Kommentar: 7/23 – Das Ende der Phrasen

Weitgehend unbemerkt von der medialen Öffentlichkeit Deutschlands findet derzeit ein Quantensprung in der chinesischen Debattenkultur statt. Die Zugkatastrophe in Wenzhou, bei der nach derzeitigem Kenntnisstand 39 Menschen starben und fast zweihundert verletzt wurden, veranlasst immer mehr Chinesen, offen ihre Meinung und Kritik zu äußern.

Die ausführlichsten deutschsprachigen Informationen zu diesem Thema findet sich online derzeit hier.

Die chinesischen Mikroblogs kennen im Moment kaum ein anderes Thema als diesen „Unfall“ und die kommunistische Führung sieht sich einer kritischen und gebildeten Internetöffentlichkeit gegenüber, die alle Mittel der neuen Medien benutzt, um Schlampigkeiten und Vertuschungsversuche der verantwortlichen Behörden und der Partei-Oberen offenzulegen.

Aber, und das ist das Neue, die Kritik am prestigeträchtigen Fortschrittswahn im chinesischen Wirtschaftswunderland schwappt langsam aus den Mikroblogs auch in andere Bereiche über. Sie schwappt jedoch zur Zeit nicht auf die Straße, wo ihn viele ausländische Medien- und Regierungsvertreter sicher gern sehen würden. Die Fragen und Diskussionen über den Zustand der Institutionen, die die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt lenken, schwappt über in die politischen Fernsehsendungen, in die Zeitungen und in die Büros. Vorsichtig noch, aber immer häufiger werden in den Situationen, in denen früher Phrasen gedroschen wurden, ernsthafte und kontroverse Debatten geführt.

Die Wut hingegen macht sich fast ausschließlich im Internet Luft. Selbst Chinesen wundern sich derzeit über die Schizophrenie der chinesischen Öffentlichkeit. Wenn man die Mikroblogs liest, glaubt man, dass schon sehr bald der aufgebrachte Mob die Paläste stürmt. Wenn man aber auf der Straße und in den gut gefüllten Restaurants in die Gesichter blickt, dann hat man das Gefühl, dass selbst in tausend Jahren kein Chinese für eine bessere und gerechtere Zukunft auch nur einen Finger krumm machen wird.

Die wahrscheinlich beste Erklärung für dieses Phänomen ist, dass die meisten Chinesen selbst viel zu sehr verstrickt sind in das System der gegenseitigen Abhängigkeiten und sich noch immer viel mehr auf das persönliche Guanxi-Netzwerk verlassen, das ja in den meisten Fällen Kader und Beamte mit einschließt, als am Aufbau eines transparenten Rechtsstaates aktiv mitzuwirken. Wer voller Sünde ist, schmeisst keine Steine.

Die Ereignisse nach dem als 7/23 bezeichneten, menschengemachten Unglücks zeigen aber, dass im medial organisierten 21. Jahrhundert die erstarkende bürgerliche Öffentlichkeit in China nicht mehr bereit sein wird, ein System zu stützen, das nicht konsequent alle Abläufe offenlegt und nach den Fehlern sucht, die zum Tod von unschuldigen Menschen geführt haben.

Es könnte sein, dass 7/23 einen Einschnitt für die chinesische Gesellschaft darstellen wird. Die kommunistische Partei hat im Augenblick nur die Wahl, konsequent zu handeln, die Verantwortlichkeit für diesen Skandal zu übernehmen und Kritik von Innen und Außen zuzulassen, oder aber eine offen ausgetragenen Konfrontation mit dem chinesischen Bürgertum in Kauf zu nehmen. Weiterhin rote Lieder zu singen, wird in dieser Sache nichts nützen und man wird einsehen müssen, dass die Selbsbeweihräucherung der letzten Jahre auch von den Problemen abgelenkt hat, die die politische Führung Chinas, ganz egal welcher Ideologie sie folgt, zu bewältigen hat.

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Nachtrag I (30.07.2011, 01.19 GMT+8):
Nach unbestätigten Berichten in Mikroblogs hat eine Pekinger Zeitung (新京报)eben so wie viele andere Zeitung die Anweisung erhalten, ihre geplante Story über das Thema nicht zu bringen. Angeblich planen die Journalisten dieser Zeitung aber, sich den Anweisungen zu widersetzen. Sie sollen vorhaben, die erste Seite weiß zu lassen und ihre Rechercheergebnisse als Pdf-File zu verschicken. Bisher gibt es wie so oft in China nur Gerüchte, aber wenn sich diese Gerüchte bewahrheiten sollten, dann wächst sich dieser Skandal endgültig zu einem Machtkampf um die Meinungsfreiheit aus.

Es ist es sicher derzeit schwer vorauszusehen, wie diese Geschichte weitergehen wird. Aber wer weiß, vielleicht kommt es in der nächsten Zeit sogar zu einer partiellen Unabhängigkeitserklärung einiger Medien. Die Chancen für einen großen Schritt auf dem langen Weg der Twivolution stehen vielleicht gar nicht mal so schlecht.

Viele chinesische Medienvertreter haben längst erkannt, dass ihre Form der harmonisierten Nachrichtenaufbereitung sie langsam aber sicher ins gesellschaftliche Abseits katapultiert und relevante Informationen nahezu ausschließlich in den Mikroblogs verbreitet werden. Und welcher Journalist kann schon mit der drohenden Bedeutungslosigkeit seines Schaffens leben?

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Nachtrag II (30.07.2011, 03.41 GMT+8):
Die Beijinger Zeitung Xinjingbao (新京报) hat sich scheinbar entschieden, den klassischen chinesischen Weg zu gehen und ihre Kritik in Metaphern zu kodieren. In diesem Fall ist es allerdings auch für weniger gebildete Leser nicht besonders schwierig, den Code zu entschlüsseln. Auf dem Bild, das im Internet kursiert und das die mutmaßliche Titelseite von morgen darstellt, wurde der recht belanglose Wetterbericht zur Schlagzeile gemacht. Die Überschrift lautet „七日雨未绝 一天两预警„, was wörtlich in etwa bedeutet: „Es regnet seit sieben Tagen – An einem Tag wurden zwei Unwetterwarnungen herausgegeben“.

Sieben Tage sind seit dem Zugunglück vergangen und ebenso lange dauert die Zeit, nach der die Seelen Verstorbener laut der chinesischen Mythologe von einer Wanderung nach Hause zurückkehren (头七).

Wem das zu sehr nach Zahlenmystik im Stile von Verschwörungstheoretikern und Kryptoarchologen klingt, der möge bedenken, dass Chinesen die gewöhnungsbedürftige Angewohnheit haben, sehr vieles in Sinnbildern auszudrücken. Es ist aber m.E. schade, dass in diesem Fall wieder einmal nicht der Mut aufgebracht wurde, klare Worte zu finden. Die Möglichkeit der Wahrung des Gesichts aller Beteiligter scheint auch diesmal eine hohe Priorität zu haben.