Es war gegen zwei Uhr an einem Donnerstag in einer eisigen Winternacht und ich hatte Hunger. Nicht immer verzeiht mir mein Magen diese nächtlichen Ausflüge zu den chinesischen Garküchen, aber diesmal musste es Malatang sein. Malatang und Sichuan-Pfeffer machen süchtig. Ich zog meine dickste Winterjacke an und ging zu Fuß von unserer Wohnung nach Sanlitun; erst durch die ungewohnt menschenleeren Hutong-Gassen, dann durch die verspiegelten Hochhausschluchten.
Gucci, Apple, Starbucks
Sanlitun steht wie kaum ein anderer Ort für den manchmal so herzlosen und hektischen Auftstieg des neuen Chinas. Sanlitun, das ist das „Village“, ein modernistischer Einkaufskomplex, der die Besucher mit dem größten Adidas-Store der Welt begrüßt und in dem sich Gucci, Apple, Starbucks und all die anderen Markführer ihre neue Konsumentenschicht heranzüchten. Sanlitun ist auch das „Soho“, eine Stadt in der Stadt, ein überdimensionierter Wohn- und Arbeitskomplex, der mit geschwungenen Milchglasfassaden über dem Gelände thront wie ein gigantisches Sound-Essemble von Bang und Olufsen. Sanlitun ist die Kneipenstraße mit den Touristenschuppen und den lustlosen Karaokebands, den Clubs mit ihrer grellbunten Technowelt und den verrauchten Bars.
In den heißen Sommernächten ist die Kneipenstraße vollgestopft mit Touristen, Expats und Gaststudenten, die sich verschwitzt und betrunken von Club zu Club hangeln. Die Fremden aus dem Westen und ihre vollen Geldbeutel haben über die Jahre eine ganze Reihe von Gangstern, Prostituierten und Bettlern angelockt, die den Mark untereinander aufteilen. An den dunklen Ecken stehen die Drogendealer schwarzafrikanischer Herkunft, die Marihuana verkaufen. Die etwas abseits gelegenen Straßen sind gesäumt von jungen Frauen, die einsame ausländische Männer mit den immer gleichen Worten „Massaji“ und „Ladybar“ für ihre Dienste gewinnen wollen. Etwas weiter westlich, am Arbeiterstadion, stehen die schmutzigen Bettlerinnen mit ihren Kindern auf dem Arm und bitten die betrunkenen Austauschstudenten mit ihren Plastikbechern in der Hand um etwas Kleingeld.
Tiefgefrorenes Sandpapier
In der Hochsaison wimmelt es in der Kneipenstraße von chinesischen Kleinunternehmern. Direkt im Village sieht man sie nicht, da werden sie von den Ladenbesitzern und den Ordnungsbeamten vertrieben; nur die Rikschafahrer, die vor dem Adidas-Store zwischen den Taxis und den neuesten Modellen der Oberklasse hindurchmanövrieren, werden toleriert. In der Kneipenstraße jedoch stehen die Verkäufer mit ihren Ständen. Sie verkaufen gefälschte Marken-Zigaretten, Getränke, Blumen, chinesische Musikinstrumente und Plastikspielzeug. Im Sommer gleicht die Straße einem chaotisch bunt-blubbernden Feuertopf. Bis in die späten Nachtstunden stehen die Verkäufer dort mit ihren Garküchen, bei denen man für wenig Geld Lammspieße, Hänchenflügel und eben Malatang bekommt.
In dieser Nacht war es minus sieben Grad. Leere Plastiktüten wehten durch die Einkaufpassage und ein paar Drogendealer gingen eine Weile neben mir her, bis sie merkten, dass ich nicht deswegen nach Sanlitun gekommen war. Vereinzelte Touristengruppen kamen aus den Bars, in denen die Bässe die leeren Tanzflächen bedröhnten. Obwohl es mitten in der Nacht war und der beißend staubtrockene Wind sich auf der Haut anfühlte wie tiefgefrorenes Sandpapier, standen die frierenden Männer und Frauen wie immer an ihren Garküchen und warteten auf Kundschaft. Auch die Verkäufer mit ihren bunten gasgefüllten Luftballons, den Blumen und den Spielsachen waren wie immer in der Kneipenstraße.
Dieses Mal aber war es echt
Ich stetzte mich auf einen der winzigen Schemel, die vor einem Malatang-Stand aufgereiht waren. Spieße mit Pilzen, Gemüse, kleinen Würstchen, Tofu, Fischklößchen und auch einigen Innereien schwammen in der dunkelroten Brühe aus Fett, Chillischoten und Sichuan-Pfeffer, der wegen seiner leicht betäubenden Wirkung ein Prickeln auf der Zunge hinterlässt.
Die Verkäuferin war froh, dass ihr in dieser Nacht noch jemand ein paar Spieße abkaufte. Eine ganze Zeit saß ich und aß stumm das, was sie mir auf den Teller legte. Hin und wieder kamen Verkäufer mit ihren Luftballons und ihren Spielsachen. Nach einer Weile kam eine der Frauen mit den bunten Luftballons und fragte mich, ob ich ihr vielleicht einen Tofuspieß kaufen könnte. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und ihre Wangen waren rot wie gerocknete Äpfel. Ich sagte ja und sie nahm sich einen Spieß, den sie hungrig verschlang. Sie fragte, ob sie noch einen essen dürfe und als ich ja sagte, setzte sie sich neben mich. Ich sagte, dass es ohnehin sehr ungesund sei, allein zu essen und lachte. Sie lachte auch und aß hastig. Nach einer Weile kamen auch die anderen Luftballonverkäufer und ich lud sie zum Essen ein. Am Ende waren wir zu fünft.
Wie oft habe ich in den letzten Jahren in einem Restaurant an einem der runden Tische gesessen, bei Geschäftsessen oder mit der Familie und nach chinesischer Sitte die anderen höflich dazu aufgefordert, zuzugreifen. In China drängt man seine Freunde beständig, sich satt zu essen und nicht zurückhaltend zu sein. Eigentlich war das für mich meist ein eher abstruses Schauspiel, bei dem es darum ging, seine soziale Kompetenz zu beweisen, in dem man sich bescheiden und großzügig zeigt. Dieses Mal aber war es echt. Wer in einer eiskalten Winternacht verzweifelt versucht, den versprengten Touristen für ein paar Yuan einen Luftballon zu verkaufen, für den sind Bescheidenheit und Großzügigkeit beim Essen keine leeren Formeln sozialer Interaktion.
Der Mann, der mir an diesem Abend gegenüber saß, hatte Hunger. Und ich sah den Scham in seinen Augen – den Scham, von mir, einem Ausländer, diese Form der Großzügigkeit anzunehmen. Ich hingegen schämte mich dafür, dass ich manchmal an einem Abend in den Bars und Geschäften dieser Gegend soviel Geld ausgegeben hatte, wie dieser Mann in einem ganzen Monat oder vielleicht sogar in einem halben Jahr verdient. Der Mann aß langsam und voller Würde und als ich ihn bat, noch etwas zu nehmen, lehnte er bescheiden ab.
Die Böden sind schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch
Die Verkäufer kamen alle aus Hunan, eine Provinz, in der, wie sie sagten, die Böden schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch sind. Wer weiß, welche Schicksalsschläge sie nach Beijing geführt hatten und welche Versprechungen ihnen gemacht wurden, welcher sprupellose Geschäftsmann ihnen die Luftballons und die Spielsachen verkauft hat. Wer weiß, welchen Anteil sie vielleicht auch selbst daran haben, dass sie in dieser wenig hoffnungsvollen Situation sind. Sicher ist aber, dass sie alles darum gegeben hätten, nicht in dieser Situation zu sein.
Viele Dinge in China kann man nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Armut, eine brutale und bedrohliche Armut immer noch untrennbar zu Chinas Gegenwart gehört. Die glitzernden Fassaden in den großen Städten können sehr lange darüber hinwegtäuschen, dass die Entbehrungen und der Hunger den Menschen in den Knochen steckt. Denn auch die, die die Armut hinter sich gelassen haben, werden in irgendeiner Form von der dauerhaften Anwesenheit von Kälte, Hunger und Elend begleitet.
Und vielleicht ist auch die Verschwendungssucht der wohlhabenden Chinesen, der Luxus und die Achtlosigkeit, mit der der Kuchen bei Starbucks nach dem ersten Bissen neben den halbvollen Tassen auf dem Tisch stehen gelassen wird, nichts weiter als der ewige Kampf, sich von der Armut, dem chinesischen Stigma, so weit wie möglich zu entfernen.
Yu Huas armer Riese und der kategorische Imperativ
Der chinesische Schriftsteller Yu Hua, der die Gabe hat, sowohl die Poesie als auch die Brutalität des chinesischen Lebens in Worte zu fassen, beschreibt in einem seinem neuesten Buch China in Ten Words eine Szene aus seiner Jugend, die die Armut zu einem Schlüsselmoment der ganzen Gesellschaft werden lässt. Die Geschichte spielt zur Zeit der Kulturrevolution, in der Nahrungsmittel nur gegen Essensmarken zugeteilt wurden. Um Spekulationen zu verhindern, war es verboten, mit diesen Marken zu handeln. Die Jugendlichen in dem kleinen Ort hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die öffentlichen Plätze zu überwachen, um die Schwarzhändler zu stellen und der Polizei zu übergeben. Eines Tages griff die Jugendbande einen groß gewachsenen Mann auf, der die Lebensmittelmarken, die er zu Geld machen wollte, erst aus der Hand gab, als die Kinder mit einem Stein auf seine Hände einschlugen und so die Umklammerung lösten. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus, dass der Mann aus elenden Verhältnissen kam. Er lebte in einem kleinen Dorf und seine Familie hatte sich ein ganzes Jahr lang die Marken vom Munde abgespart. Der Mann wollte heiraten und mit dem Geld einen Teil seiner Aussteuer bezahlen.
Wenn man sich, wie viele Ausländer in China, die Frage stellt, warum die Chinesen denn ihre eigenen Gesetze so oft nicht einhalten, dann ist man mit fehlender moralischer Integrität sehr schnell bei der Hand. Die Chinesen haben Kants kategorischen Imperativ eben noch nicht so richtig verstanden.
Die Ausnahmen von Regeln werden zu einem Akt der Mitmenschlichkeit
Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass es oft die Armut ist, die Bitterkeit der Realität, die Ausnahmen von Regeln zu einem Akt der Mitmenschlichkeit werden lässt. Warum werden die Rikschafahrer toleriert, die Händler von Raubkopien nicht hart bestraft, die wilden Märkte auf den Fußgängerbrücken nicht unterbunden? Manchmal liegt es einfach daran, dass die Beamten vom Ordnungsamt es nicht übers Herz bringen, den Menschen, die ohnehin fast nichts haben, ihren einzigen Verdienst zu nehmen.
An meiner Uni studieren jedes Jahr Studenten, die aus sehr armen Familien kommen. Die Eltern haben auf vieles im Leben verzichten müssen, um ihren Kindern einen Universitätsbesuch zu ermöglichen. Die Studenten haben den größten Teil ihrer Kindheit geopfert, um durch fast unendlichen Fleiß und militärischen Drill eine gute Note bei der Hochschulaufnahmeprüfung zu erreichen. Um im Leben eine Chance zu haben und der Armut zu entkommen, haben sie große Opfer gebracht. Wenn nun einer dieser Studenten, aus welchen Gründen auch immer, die für einen Studienabschluss erforderlichen Leistungen nicht erbringt, würde man ihn dann mit gutem Gewissen durchfallen lassen? Würde man ihn seiner hart erkämpften Zukunft berauben? Würde man angesichts der Not, die diese Studenten und vor allem ihre Eltern erleiden mussten, nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und ein Auge zudrücken? Und wenn man in diesem Fall die objektiven Kriterien aufhebt, muss man dann nicht auch in anderen Fällen weniger streng sein, um eine Vergleichbarkeit zumindest nach außen aufrechterhalten zu können?
In China gibt es sehr wenig Studienabbrecher. Egal, wie schlecht die Leistungen der Studenten sind, am Ende bekommen sie fast immer ihren Abschluss. Das ist ein System, das in in seiner Paradoxität kaum zu übertreffen ist. Aber wer will denn schon verantwortlich dafür sein, wenn sich die Eltern aus dem Fenster stürzen, weil ihre Kinder, ihre einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sie so bitter enttäuscht haben? Und das ist keine Übertreibung. So etwas passiert immer wieder.
Eine ehemalige Kollegin von mir hat gerade einen Artikel im Spiegel veröffentlicht, in dem sie über die aus deutscher Perspektive nahezu unmenschlichen Lernbedingungen an chinesischen Mittelschulen schreibt. Der Bericht trifft die Wirklichkeit wohl recht gut, ignoriert aber vollständig die Zwänge und Hintergründe des chinesischen Überlebenskampfes, die Bildungspolitik oft zu etwas werden lassen, wie die Veranstaltung einer Runde „Reise nach Jerusalem“ – mit viel zu wenig Stühlen. Es lässt sich leicht über eine Ellenbogengesellschaft philosophieren, wenn man selbst im weichen Sofa sitzt.
Armut ist nicht relativ
Als ich in meinem ersten Jahr an einer chinesischen Universität „Zeitungslektüre“ unterrichtet habe, hielt ich es für eine gute Idee, das Thema „Armut“ zu behandeln. Ich dachte, dass es ein interessanter Perspektivwechsel sein würde, sich mit der Armut in Industrieländern zu beschäftigen, die zu diesem Zeitpunkt zunehmend zu einem Problem wurde. Aber als die Studenten die Summen hörten, die deutsche Arbeitslosengeldempfänger monatlich bekommen, erntete ich Blicke, die mir zu verstehen gaben, dass sie spätestens jetzt sicher waren, wie wenig die Menschen im reichen Westen überhaupt in der Lage sind, die Bedeutung des Wortes „Armut“ angemessen zu verstehen.
Ich habe damals auch einen Fernsehbericht gezeigt, in dem eine deutsche Studentin einen Selbstversuch macht und die „Bitterkeit“ einer Hartz4-Existenz an sich selbst ausprobiert. Es war schon fast komisch, wie in dem Bericht versucht wurde, die Situation dieser Studentin in den schwärzesten Farben zu malen. Sie saß einsam am Fenster, sah in den grauen Himmel und musste sich damit abfinden, dass ihre Fertig-Pizza nicht mehr aus dem Hause Doktor Oettker kam. Die Szenen waren mit deprimierender Musik unterlegt, um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen. Kein Urlaub, kein Kino, nichts.
Einige der chinesischen Studenten fanden es sicher nicht besonders komisch. Viele Menschen im reichen Westen hören es vielleicht nicht so gerne hören, aber es ist die Wahrheit: Armut ist nicht relativ. Die westlichen Wohlstandsgesellschaften haben die Armut besiegt. Heute müsste in Deutschland niemand frieren oder hungern. Der Staat garantiert zumindest die nackte Existenz. In China ist das anders. Auch wenn die Situation sich sehr verbessert hat, lebten laut offizieller Angaben im Jahr 2010 in China immer noch fast 27 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze. In China gilt jemand als arm, der umgerechnet weniger als 148 Euro zur Verfügung hat – im Jahr.