Chinabildblog: Die geschlagene Gurke und die ewige Ente

Journalisten haben es schwer. Die Welt ist groß und sie sind klein. Gerade in China, dem Land in dem eigentlich niemand genau weiß, was wirklich passiert und jeder sich aus ungesicherten und fragwürdigen Informationen die Ereignisse so gut es geht zusammenreimt, ist es keine einfache Aufgabe, einen Job auszuüben, bei dem es auf Objektivität und sachorientierte Information ankommt.

Wenn man dann auch noch für eine Leserschaft schreibt, die über China nicht sonderlich viel mehr weiß, als dass dort die vielen bunten und giftigen Plastikspielsachen herkommen, dann kann man schon verstehen, dass der eine oder andere Bericht nicht gerade pulitzerpreisverdächtig ist. Und wenn man dann außerdem, wie ein großer Teil der westlichen China-Berichterstatter, nicht über die sprachlichen Kenntnisse verfügt, um dem gesellschaftlichen Leben zumindest als Beobachter zu folgen, ja was soll denn dabei auch herauskommen? Ach, Sie glauben, China-Korrespondenten sollten doch wohl chinesische Zeitungen lesen können? Nun ja, ein anderes Thema. Und es gibt ja auch viele deutsche Journalisten, die ihre Sache sehr gut machen. Johnny Erling, Mark Siemons und Felix Lee gehören z.B. zu dieser Spezies. Auch die schwierigen Umstände, unter denen in China gearbeitet wird, sollen hier nicht unterschlagen werden.

Der Marco-Polo-Effekt

Zu der allgemein misslichen Lage in China kommt aber nun noch etwas hinzu. Der „Marco-Polo-Effekt“, wie ich es nennen möchte, verliert allmählich seine Wirkung. Dieser Effekt hat sich Tausende von Jahren segensreich auf das Ansehen der Berichterstatter aus fremden Ländern ausgewirkt und wird nun durch das Internet und den grenzüberschreitenden Informationsverkehr in Echtzeit stark abschwächt. Gemeint ist Folgendes: Je weiter das Land entfernt ist, aus dem du berichtest, desto geringer ist die Chance, dass jemand noch während deiner Lebenszeit etwaige Ammenmärchen und Plattitüden, die du aufgetischt hast, entlarvt und desto weniger Mühe musst du dir geben, die Wahrheit in ihrer ganzen vertrackten Komplexität zu beachten.

Das ist vorbei, seit das Internet der Zeitung einen unregulierbaren Feedback-Kanal spendiert hat. Die Ansprüche sind seitdem gestiegen und ich sehe kaum, dass der Journalismus darauf in irgendeiner Weise angemessen reagiert.

Zwei Geschehnisse, die während meiner Arbeit als Dozent an einer chinesischen Universität passiert sind, sollen hier nur als Beispiel dafür stehen, warum ich die Ansicht für falsch halte, dass unser westlich geprägtes Mediensystem samt seiner verholzten Wurzeln in der Papierzeit noch zeitgemäß ist.

Die geschlagene Gurke

Anfangen möchte ich mit dem Ehec-Skandal. Damals, als dieser Keim die ersten Todesopfer in Deutschland forderte, berichteten auch die chinesischen Medien darüber. Was mich allerdings sehr störte, war der Unterton der Berichterstattung: „Seht her, das passiert nicht nur bei uns, sondern auch im angeblich so sicheren Westen.“

Als ich damals ins Seminar kam, sprach mich ein Student auf den Skandal an. Er sagte: „Herr Hänke, haben Sie schon gehört? In Deutschland ist das Essen auch nicht sicher. Die spanischen Gurken sind giftig.“

Ich habe dann zunächst einmal versucht zu erklären, dass die chinesischen Staatsmedien diesen Vorfall benutzen, um die eigenen Verhältnisse, die mit kaum Deutschland zu vergleichen sind, zu relativieren. Ich habe erzählt, dass das deutsche Gesundheitsamt mit ziemlicher Sicherheit kaum einen chinesischen Betrieb genehmigen würde. Ich habe behauptet, dass das Ausmaß der chinesischen Lebensmittelskandale die deutschen Verhältnisse bei weitem übertrifft. Ich habe über das Milchpulver, die Restöl-Verwertung, den gefälschten Alkohol und all die widerlichen Dinge gesprochen, die täglich in Chinas nahrungsmittelverarbeitendem Gewerbe geschehen. Ich habe gesagt, dass der TÜV, Foodwatch und ein funktionierendes Lebensmittelkontrollsystem in China mit Sicherheit mehr Menschenleben retten würden, als alle Menschenrechtsorganisationen dieser Erde zusammengenommen. Ich habe behauptet, dass in China in jeder Stunde mehr Menschen an vergiftetem Essen sterben, als in Deutschland in einem ganzen Jahr.

Aber dann habe ich auch noch etwas anderes behauptet. Ich habe gesagt, dass ich es für ausgesprochen wahrscheinlich halte, dass – trotz der Panikmache, trotz der Vernichtung riesiger Mengen an Lebensmitteln, trotz der Bilder der mutmaßlich giftigen Gurken neben tausendfachen Vergrößerungen der gefährlichen Keime – die spanischen Gurken damit gar nichts zu tun haben. Ich war mir da irgendwie sicher. Denn zu diesem Zeitpunkt handelte es sich ja um einen bloßen Verdacht, der von SpiegelOnline, dem hypernervösen Zappelphillip der deutschen Medienlandschaft, mediendramaturgisch ausgeschlachtet wurde.

Ich sollte Recht behalten. Die arme Gurke war unschuldig und bis heute ist wohl nicht endgültig geklärt, wer für den durch Panikmache entstandenen Schaden haften soll. Ab diesem Zeitpunkt sagten die Studenten immer, wenn ich zu weit vom Thema abkam: „Er schlägt schon wieder die Gurke.“ „Geschlagene Gurke“ ist ein Gericht der chinesischen Küche.

Der Ehec-Fall mag in seiner Ausprägung einige Besonderheiten haben, typisch für das deutsche Mediensystem ist aber, dass Skandalisierungen, Panik-Mache, Ungenauigkeiten bei der Präsentation von Fakten und vor allem die Übernahmen ungesicherter Informationen einen vernunftorientierten Diskurs oft geradezu unmöglich werden lassen, im Zeitalter der Echtzeitkommunikation ganze Lawinen von Informationsmüll lostreten können und es kaum Mechanismen gibt, die den Prozess verlangsamen.

Die ewige Ente

Die zweite Geschichte, die mit meiner Arbeit und mit der China-Berichterstattung noch viel mehr zu tun hatte, nenne ich die ewige Ente. Es war in der Zeit vor der Olympiade. Damals erhielt ich plötzlich und für mich ziemlich unerwartet von Freunden aus Deutschland E-Mails, in denen ich gefragt wurde, ob die chinesische Regierung mich denn auch bald aus dem Land werfen würde. In China hätte man doch jetzt alle ausländischen Studenten ausgewiesen.

Ich hatte damals auch von Visa-Problemen gehört. Insbesondere vor den Olympischen Spielen schien man strenger vorzugehen. Vielleicht versuchte man aber auch einfach, bei der Visa-Vergabe internationale Standards zu erreichen, denn meine Erfahrung sagt mir, dass es in China viele Wege gibt, die offiziellen Bestimmungen zu umgehen. Zwar geschieht es nicht selten, dass Ausländer in China gezwungen werden, das Land zur Visa-Verlängerung zu verlassen. Meist reicht jedoch ein Kurz-Trip nach Hongkong und das Problem ist gelöst.

Sicher gab und gibt es oft Schwierigkeiten bei der Beantragung eines Visums, aber wer jemals erlebt hat, welche bürokratischen Hürden chinesische Studenten nehmen müssen, die nach Deutschland einreisen möchten, der wird verstehen, dass gerade Deutsche in dieser Frage nicht unbedingt mit Anschuldigungen um sich werfen sollten.

Um die Geschichte abzukürzen: Die DPA-Meldung, auf der die Medienberichterstattung der Tageszeitungen und Online-Medien beruhte, war eine Falschmeldung – eine Ente. An der ganzen Geschichte war im Grunde nichts dran. Dass sich sachliche Fehler in die Berichterstattung einschleichen, ist ja nichts Außergewöhnliches. Jedem Journalisten, sei er noch so gewissenhaft, unterlaufen Fehler. Allerdings ist in diesem Fall das Ausmaß schon sehr erschreckend. Eine offizielle Anweisung, die ausländischen Studenten während der Olympischen Spiele auszuweisen, ist ein so unwahrscheinliches Ereignis, dass ich mich damals gefragt habe, welche Vorstellung denn in den Köpfen der Verantwortlichen vorherrscht – und wie der Unsinn dort hineingekommen ist -, wenn sie so einen Unfug einfach unreflektiert übernehmen, ohne den Wahrheitsgehalt zu prüfen.

Die Olympischen Spiele wurden in China auch vom einfachen Volk als eine Gelegenheit gesehen, sich der Welt von seiner besten Seite zu präsentieren. Viele Zuschauer hätten sich mehr Offenheit und Herzlichkeit und weniger bombastischen Perfektionismus gewünscht und auch ich fand die offizielle Inszenierung der chinesischen Nation teilweise sehr abweisend. Allerdings herrschte damals in der gesamten Bevölkerung eine nahezu fanatische Freude, jetzt einmal selbst Gastgeber einer solchen globalen Veranstaltung zu sein. Ganze Horden von Freiwilligen bereiteten den Empfang der internationalen Besucher vor. Eine Anweisung, ausländische Studenten auszuweisen, hätte niemand in China ernsthaft befürwortet. Das hätte man wissen können. Das nehme ich den deutschen Medien, insbesondere dem Spiegel, der damals gerade den Weltkrieg um Wohlstand ausgerufen hatte, bis heute übel.

Und warum die „ewige“ Ente? Ganz einfach: Das Netz vergisst nichts, zumindest dann nicht, wenn man es nicht explizit dazu auffordert. Und bis auf SpOn hat sich bis heute kein Online-Medium die Mühe gemacht, diesen Unfug zu korrigieren.

Und somit bleibt diese hektisch herausposaunte Legende für immer im Netz der kollektiven Erinnerung hängen. Die Ausweisung der Gaststudenten während der Olympiade gehört heute zu China wie die Glückskekse nach dem Essen. Ach, in China gibt es gar keine Glückskekse? Nein? Das ist ja ein Ding!

Hier die ewigen Enten: