dass sie in dieser wenig hoffnungsvollen Situation sind. Sicher ist aber, dass sie alles darum gegeben hätten, nicht in dieser Situation zu sein.

Viele Dinge in China kann man nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Armut, eine brutale und bedrohliche Armut immer noch untrennbar zu Chinas Gegenwart gehört. Die glitzernden Fassaden in den großen Städten können sehr lange darüber hinwegtäuschen, dass die  Entbehrungen und der Hunger den Menschen in den Knochen steckt. Denn auch die, die die Armut hinter sich gelassen haben, werden in irgendeiner Form von der dauerhaften Anwesenheit von Kälte, Hunger und Elend begleitet.

Und vielleicht ist auch die Verschwendungssucht der wohlhabenden Chinesen, der Luxus und die Achtlosigkeit, mit der der Kuchen bei Starbucks nach dem ersten Bissen neben den halbvollen Tassen auf dem Tisch stehen gelassen wird, nichts weiter als der ewige Kampf, sich von der Armut, dem chinesischen Stigma, so weit wie möglich zu entfernen.

Yu Huas armer Riese und der kategorische Imperativ

Der chinesische Schriftsteller Yu Hua, der die Gabe hat, sowohl die Poesie als auch die Brutalität des chinesischen Lebens in Worte zu fassen, beschreibt in einem seinem neuesten Buch China in Ten Words eine Szene aus seiner Jugend, die die Armut zu einem Schlüsselmoment der ganzen Gesellschaft werden lässt. Die Geschichte spielt zur Zeit der Kulturrevolution, in der Nahrungsmittel nur gegen Essensmarken zugeteilt wurden. Um Spekulationen zu verhindern, war es verboten, mit diesen Marken zu handeln. Die Jugendlichen in dem kleinen Ort hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die öffentlichen Plätze zu überwachen, um die Schwarzhändler zu stellen und der Polizei zu übergeben. Eines Tages griff die Jugendbande einen groß gewachsenen Mann auf, der die Lebensmittelmarken, die er zu Geld machen wollte, erst aus der Hand gab, als die Kinder mit einem Stein auf seine Hände einschlugen und so die Umklammerung lösten. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus, dass der Mann aus elenden Verhältnissen kam. Er lebte in einem kleinen Dorf und seine Familie hatte sich ein ganzes Jahr lang die Marken vom Munde abgespart. Der Mann wollte heiraten und mit dem Geld einen Teil seiner Aussteuer bezahlen.

Wenn man sich, wie viele Ausländer in China, die Frage stellt, warum die Chinesen denn ihre eigenen Gesetze so oft nicht einhalten, dann ist man mit fehlender moralischer Integrität sehr schnell bei der Hand. Die Chinesen haben Kants kategorischen Imperativ eben noch nicht so richtig verstanden.

Die Ausnahmen von Regeln werden zu einem Akt der Mitmenschlichkeit

Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass es oft die Armut ist, die Bitterkeit der Realität, die Ausnahmen von Regeln zu einem Akt der Mitmenschlichkeit werden lässt. Warum werden die Rikschafahrer toleriert, die Händler von Raubkopien nicht hart bestraft, die wilden Märkte auf den Fußgängerbrücken nicht unterbunden? Manchmal liegt es einfach daran, dass die Beamten vom Ordnungsamt es nicht übers Herz bringen, den Menschen, die ohnehin fast nichts haben, ihren einzigen Verdienst zu nehmen.

An meiner Uni studieren jedes Jahr Studenten, die aus sehr armen Familien kommen. Die Eltern haben auf vieles im Leben verzichten müssen, um ihren Kindern einen Universitätsbesuch zu ermöglichen. Die Studenten haben den größten Teil ihrer Kindheit geopfert, um durch fast unendlichen Fleiß und militärischen Drill eine gute Note bei der Hochschulaufnahmeprüfung zu erreichen. Um im Leben eine Chance zu haben und der Armut zu entkommen, haben sie große Opfer gebracht. Wenn nun einer dieser Studenten, aus welchen Gründen auch immer, die für einen Studienabschluss erforderlichen Leistungen nicht erbringt, würde man ihn dann mit gutem Gewissen durchfallen lassen? Würde man ihn seiner hart erkämpften Zukunft berauben? Würde man angesichts der Not, die diese Studenten und vor allem ihre Eltern erleiden mussten, nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und ein Auge zudrücken? Und wenn man in diesem Fall die objektiven Kriterien aufhebt, muss man dann nicht auch in anderen Fällen weniger streng sein, um eine Vergleichbarkeit zumindest nach außen aufrechterhalten zu können?

In China gibt es sehr wenig Studienabbrecher. Egal, wie schlecht die Leistungen der Studenten sind, am Ende bekommen sie fast immer ihren Abschluss. Das ist ein System, das in in seiner Paradoxität kaum zu übertreffen ist. Aber wer will denn schon verantwortlich dafür sein, wenn sich die Eltern aus dem Fenster stürzen, weil ihre Kinder, ihre einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sie so bitter enttäuscht haben? Und das ist keine Übertreibung. So etwas passiert immer wieder.

Eine ehemalige Kollegin von mir hat gerade einen Artikel im Spiegel veröffentlicht, in dem sie über die aus deutscher Perspektive nahezu unmenschlichen Lernbedingungen an chinesischen Mittelschulen schreibt. Der Bericht trifft die Wirklichkeit wohl recht gut, ignoriert aber vollständig die Zwänge und Hintergründe des chinesischen Überlebenskampfes, die Bildungspolitik oft zu etwas werden lassen, wie die Veranstaltung einer Runde „Reise nach Jerusalem“ – mit viel zu wenig Stühlen. Es lässt sich leicht über eine Ellenbogengesellschaft philosophieren, wenn man selbst im weichen Sofa sitzt.

Armut ist nicht relativ

Als ich in meinem ersten Jahr an einer chinesischen Universität „Zeitungslektüre“ unterrichtet habe, hielt ich es für eine gute Idee, das Thema „Armut“ zu behandeln. Ich dachte, dass es ein interessanter Perspektivwechsel sein würde, sich mit der Armut in Industrieländern zu beschäftigen, die zu diesem Zeitpunkt zunehmend zu einem Problem wurde. Aber als die Studenten die Summen hörten, die deutsche Arbeitslosengeldempfänger monatlich bekommen, erntete ich Blicke, die mir zu verstehen gaben, dass sie spätestens jetzt sicher waren, wie wenig die Menschen im reichen Westen überhaupt in der Lage sind, die Bedeutung des Wortes „Armut“ angemessen zu verstehen.

Ich habe damals auch einen Fernsehbericht gezeigt, in dem eine deutsche Studentin einen Selbstversuch macht und die „Bitterkeit“ einer Hartz4-Existenz an sich selbst ausprobiert. Es war schon fast komisch, wie in dem Bericht versucht wurde, die Situation dieser Studentin in den schwärzesten Farben zu malen. Sie saß einsam am Fenster, sah in den grauen Himmel und musste sich damit abfinden, dass ihre Fertig-Pizza nicht mehr aus dem Hause Doktor Oettker kam. Die Szenen waren mit deprimierender Musik unterlegt, um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen. Kein Urlaub, kein Kino, nichts.

Einige der chinesischen Studenten fanden es sicher nicht besonders komisch. Viele Menschen im reichen Westen hören es vielleicht nicht so gerne hören, aber es ist die Wahrheit: Armut ist nicht relativ. Die westlichen Wohlstandsgesellschaften haben die Armut besiegt. Heute müsste in Deutschland niemand frieren oder hungern. Der Staat garantiert zumindest die nackte Existenz. In China ist das anders. Auch wenn die Situation sich sehr verbessert hat, lebten laut offizieller Angaben im Jahr 2010 in China immer noch fast 27 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze.  In China gilt jemand als arm, der umgerechnet weniger als 148 Euro zur Verfügung hat – im Jahr.

Musikrezension: Omnipotent Youth Society – Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Die Omnipotent Youth Society ist für mich die chinesische Band mit dem größten künstlerischen Potenzial derzeit. Sie haben für ihr aktuelles Album Jahre gebraucht und so klingt es auch. Im bäuerlichen Shijiazhuang schrauben ein paar Jungs in den bretterbudenähnlichen Rockschuppen Songs zusammen, die sich kompositorisch kaum hinter Coldplay oder Radiohead verstecken müssen. Auffälligstes Merkmal ihrer Musik sind die sphärischen Trompetenklänge und die oft überraschenden Rythmus- und Melodiewechsel in ihren Liedern. Sie sind alle ausgebildete Musiker, die auch Jazz oder Klassik machen könnten, wenn sie es wollten. Stattdessen füllen sie aber lieber auf einem nicht-existenten chinesischen Rockmusik-Markt eine nicht existente Nische aus. Ihre Fans wissen, dass es ihnen ziemlich gleichgültig ist, ob irgendjemand zuhört. Denn darum geht es nicht. Die glasklaren Lyrics stammen von einem jungen chinesischen Universitätsdozenten für englische Poesie, der die metaphorische Gewalt der chinesischen Sprache zu nutzen weiß. Der Song „Qinghuangdao“ ist eine Hymne und eine junge Frau in dem Video weiter unten sagt, dass sie weinen musste, als sie das Lied zum ersten mal gehört hat.

Ominipotent Youth Society bei „noisey“, Beijing



Ein Einblick in die Welt der „Omnipotent Youth Society“ (Versuch einer Übersetzung):

Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Um sechs Uhr Abends ist Feierabend,
Ich zieh mir den Kittel der pharmazeutischen Fabrik aus.
Meine Frau kocht Reisbrei,
Ich trinke ein paar Flaschen Bier.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.

Am achteckigen Verkaufstresen,
Am verrückten Markt des Volkes,
bezahle ich mit Falschgeld
und kaufe eine falsche Waffe.

Sie beschützt ihr Leben,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Der Vorhang der Nacht bedeckt die Ebenen Nordchinas.
Ihr tieftrauriges, tränenbedecktes Gesicht.

In der Mittelschule in Hebei
spielen sie Ping Pong
und betrachten mich stumm.
Unfähig, das Klassenzimmer zu verlassen.

Das Leben in der Erfahrung
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Zehntausend wilde Pferde
laufen durch seinen Kopf.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.



Omnipotent Youth Society
bei Amazon



Omnipotent Youth Society-Kill the One from Shijiazhuang

Das ganze Album zum reinhören bei douban.

Video-Dialog: “Der Westen muss lernen,das heutige China zu verstehen”

Hier das Video zu der Auftaktveranstaltung der Dialogreihe „Magnet China“ anlässlich des chinesischen Kulturjahres 2012. Unterstützt wird die Dialogreihe von der Bertelsmann Stiftung, der Körber Stiftung und der Robert Bosch Stiftung.

In dem von Frank Sieren moderierten Gespräch unterhalten sich Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Schmidt und Prof. Dr. Gu Xuewu über Demokratie, Menschenrechte, Wirtschaft und andere Fragen (Ausschnitte). Sehr sehenswert!

Das ganze Gespräch als Podcast findet sich hier.

 

 

Das Lächeln der jungen Frau Liu und die Selbstkultur

Es ist nicht lange her, da schwappte eine Welle der Aufregung durch den chinesischen Makrokosmos der Mikroblogs. In einer Fernsehsendung hatten sich zwei ungleiche Kontrahenten über mehrere Runden ganz unverhofft ein verbales Duell geliefert, das streckenweise an Spannung mit einem guten Boxkampf mithalten konnte. An den Computern in ganz China saßen die Punktrichter, die mit ihren 140-Zeichen-Analyen darüber entschieden, wer als Sieger aus dem Schlagabtausch hervorgegangen ist. Das Votum der Mikroblogs war eindeutig: Die junge Frau Liu.

Die überwältigende Mehrzahl der Mikroblogs, in denen derzeit noch in großer Zahl das aufstrebenden Bürgertum seine Stimme findet und zu denen Chinas politische und wirtschaftliche Elite ebenso wie die Landbevölkerung erst langsam einen Zugang entwickelt, votierte in Online-Umfragen für die junge Frau und sympathisierte mit ihrer direkten, an Dreistigkeit grenzenden Schlagfertigkeit. Und halb China versuchte sich an der Analyse dieser für chinesische Verhältnisse sehr offenen Konfrontation. Hier nun meine Analyse.

Zunächst die Vorgeschichte: Auf einem Tianjiner Fernsehsender, der auch überregional zu empfangen ist, war eine neue Show angelaufen, in der junge Menschen auf der Suche nach beruflicher Veränderung sich den harten Fragen einer Jury aus erfolgreichen Geschäftsleuten stellen müssen. Die Show funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie DSDS und all die anderen Mittelmaß produzierenden Durchlauferhitzer fragwürdiger Talente. Auch die chinesischen Fernsehsender setzen bei der Unterhaltung auf die demokratischen Entscheidungen des Publikums, wenn es darum geht, Ausschau zu halten nach originellen Gesangsstimmen und perfekten Modellmaßen. Und wie überall sonnen sich die Teilnehmer für kurze Zeit in ihrer landesweiten Popularität, um dann alsbald wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Der größte Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Casting-Industrie besteht derzeit jedoch darin, dass die chinesische Unterhaltungsbranche kaum Anstalten macht, die in Deutschland üblichen, sadomasochistisch geprägten Elemente dieser Fernsehgattung zu kopieren. In China gibt es keine Unterhaltungssendungen, derer Prinzip es ist, die Entwürdigung und Erniedrigung medial inszenierter Verlierertypen als postsatirisches Schauspiel zu vermarkten. Auch die niedersten aller Mediengeschöpfe, jene Moderatoren, die Mobbing, Schadenfreude und Beleidigungen unter dem Deckmantel der Ironie zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen, gibt es in China nicht. Vielleicht muss man sagen: Noch nicht.

Nicht, dass es in China keinen Spott gäbe, der sich über die Skurrilen und Verkorksten ausschütten lässt. Das chinesische Internet ist voll von Selbsdarstellern, die sich vollkommen freiwillig auf der Suche nach ein wenig Ruhm an den virtuellen Pranger stellen, bloß um von der Internetgemeinde mit Schmutz beworfen zu werden. Aber im Staatsfernsehen, in dem sich die Kräfte des Marktes nur in den Werbepausen ein wenig austoben können und die oft brutale Realität Chinas nur selten hinter den Weichzeichner-Orgien der Fernsehregisseure hervortritt, da gibt es für die Schande keine Öffentlichkeit. Auch in den Talk-Shows tragen die Menschen, die sich seelischen entblößen und die dadurch Opfer ihrer eigenen Lebenswelt werden könnten, sehr oft Masken, damit sie nicht erkannt werden.

Nun könnte man annehmen, dass Zhang Shaogang, der Medienprofi, der auch schon als gestrenges Jury-Mitglied einer Casting-Show für Nachwuchsmoderatoren in Erscheinung getreten ist, in der Fernsehsendung “Feichang Moshu (非你莫属)“ einfach ein bisschen Krawall anzetteln wollte und die mediengerechte Kontroverse bewusst gefördert hat, als er die junge, selbstbewusste Kandidatin Liu Lili abstrafte, wie ein unangenehmer Oberlehrer eine aufsässige Siebenjährige. Vieles spricht jedoch dafür, dass es Zhang Shaogang nicht auf den bloßen Show-Effekt angelegt hat, als er die Fernsehsendung zu einem Gerichtshof über Liu Lilis Lebenseinstellung werden ließ. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen „echten“ Konflikt gehandelt hat.

Der Konflikt, der zwischen den beiden ausgetragen wurde, ist vielleicht auch ein Konflikt, der etwas über die nationale Psyche Chinas zu Tage gefördert hat, das wie ein verdrängtes Kindheitstrauma die moderne chinesische Gesellschaft begleitet. Ich denke, dass Liu Lilis Auftreten, das für jüngere Menschen in China in keiner Weise ungewöhnlich ist, einen Bruch mit der herkömmlichen Einstellung der Chinesen zum westlichen Ausland darstellt. Es geht im Grunde aber auch um eine viel tiefer gehende Frage.

Chinas junge Generation lebt seit frühester Kindheit in engem Kontakt mit ausländischen, kulturellen Erzeugnissen und viele haben eine enge, emotionale Bindung zu nicht originär chinesischen Lebenseinstellungen entwickelt. Die spannende Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Jugend in der Zukunft weiterhin dem Bedürfnis der älteren Generationen nachkommen wird, die Welt fast zwanghaft aus chinesischer Perspektive wahrzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich genug über China weiß, um mir die Rolle eines Psychiaters zuzutrauen, aber was soll’s. Ich nehme ja kein Geld dafür.

Die 24-jährige Liu Lili hat in ihrer Kindheit drei Jahre in Neuseeland verbracht und offensichtlich hat diese Zeit sie sehr geprägt. Sie stammt aus der Provinz Hubei und stellt sich zu Beginn der Sendung selbst vor. Sie hat an der Fremdsprachenhochschule in Beijing einen Bachelor in Englisch gemacht und sagt über sich selbst, dass es ihr positivster Charakterzug sei, die Dinge direkt beim Namen zu nennen.

Direktheit als positiver Charakterzug einer Chinesin? Wenn es eines gibt, das Chinesen, besonders die Frauen normalerweise als ungehobelt ablehnen, dann ist es doch die Geradlinigkeit und Direktheit. Was die Chinesen gern als “Hanxu (涵蓄)“ bezeichnen und womit viele auch mit Stolz die chinesische Kommunikationskultur charakterisieren, ist eine Indirektheit, die es gerade Ausländern sehr schwer macht, sich in der Gedankenwelt der Chinesen zurecht zu finden. Liu Lili will das nicht. Sie will direkt sein.

Ansonsten erscheint Liu Lili zunächst als normale junge Frau, die erzählt, dass sie manchmal auch auf den eher trashigen Look (臭美) steht, gerne Shakespeare liest, aber am allerliebsten in den Mikroblogs surft. Sie sieht sich selbst als „Workaholic“, nimmt das Leben jedoch auch nicht zu schwer.

Der Moderator der Show scheint jedoch von Anfang an keinen besonderen Gefallen an ihrem Auftreten zu finden. Als Liu Lili mit den Moderatoren in eine Art Streitgespräch gerät, ob sie nicht doch eher die Sonette von Shakespeare meint, die es ihr angetan haben und nicht die „Helden-Couplets“, von denen auch die Jury noch nie etwas gehört hat, fällt sie bei der Erklärung kurz ins Englische. Sie sagt „It’s kind of like…“.

Auch wenn man das Gefühl hat, dass Liu Lili ein wenig mit ihren Englischkenntnissen und ihrem Auslandsaufenthalt im fernen Neuseeland kokettiert, so wirkt es auf mich noch lange nicht so affektiert wie die Gespräche, die man oft in den Einkaufzonen der Großstädte mitverfolgen kann. Shanghais und Beijings „Upper-Nose-Class“ hat es sich doch schon lange zur Sitte gemacht, englische Worte und ausländische Urlaubsaufenthalte in Gespräche zu streuen wie Schokoladenstreusel auf den Cappuccino von Starbucks. Über dieses Phänomen lacht man sich im Internet seit längerem kaputt und keiner hat es besser auf den Punkt gebracht, als die landesweit bekannte Schwester „hold住“ , die grell geschminkt in einem bizarren Chinglisch von ihrem Shopping-Trip in Paris berichtet.

Auch wenn die chinesische Regierung im letzten Jahr beschlossen hat, das lateinische Alphabet aus Zeitungstexten herauszuhalten, sieht die sprachliche quasi-bilinguale Realität der Großstädte doch ganz anders aus. Das junge China jedenfalls liebt den Mix mit dem Ausland ebenso wie das klassischste aller chinesischen Club-Getränke: schottischen Whisky mit grünem Eistee.

Aber der Moderator Zhang Shaogang hält nichts von Mischungen. Er ist Chinese, und im Verlaufe des Gespräches sieht er es offenbar als eine Art Dienst am Vaterland, auch Liu Lili daran zu erinnern, dass Chinesen nicht aus ihrer Haut können. Denn als Liu Lili über ihre Zeit in Neuseeland berichtet und erzählt, dass sie nicht zu lange von China fortbleiben könne, weil in Neuseeland der Lebensrhythmus einfach zu langsam ist, wird der Moderator zum Oberlehrer des chinesischen Nationalstolzes.

Hier der Dialog:

Moderator (finster): „Warte mal, warum habe ich das Gefühl, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft, wenn ich mich mit dir unterhalte? Wenn ich mit meinen Freunden spreche, frage ich sie wohl kaum ´Hallo, was hältst du eigentlich von China?` Das ist unser Land. Wenn wir in der Heimat sind, müssen wir dann noch darüber sprechen, als wäre es ein Eigenname (用大写来称呼) ?“

Liu Lili: „Wenn Sie über China sprechen und das Wort ´Heimatland` benutzen, ist das doch auch ein Eigenname.“ (Das Publikum raunt)

Moderator (sauer): „Ich sage: ´Wir hier`“

Liu Lili: „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass man sich hier etwas gewählter ausdrücken sollte. Darum habe ich dieses rhetorische Mittel gewählt. Ich sieze sie ja schließlich auch.“

Moderator: „So, wie du mit mir sprichst, lässt es mich wieder kalt erschaudern. Zuerst sei bitte nicht so verkrampft und als nächstes: Sprich einfach normal, OK?“

Im weiteren Verlauf des Gespräches weist der Moderator Liu Lili noch mehrmals zurecht und kritisiert ihre Aggressivität. Liu Lili hingegen fühlt sich von den Fragen des Moderators und auch von der Jury angegriffen und unter Druck gesetzt. In einer Szene wird sie aufgefordert, sich doch auch mal von ihrer natürlichen Seite zu zeigen und zu lächeln. Als sie das dann tut, ist sich der Moderator nicht zu schade, ihr Lächeln als „gruselig“ zu beschreiben.

Auch in keiner der weiteren Diskussionen hält Liu Lili es für angebracht, auf die Kritik reuig und demütig zu reagieren, sondern stuft die Kritik ihrerseits als unangemessen ein. Und ein Aspekt fällt auf: Die Kritik der Juroren bezieht sich in keinem der Fälle auf ihre Fähigkeiten. Stattdessen sind sie der Auffassung, Liu Lili habe ein Problem mit ihrer Einstellung. Sie sehen es als Affront an, dass Liu Lili dieses Vorstellungsgespräch nutzt, ihre Schlagfertigkeit und ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Liu Lili verlässt die Show, nachdem das einstimmige Votum der Jury entschieden hat, dass sie als Mitarbeiterin absolut ungeeignet ist. Ein Juror ergreift kurz das Wort für sie und erklärt die aktuelle Missstimmung mit kulturellen Unterschieden, die er Liu Lilis Auslandserfahrung zuschreibt. Aber am Ende knipst auch er das Licht aus.

Wie komme ich nun darauf, diesen Zwist so weit auszulegen, dahinter mehr als nur die Animositäten eines selbstverliebten Moderators und einer mit der Herde blökenden Schafs-Jury zu sehen? Nun, der Satz, der den Moderator so sehr aufgeregt hat, dass er seiner Moderatorenrolle in keiner Weise mehr gerecht wurde, war Liu Lilis politisch inkorrekter Satz, der nicht mit „Wir Chinesen…“ begann. Sattdessen beschreibt Liu Lili China mit einer gewissen Distanz, die fast schon einen Tabubruch in der chinesischen Gesellschaft darstellt.

Chinesen sprechen über ihre Landsleute so gut wie nie in der dritten Person. Die Deutschen können das sehr gut (wie dieser Satz zweifelsfrei belegt) und tun sich oft eher etwas schwer, sich als Kollektiv zu verstehen; in China ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Für diesen Kollektivierungsdruck, der die nationale Identität Chinas begleitet, finden sich im Alltagsleben und in politischen Entwicklungen in China viele Anzeichen.

Ich denke, dass die Situation ein wenig vergleichbar ist mit der Situation in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Die Generation meines Großvaters weigerte sich noch vollkommen, die Lebens- Arbeits- und Essgewohnheiten, die plötzlich nach Deutschland schwappten, zu akzeptieren. Man konstruierte ein Deutschlandbild, das an der Realität der jungen Menschen, die mit Coca Cola und dem „American Way of Life“ als Teil ihres Lebens groß geworden sind, vollkommen vorbei lief. Dieses Bild hielt sich nicht sehr lange. Wenn die deutsche Kultur nicht in der Lage gewesen wäre, auch Elvis, Marylin Monroe und die Beatles in ihren Kanon aufzunehmen, dann hätte sich die Jugend von ihr abgewandt.

Ich behaupte keinesfalls, dass die Geschichte von Liu Lili nur unter diesem Aspekt gedeutet werden kann, aber sowohl in ihrer spontanen und direkten Art, ihrer Biographie als auch in ihrer Sprache – bei dem Namen Shakespeare geht ihr das Englische Original deutliche flüssiger von den Lippen, als die korrekt sinisierte Lehnübersetzung Shashibiya (莎士比亚) – stellt Liu Lili ihre Identifizierung mit dem Ausland unter Beweis, die vielen Chinesen suspekt ist.

Die aktuelle Kulturpolitik Chinas, die immer stärker betont, den chinesischen Charakter der Kultur vor ausländischen Einflüssen zu bewahren, spricht eine ähnliche Sprache. Aber – und das ist denke ich der Kern dieses Konfliktes – die Abschottungsbemühungen und die Besinnung auf das genuin Chinesische, deuten wohl eher auf ein unterbewusstes Wissen um den Verlust der Anziehungskraft des chinesischen Kollektivwesens traditioneller Prägung hin. Kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nur sehr schwer durch Restriktionen beeinflussen. Eventuell ist es möglich, durch Tabuisierungen von Lebens- und Denkweisen für eine Weile zu verhindern, dass eine Strömung zu einem Strom wird. Auf lange Sicht aber sind sowohl Politik als auch die versammelten Traditionsbewahrer recht machtlos, gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Durchmischungen zu verhindern, insbesondere wenn der Gral, den sie hüten, seinen Glanz verloren hat.

Welcher chinesische Jugendliche wird denn davon abzuhalten sein, über die Frechheiten, die direkte Art des Humors und die Dreistigkeit der Comic-Figuren im „Kungfu-Panda“ zu lachen, wenn die chinesische Variante ein uninspirierter und schlecht animierter Kungfu-Hase mit öden Gags ist. Das chinesische Wir-Gefühl wird nur dann in der Globalisierung seinen Platz finden können, wenn es flexibler wird und fremde Einflüsse auch auf kultureller Ebene als etwas Gutes anerkennt.

Falls irgendeine Knalltüte auf die lustige Idee kommen sollte, diesen Text ins Chinesische zu übersetzen, um mir eine Horde der immer noch zahlreichen, nationalstolzen Internetkaputtnicks auf den Hals zu hetzen, hier noch mal Klartext: Ich will hier keinesfalls der Überlegenheit der westlichen Kultur das Wort reden. Im Gegenteil – ich bin eher der Meinung, dass der gesellschaftliche Eskapismus, die Verabsolutierung der Ironie und ein falsch verstandener Liberalismus große Teile der westlichen Populärkultur zu einer von Zynikern bewohnten, intellektuellen Wüste verwandelt hat, in der selbst bei Regen oft nur noch Unkraut gedeiht. Die Chinesen sollten einen Teufel tun, so etwas Unsinniges wie beispielsweise das Privatfernsehen westlicher Prägung zu vermissen, denn Trash braucht keine Öffentlichkeitsarbeit.

Aber: Gute Dinge sind gut, egal aus welchem Land sie kommen. Schlechte Dinge sind schlecht, egal wer sie sich ausgedacht hat. Dinge vermischen sich und mit ein wenig Abstand, mit einer gesunden Distanz zu seinem Land sieht man die Dinge besser. Wenn man sich nicht in jeder Hinsicht als Chinese fühlt, dann ist das normal und es wird Zeit, die Idee von China aus der panikartigen Umklammerung seiner konservativsten Kräfte zu befreien. Das gilt im Grunde ja für jede Kultur. Auch bei der deutschen Debatte um die Leitkultur und um das angebliche Multi-Kulti-Desaster wird gerne übersehen, dass der einzige Weg, eine Kultur zu fördern über dessen Weiterentwicklung, Öffnung und Anpassung an die komplexe Wirklichkeit geht. Kulturbewahrung ist immer auch ein aktiver Transferprozess und bedarf der Aktualisierung und einer bewussten Integration von äußeren Einflüssen in das vorhandene Werteumfeld.

Ich habe inzwischen fast zwanzig Prozent meines Lebens in China verbracht und auch wenn ich zu vielem in China keinen emotionalen Zugang entwickle, fühle mich irgendwie zu zwanzig Prozent als Chinese. Daran ändert auch nicht, dass kein Chinese einem Deutschen, der nicht in China geboren ist und der somit kein „Ahne des Drachen“ ist, jemals gestatten würde zu sagen: „Wir Chinesen…“.

Rajvinder Singh hat geschrieben, dass jeder Mensch eine Selbstkultur hat, die uns davor bewahrt, alte Muster bis in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Menschen entwickeln aus interkulturellen Erfahrungen, denen wir alle ausgesetzt sind, eine eigene Kultur, die über die kollektive Identität hinausgeht. Nur wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, die zunehmend globalisierte Selbstkultur ihrer Menschen in den langen Strom der Geschichte zu integrieren, werden die Menschen auch in Zukunft etwas haben, das sie für bewahrenswert halten.

Ist es nicht seltsam, dass China, eine Nation, die sich mit ihrer ganzen Kraft der Entwicklung und der Idee der besseren Zukunft verschrieben hat, ihre nationale Identität vor allem auf der langen Geschichte und Tradition aufbaut? Manchmal kommt es mir so vor, als laufe China mit großen Schritten in Richtung Zukunft. Weil aber niemand sehen möchte, wie diese Zukunft wirklich aussieht – wie die neue Zeit immer mehr auch den Menschen verändert – hat man sich umgewandt, den Blick in die Vergangenheit gerichtet und läuft einfach rückwärts mit großen Schritten weiter.

Manchmal wird diese Verdrängung sichtbar. Wenn zum Beispiel ein chinesischer Moderator nicht in der Lage ist, auf selbstbewusstes und unabhängiges Auftreten mit Souveränität und sachlicher Kritik zu antworten und stattdessen eine vorgeblich falsche Einstellung zum Anlass nimmt, sich selbst zu erhöhen, wird er es kaum schaffen, dieses „Wir-Gefühl“ zu fördern, das er so vehement einfordert.

Das Ende der Geschichte: Liu Lili hat inzwischen ein Job-Angebot einer großen chinesischen Zeitschrift, deren Verantwortliche ihre Eigenständigkeit zu schätzen wissen.

Das Mädchen aus Foshan und die Hoffnung

Es gibt Dinge, Bilder, Nachrichten, die sind ein Zeichen, das man nicht übersehen kann. Dieses Zeichen ist grausam. Ich hoffe mit den Eltern, dass Yueyue, das kleine Mädchen aus Foshan wieder gesund wird.

Die chinesische Gesellschaft hat ein großes Problem. Und dieses Problem ist die Rechtsunsicherheit. Wenn ein 2-jähriges Kind von einem Lastwagen überfahren wird, 18 Menschen vorbeigehen und niemand hilft, bis es schließlich ein zweites mal überrollt wird, dann ist das eine unmenschliche Handlung, die nur sehr schwer rationell erklärbar ist. Warum sehen so viele Menschen in China einfach weg? Sind sie kaltherzig?

Vielleicht. Vielleicht haben sie aber auch eine tiefsitzende Angst, die sie daran hindert, zu helfen. Viele Chinesen haben Angst sich einzumischen, weil das Rechtssystem in China nicht konsequent genug auf der Unschuldsvermutung beruht. Sie glauben, ein verletztes Kind könnte einem zur Last gelegt werden, wenn man in ein kompliziertes Geschehen wie einen Unfall involviert ist. Laut chinasmack.com wurde 2006 in Nanjing ein Mann verurteilt, der einer verletzten Frau geholfen hat. Ob diese Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, ist kaum nachvollziehbar. Aber sie spiegelt doch mit Sicherheit die Erfahrungen und Ängste der Chinesen wider.

Das Ignorieren des Leides hat nichts mit kulturellen Eigenheiten zu tun, sondern mit einem durch langjährige Erfahrung antrainierten Misstrauen gegenüber der Objektivität von Entscheidungsinstanzen. Solange es in China zu wenige gut ausgebildete und unabhängige Richter gibt, die nur dann jemanden verurteilen, wenn dessen Schuld zweifelsfrei bewiesen ist, werden vielen Menschen sich fürchten. Und wer die deutsche Geschichte kennt, der weiß, dass es mit Sicherheit kein kulturelles Phänomen ist, die Augen vor dem Schrecken und Leid zu verschließen.

Die Nutzer von Weibo verschließen ihre Augen nicht. Sie sehen sich geschockt und betroffen die Bilder an, die Sina auf seinem offiziellen Video-Tweet zeigt (Warnung: dem Link folgt das schockierende Video), und kommentieren zu Tausenden das schreckliche Ereignis.

Chinabildblog: Neues vom Orakel der Welt

Wann geht denn nun die Welt unter? Früher fragte man am besten Nostradamus. Und wann errichtet Gott sein Himmelsreich? Die Zeugen Jehovas wissen Bescheid: Bald, sehr bald. Wenn dann der Weltuntergang zum versprochenen Datum nicht eintritt, dann macht das erst einmal gar nichts. Denn erstens gibt es ja schon demnächst neue Anzeichen für einen baldigen Weltuntergang und zweitens erinnern sich die meisten Leute in Kürze schon nicht mehr an die Weisssagung von gestern. Sie gruseln sich nur ach so gern und bezahlen bereitwillig für die nächste „präzise Vorausberechnung“ des Armageddons.

Und wann ist denn nun endlich Schluss mit diesem doofen China-Boom? Das kann doch gar nicht ewig so weitergehen mit den Erfolgsmeldungen aus Fernost. Wenn wir im Westen unsere Wirtschaft und unser Finanzsystem an die Wand fahren, dann wird doch auch im Reich der Mitte irgendwann Schluss mit lustig sein.

Die Redakteure bei dem deutschen Qualitätsmedium „Die Welt“ werden sich Folgendes gedacht haben: „Wenn man jetzt einfach in schöner Regelmäßigkeit den totalen Zusammenbruch der chinesischen Wirtschaft an die Wand malt, dann hat man doch bestimmt irgendwann Recht. Und das Schöne daran ist: Im Gegensatz zu den Zeugen Jehovas kann man noch in dieser Welt davon profitieren. Wenn der finale China-Crash endlich eintritt, steht man als der große Experte da. Und wenn nicht, haben die Leute es ohnehin wieder vergessen, was man einst geschrieben hat.“

Aus diesem Grund beschäftigt man scheinbar schon seit längerem bei der Welt professionelle Orakel-Journalisten, die aus den negativen Wirtschaftsnachrichten, die man in China oft ziemlich intensiv suchen muss, prima Untergansszenarien basteln.

Am 08.02.2004 fragte man sich in der Welt, ob der rasante Aufschwung nicht bald abrupt vorbei sein wird:

Am 01.11.2009 sah der gleiche Autor mit Hilfe der Analysten die Zukunft schon sehr genau:

Am 14.03.2010 schwebt hinter der düsteren Zukunft in der gläsernen Kugel noch ein Fragezeichen:

Und jetzt ganz aktuell anlässlich der Liquiditätsprobleme vieler Firmen in der Stadt Wenzhou, der neueste Orakelspruch (gestern). Er besagt, dass diese Probleme „in einem Schneeballeffekt zu einer Finanzkrise in dem Land führen [könnten], die solche Ausmaße hätte, dass das Griechenland-Problem im Vergleich dazu ein Sonntagsspaziergang gewesen wäre“.