#1 Netzchinesisch Buzz – Douyin

Douyin (抖音) bedeutet auf Chinesisch „schütteln Töne“ und so ist es auch. Und Douyin ist schnell, sehr schnell. Als hätte Youtube vergessen, sein Ritalin zu nehmen. Zu Beginn wundert man sich noch, warum gerade diese App so durch die Decke geht, aber nach etwa fünf Minuten hat man etwas gefunden, was einem gefällt. Ein ziemlich dicker junger Mann tanzt, Landschaft, Berge, Bungee-Jumping. Eine Frau malt ein Aquarell, Play-Back-Sänger, Witze, Make-Up-Tutorials, Tanzeinlagen. Alles trommelt auf die Hirnrinde, fast immer im Takt der Musik, die den meisten Videos hinterlegt ist.

Die meisten, die Douyin ausprobiert haben, sagen, dass es süchtigt macht. Die App ist eine Synapsenspülung, die man vom Zappen im Fernsehen kannte, und die man im Social Media durch heftiges Durchwischen des News-Feeds erreichen konnte. Aber Douyin hat einige Features, die das Ganze eine Nummer schneller machen:

 

  • Anders als z.B. bei Youtube scrollt man bei Douyin durch die Videos, die sofort starten. Was einem nicht gefällt, wischt man weg. Dadurch wird man mit Videocontent geradezu bombardiert.
  • Die Videos sind alle im Hochformat. Die Plattform hat keine Wurzeln in der Computerwelt, nur das Smartphone ist das Medium.
  • Die meisten Videos sind nur 15 Sekunden lang. Ein Blick, ein Lacher, ein Tanzmoove und das war es auch schon wieder. Nichts kann langweilen.
  • Der Algorithmus achtet sehr genau darauf, was man wie lange ansieht und was man favorisiert. Schnell bekommt man Videos in den Feed, die nach den eigenen Vorlieben ausgesucht sind.
  • Aufnehmen geht kinderleicht. Mit dem Smartphone hat man ein Video in wenigen Minuten aufgenommen, mit Musik hinterlegt und bearbeitet.
  • Es gibt zahlreiche Filter, die einen sofort jünger, schlanker und attraktiver aussehen lassen. Die meisten Protagonisten der Videos haben Comic-artige Züge.

Hier ein Showreel:

 

Inzwischen hat sich die Plattform erweitert. Live-Streaming ist eines der Features, die hinzugekommen sind. Luxus-Marken machen dort Werbung. Eine Version unter dem Namen TikTok lässt sich in den Appstores außerhalb des chinesischen digitalen Ökosystems herunterladen. TikTok hat aktuell die höchsten Downloadzahlen aller Nicht-Spiele-Apps weltweit.

 

 

#1 Schönes neues China: Ehefrau schlägt Auto

 

Ehefrau schlägt Auto und ich stehe dumm in der Gegend herum. So wie ich, seit wir wieder in China sind, sehr häufig dumm in der Gegend herumstehe. Ehefrau heißt ja eigentlich Ding, also im Doppeldiminuitiv dann Dingding. Aber seit wir verheiratet sind, ist mir das ziemlich egal. Wie sie heißt, meine ich. Denn wir sind verheiratet und nennen uns nicht mehr beim Namen. Meine Frau hat angefangen. Erst hat sie mich konsequent nur noch „Laogong“ also „Ehemann“ genannt und seit dem ersten Kind dann nur noch „Baba“. Wenn sie jetzt über mich spricht, dann sagt sie nur noch „Aiwen ta Ba“, also „Vater des Aiwen“, abgeleitet vom Namen unseres Erstgeborenen. Das ist in China vollkommen normal. Ich habe mir aber trotzdem mehrfach meinen ursprünglichen Eigenamen zurückgewünscht. Erfolglos. Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als mich den alltagskonfuzianistischen Kosekonventionen anzupassen. Ehefrau wird schon sehen, was sie davon hat.

Ein weißer Tiguan rollt auf uns zu. Ehefrau hat ihn mit ihrem Smartphone und Didi gerufen oder „herbeigeschlagen“, wie sie es auf Chinesisch so schön sagt. Früher, da schlug man sich in Peking ein Taxi. Da war das Schlagen von Autos noch echte Handarbeit. Mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, stoppte man einen der zahlreichen grüngelben Wägelchen. Dann musste man nur noch andere potenzielle Fahrgäste, die auf ein Taxi warteten, anschreien oder sich mit ihnen prügeln und schon saß man bequem im wohlig nach Knoblauch und Schweiß riechenden Hyundai. Wenn der Fahrer nicht wusste, wo der Ort liegt, an den man reisen wollte, hat er einfach einen Cousin dritten Grades angerufen und nach dem Weg gefragt. Diese Zeiten sind vorbei, in jedem Fall dann, wenn man Ehemann von Ehefrau ist.

Denn jetzt, jetzt gibt es Didi. Nein, nicht Didi Hallervorden, aber mindestens genau so bekloppt. Didi ist eine App, mit der private Kleinstunternehmer digital zu einer Beförderungsfahrt gerufen werden können. Ursprünglich hat sich das System jemand in Amerika ausgedacht und „Ueber“ genannt. Weil aber die Kommunistische Partei Chinas Unternehmen wie Ueber für digitalimperialistisches Teufelszeug hält, hat man ihnen den Marktzugang verwehrt. Deshalb floriert in Peking, Shanghai und all den anderen schönen Megacities jetzt nur noch Didi. Also quasi: Didi, der Doppelgänger. Von Ueber, jetzt…

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sage ich. „Heute ist kein Feiertag, es regnet nicht und es ist Mittagszeit. Zur Mittagszeit pflegt der Chinese pünklich zu essen. Da fährt er nicht mit dem Taxi“, erkläre ich. „Ja, aber eben auch kein Taxifahrer fährt mit dem Taxi“, erwidert meine Ehefrau. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich will mich überhaupt niemals streiten. Und so stehe ich dann eben dumm in der Gegend herum, während ein leeres Taxi nach dem anderen an uns vorüberfährt, bis dann viel später eben jener weiße Wagen in unsere Straße einbiegt.

Der fabrikneue VW Tiguan rollt langsam auf uns zu. Wir befinden uns zwischen dem Diplomatic Compound und dieser Mall, in der ein Schwimmbad, einen Fat-Burger, einige Beauty-Solons, einen Maßschneider und unseren Familienarzt Dr. Diedrich gibt. Es sind nur einige hundert Meter zwischen der Straßenecke und unserem Standort vor der Mall, aber schon auf dieser kurzen Strecke hat sich hinter dem Wagen ein Stau gebildet. Am Steuer des Autos sitzt eine Dame mittleren bis gehobenen Alters, die uns verstörend unsicher anlächelt und zuwinkt. Sie ist dann auch sichtlich erleichtert, als sie feststellt, dass wir ihre Fahrgäste sind, zu denen ihr Navigationssystem sie geleiten sollte. „Gefunden, geglückt, alles wird gut“, spricht es aus ihrem Gesicht mit einem Strahlen, das unverzüglich wieder verschwindet, als Ehefrau ihr gestikulierend deutet, dass sie doch bitte eine Kehrtwende, machen möge, um auf unsere Seite zu gelangen: einen U-Turn, wie es Neudeutsch so schön heißt. „Wenden?“ „Ich?“ „Mit diesem Ungetüm?“ „Das ist nicht Euer Ernst!“ spricht ihr erschrockenes Gesicht nun ganze Horror-Bände. Weil wir aber mit dem Kinderwagen und dem Schwangerschaftsbauch, den Ehefrau seit einigen Monaten stets mit sich durch die Gegend trägt, nicht mitten auf der Straße in einen weißen Tiguan einsteigen können, legt unsere Didi-Chaufferin aufgeregt und krachend einen, ich vermute den dritten Gang ein. Zeitlupisch bewegt sich der Wagen dann in wenigen Quantensprüngen pro Minute vorwärts und die Fahrerin vollführt offensichtlich das erste Wendemanöver ihres Lebens. Die Leute in den Autos dahinter sind inzwischen wütend ausgestiegen. Aber als sie die Hilflosigkeit der alten Dame bemerken, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als der Frau einweisend über die Straße zu helfen. Auch in der anderen Fahrtrichtung staut sich jetzt der Verkehr. Und dann doch. Die gemeinsamen Anstrengungen haben Erfolg: Wenden in vierundsechzig Zügen. Es ist vollbracht und kurz darauf setzt der Tiguan den Blinker und legt am Bordstein vor der Mall am.

„Taiyanggong?, fragt sie ängstlich, denn das ist die Adresse, die Didi ihr angezeigt hat. Unser Zuhause. Der Ort, an den es uns zieht, bepackt mit Einkaufstüten und Kindern in Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen. „Taxi!“, rufe ich verzweifelt. „Taxi! Taxi! Taxi!“ Ein freies Taxi hält hinter dem Tiguan, aber Ehefrau sagt, ich solle das doch bitte lassen. Ich solle kein Taxi schlagen, sonst schlüge sie vielleich doch noch mich, denn jetzt sei er ja da, unser digital bestellter Chauffeurservice. So bewege man sich eben als moderner Großsstadtchinese in der schönen neuen Welt. „Luohou“ sei ich, sagt sie „zurückgeblieben“, „rückständig“ „abgehängt“. Ich sah wärhenddessen dem davonfahrenden Taxi hinterher und verfrachtete unseren Erstgeborenen, unseren bald auch noch Zweitgeboreren samt Mutter und auch den Kinderwagen in den Tiguan und setzte mich neben die rüstige Fahranfängerin auf den Beifahrersitz. Die gute Frau nahm mich jedoch kaum wahr, hatte sie doch das On-Board-Navi und das Handy-Navi gleichzeitig eingeschaltet. Umgehen konnte sie mit keinem der beiden. Ehefrau und ich wiesen ihr den Weg. Am Autobahnkreuz Sanyuanqiao ordnete sie sich trotzdem falsch ein. Und wir fuhren eine Weile auf dem Highway Richtung Flughafen, wenden unmöglich.

An dieser Stelle muss ich aus dem autobiographischen Modus in den fiktionalen wechseln, weil ich keinen in China gültigen Führerschein besitze, es mir darum untersagt ist, hier Auto zu fahren und ich natürlich niemals das Gesetz brechen würde. Mein fiktionales Ich, mit der schwangeren Ehefrau, dem schlafenden Erstgeborenen, der rüstigen aber verzweifelte Dame im Tiguan ihres Neffen auf dem Weg zum Flughafen, bittet also die Fahrerin rechts ranzufahren und anzuhalten. Mein Erzähl-Ich übernimmt kurzerhand von der erleichterten Didi-Novizin das Steuer und fährt die Familie nach Hause. Dort angekommen, bietet das Ich dann der Fahrerin an, sie nach Hause ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ein Angebot, dass sie ohne zu Zögern annimmt. Von dort aus übernimmt dann wieder das biografische Ich. Und eben dieses Ich stoppt mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, eines der zahlreichen vorbeifahrenden Taxis um im trauten Heim auf dem Handy der Eefrau die Didi-Rechnung des heutigen Tages bestaunen zu dürfen.