Die Armut, die bitterkalte Armut

Es war gegen zwei Uhr an einem Donnerstag in einer eisigen Winternacht und ich hatte Hunger. Nicht immer verzeiht mir mein Magen diese nächtlichen Ausflüge zu den chinesischen Garküchen, aber diesmal musste es Malatang sein. Malatang und Sichuan-Pfeffer machen süchtig. Ich zog meine dickste Winterjacke an und ging zu Fuß von unserer Wohnung nach Sanlitun; erst durch die ungewohnt menschenleeren Hutong-Gassen, dann durch die verspiegelten Hochhausschluchten.

Gucci, Apple, Starbucks

Sanlitun steht wie kaum ein anderer Ort für den manchmal so herzlosen und hektischen Auftstieg des neuen Chinas. Sanlitun, das ist das „Village“, ein modernistischer Einkaufskomplex, der die Besucher mit dem größten Adidas-Store der Welt begrüßt und in dem sich Gucci, Apple, Starbucks und all die anderen Markführer ihre neue Konsumentenschicht heranzüchten. Sanlitun ist auch das „Soho“, eine Stadt in der Stadt, ein überdimensionierter Wohn- und Arbeitskomplex, der mit geschwungenen Milchglasfassaden über dem Gelände thront wie ein gigantisches Sound-Essemble von Bang und Olufsen. Sanlitun ist die Kneipenstraße mit den Touristenschuppen und den lustlosen Karaokebands, den Clubs mit ihrer grellbunten Technowelt und den verrauchten Bars.

In den heißen Sommernächten ist die Kneipenstraße vollgestopft mit Touristen, Expats und Gaststudenten, die sich verschwitzt und betrunken von Club zu Club hangeln. Die Fremden aus dem Westen und ihre vollen Geldbeutel haben über die Jahre eine ganze Reihe von Gangstern, Prostituierten und Bettlern angelockt, die den Mark untereinander aufteilen. An den dunklen Ecken stehen die Drogendealer schwarzafrikanischer Herkunft, die Marihuana verkaufen. Die etwas abseits gelegenen Straßen sind gesäumt von jungen Frauen, die einsame ausländische Männer mit den immer gleichen Worten „Massaji“ und „Ladybar“ für ihre Dienste gewinnen wollen. Etwas weiter westlich, am Arbeiterstadion, stehen die schmutzigen Bettlerinnen mit ihren Kindern auf dem Arm und bitten die betrunkenen Austauschstudenten mit ihren Plastikbechern in der Hand um etwas Kleingeld.

Tiefgefrorenes Sandpapier

In der Hochsaison wimmelt es in der Kneipenstraße von chinesischen Kleinunternehmern. Direkt im Village sieht man sie nicht, da werden sie von den Ladenbesitzern und den Ordnungsbeamten vertrieben; nur die Rikschafahrer, die vor dem Adidas-Store zwischen den Taxis und den neuesten Modellen der Oberklasse hindurchmanövrieren, werden toleriert. In der Kneipenstraße jedoch stehen die Verkäufer mit ihren Ständen. Sie verkaufen gefälschte Marken-Zigaretten, Getränke, Blumen, chinesische Musikinstrumente und Plastikspielzeug. Im Sommer gleicht die Straße einem chaotisch bunt-blubbernden Feuertopf. Bis in die späten Nachtstunden stehen die Verkäufer dort mit ihren Garküchen, bei denen man für wenig Geld Lammspieße, Hänchenflügel und eben Malatang bekommt.

In dieser Nacht war es minus sieben Grad. Leere Plastiktüten wehten durch die Einkaufpassage und ein paar Drogendealer gingen eine Weile neben mir her, bis sie merkten, dass ich nicht deswegen nach Sanlitun gekommen war. Vereinzelte Touristengruppen kamen aus den Bars, in denen die Bässe die leeren Tanzflächen bedröhnten. Obwohl es mitten in der Nacht war und der beißend staubtrockene Wind sich auf der Haut anfühlte wie tiefgefrorenes Sandpapier, standen die frierenden Männer und Frauen wie immer an ihren Garküchen und warteten auf Kundschaft. Auch die Verkäufer mit ihren bunten gasgefüllten Luftballons, den Blumen und den Spielsachen waren wie immer in der Kneipenstraße.

Dieses Mal aber war es echt

Ich stetzte mich auf einen der winzigen Schemel, die vor einem Malatang-Stand aufgereiht waren. Spieße mit Pilzen, Gemüse, kleinen Würstchen, Tofu, Fischklößchen und auch einigen Innereien schwammen in der dunkelroten Brühe aus Fett, Chillischoten und Sichuan-Pfeffer, der wegen seiner leicht betäubenden Wirkung ein Prickeln auf der Zunge hinterlässt.

Die Verkäuferin war froh, dass ihr in dieser Nacht noch jemand ein paar Spieße abkaufte. Eine ganze Zeit saß ich und aß stumm das, was sie mir auf den Teller legte. Hin und wieder kamen Verkäufer mit ihren Luftballons und ihren Spielsachen. Nach einer Weile kam eine der Frauen mit den bunten Luftballons und fragte mich, ob ich ihr vielleicht einen Tofuspieß kaufen könnte. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und ihre Wangen waren rot wie gerocknete Äpfel. Ich sagte ja und sie nahm sich einen Spieß, den sie hungrig verschlang. Sie fragte, ob sie noch einen essen dürfe und als ich ja sagte, setzte sie sich neben mich. Ich sagte, dass es ohnehin sehr ungesund sei, allein zu essen und lachte. Sie lachte auch und aß hastig. Nach einer Weile kamen auch die anderen Luftballonverkäufer und ich lud sie zum Essen ein. Am Ende waren wir zu fünft.

Wie oft habe ich in den letzten Jahren in einem Restaurant an einem der runden Tische gesessen, bei Geschäftsessen oder mit der Familie und nach chinesischer Sitte die anderen höflich dazu aufgefordert, zuzugreifen. In China drängt man seine Freunde beständig, sich satt zu essen und nicht zurückhaltend zu sein. Eigentlich war das für mich meist ein eher abstruses Schauspiel, bei dem es darum ging, seine soziale Kompetenz zu beweisen, in dem man sich bescheiden und großzügig zeigt. Dieses Mal aber war es echt. Wer in einer eiskalten Winternacht verzweifelt versucht, den versprengten Touristen für ein paar Yuan einen Luftballon zu verkaufen, für den sind Bescheidenheit und Großzügigkeit beim Essen keine leeren Formeln sozialer Interaktion.

Der Mann, der mir an diesem Abend gegenüber saß, hatte Hunger. Und ich sah den Scham in seinen Augen – den Scham, von mir, einem Ausländer, diese Form der Großzügigkeit anzunehmen. Ich hingegen schämte mich dafür, dass ich manchmal an einem Abend in den Bars und Geschäften dieser Gegend soviel Geld ausgegeben hatte, wie dieser Mann in einem ganzen Monat oder vielleicht sogar in einem halben Jahr verdient. Der Mann aß langsam und voller Würde und als ich ihn bat, noch etwas zu nehmen, lehnte er bescheiden ab.

Die Böden sind schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch

Die Verkäufer kamen alle aus Hunan, eine Provinz, in der, wie sie sagten, die Böden schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch sind. Wer weiß, welche Schicksalsschläge sie nach Beijing geführt hatten und welche Versprechungen ihnen gemacht wurden, welcher sprupellose Geschäftsmann ihnen die Luftballons und die Spielsachen verkauft hat. Wer weiß, welchen Anteil sie vielleicht auch selbst daran haben, dass sie in dieser wenig hoffnungsvollen Situation sind. Sicher ist aber, dass sie alles darum gegeben hätten, nicht in dieser Situation zu sein.

Viele Dinge in China kann man nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Armut, eine brutale und bedrohliche Armut immer noch untrennbar zu Chinas Gegenwart gehört. Die glitzernden Fassaden in den großen Städten können sehr lange darüber hinwegtäuschen, dass die  Entbehrungen und der Hunger den Menschen in den Knochen steckt. Denn auch die, die die Armut hinter sich gelassen haben, werden in irgendeiner Form von der dauerhaften Anwesenheit von Kälte, Hunger und Elend begleitet.

Und vielleicht ist auch die Verschwendungssucht der wohlhabenden Chinesen, der Luxus und die Achtlosigkeit, mit der der Kuchen bei Starbucks nach dem ersten Bissen neben den halbvollen Tassen auf dem Tisch stehen gelassen wird, nichts weiter als der ewige Kampf, sich von der Armut, dem chinesischen Stigma, so weit wie möglich zu entfernen.

Yu Huas armer Riese und der kategorische Imperativ

Der chinesische Schriftsteller Yu Hua, der die Gabe hat, sowohl die Poesie als auch die Brutalität des chinesischen Lebens in Worte zu fassen, beschreibt in einem seinem neuesten Buch China in Ten Words eine Szene aus seiner Jugend, die die Armut zu einem Schlüsselmoment der ganzen Gesellschaft werden lässt. Die Geschichte spielt zur Zeit der Kulturrevolution, in der Nahrungsmittel nur gegen Essensmarken zugeteilt wurden. Um Spekulationen zu verhindern, war es verboten, mit diesen Marken zu handeln. Die Jugendlichen in dem kleinen Ort hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die öffentlichen Plätze zu überwachen, um die Schwarzhändler zu stellen und der Polizei zu übergeben. Eines Tages griff die Jugendbande einen groß gewachsenen Mann auf, der die Lebensmittelmarken, die er zu Geld machen wollte, erst aus der Hand gab, als die Kinder mit einem Stein auf seine Hände einschlugen und so die Umklammerung lösten. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus, dass der Mann aus elenden Verhältnissen kam. Er lebte in einem kleinen Dorf und seine Familie hatte sich ein ganzes Jahr lang die Marken vom Munde abgespart. Der Mann wollte heiraten und mit dem Geld einen Teil seiner Aussteuer bezahlen.

Wenn man sich, wie viele Ausländer in China, die Frage stellt, warum die Chinesen denn ihre eigenen Gesetze so oft nicht einhalten, dann ist man mit fehlender moralischer Integrität sehr schnell bei der Hand. Die Chinesen haben Kants kategorischen Imperativ eben noch nicht so richtig verstanden.

Die Ausnahmen von Regeln werden zu einem Akt der Mitmenschlichkeit

Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass es oft die Armut ist, die Bitterkeit der Realität, die Ausnahmen von Regeln zu einem Akt der Mitmenschlichkeit werden lässt. Warum werden die Rikschafahrer toleriert, die Händler von Raubkopien nicht hart bestraft, die wilden Märkte auf den Fußgängerbrücken nicht unterbunden? Manchmal liegt es einfach daran, dass die Beamten vom Ordnungsamt es nicht übers Herz bringen, den Menschen, die ohnehin fast nichts haben, ihren einzigen Verdienst zu nehmen.

An meiner Uni studieren jedes Jahr Studenten, die aus sehr armen Familien kommen. Die Eltern haben auf vieles im Leben verzichten müssen, um ihren Kindern einen Universitätsbesuch zu ermöglichen. Die Studenten haben den größten Teil ihrer Kindheit geopfert, um durch fast unendlichen Fleiß und militärischen Drill eine gute Note bei der Hochschulaufnahmeprüfung zu erreichen. Um im Leben eine Chance zu haben und der Armut zu entkommen, haben sie große Opfer gebracht. Wenn nun einer dieser Studenten, aus welchen Gründen auch immer, die für einen Studienabschluss erforderlichen Leistungen nicht erbringt, würde man ihn dann mit gutem Gewissen durchfallen lassen? Würde man ihn seiner hart erkämpften Zukunft berauben? Würde man angesichts der Not, die diese Studenten und vor allem ihre Eltern erleiden mussten, nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und ein Auge zudrücken? Und wenn man in diesem Fall die objektiven Kriterien aufhebt, muss man dann nicht auch in anderen Fällen weniger streng sein, um eine Vergleichbarkeit zumindest nach außen aufrechterhalten zu können?

In China gibt es sehr wenig Studienabbrecher. Egal, wie schlecht die Leistungen der Studenten sind, am Ende bekommen sie fast immer ihren Abschluss. Das ist ein System, das in in seiner Paradoxität kaum zu übertreffen ist. Aber wer will denn schon verantwortlich dafür sein, wenn sich die Eltern aus dem Fenster stürzen, weil ihre Kinder, ihre einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sie so bitter enttäuscht haben? Und das ist keine Übertreibung. So etwas passiert immer wieder.

Eine ehemalige Kollegin von mir hat gerade einen Artikel im Spiegel veröffentlicht, in dem sie über die aus deutscher Perspektive nahezu unmenschlichen Lernbedingungen an chinesischen Mittelschulen schreibt. Der Bericht trifft die Wirklichkeit wohl recht gut, ignoriert aber vollständig die Zwänge und Hintergründe des chinesischen Überlebenskampfes, die Bildungspolitik oft zu etwas werden lassen, wie die Veranstaltung einer Runde „Reise nach Jerusalem“ – mit viel zu wenig Stühlen. Es lässt sich leicht über eine Ellenbogengesellschaft philosophieren, wenn man selbst im weichen Sofa sitzt.

Armut ist nicht relativ

Als ich in meinem ersten Jahr an einer chinesischen Universität „Zeitungslektüre“ unterrichtet habe, hielt ich es für eine gute Idee, das Thema „Armut“ zu behandeln. Ich dachte, dass es ein interessanter Perspektivwechsel sein würde, sich mit der Armut in Industrieländern zu beschäftigen, die zu diesem Zeitpunkt zunehmend zu einem Problem wurde. Aber als die Studenten die Summen hörten, die deutsche Arbeitslosengeldempfänger monatlich bekommen, erntete ich Blicke, die mir zu verstehen gaben, dass sie spätestens jetzt sicher waren, wie wenig die Menschen im reichen Westen überhaupt in der Lage sind, die Bedeutung des Wortes „Armut“ angemessen zu verstehen.

Ich habe damals auch einen Fernsehbericht gezeigt, in dem eine deutsche Studentin einen Selbstversuch macht und die „Bitterkeit“ einer Hartz4-Existenz an sich selbst ausprobiert. Es war schon fast komisch, wie in dem Bericht versucht wurde, die Situation dieser Studentin in den schwärzesten Farben zu malen. Sie saß einsam am Fenster, sah in den grauen Himmel und musste sich damit abfinden, dass ihre Fertig-Pizza nicht mehr aus dem Hause Doktor Oettker kam. Die Szenen waren mit deprimierender Musik unterlegt, um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen. Kein Urlaub, kein Kino, nichts.

Einige der chinesischen Studenten fanden es sicher nicht besonders komisch. Viele Menschen im reichen Westen hören es vielleicht nicht so gerne hören, aber es ist die Wahrheit: Armut ist nicht relativ. Die westlichen Wohlstandsgesellschaften haben die Armut besiegt. Heute müsste in Deutschland niemand frieren oder hungern. Der Staat garantiert zumindest die nackte Existenz. In China ist das anders. Auch wenn die Situation sich sehr verbessert hat, lebten laut offizieller Angaben im Jahr 2010 in China immer noch fast 27 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze.  In China gilt jemand als arm, der umgerechnet weniger als 148 Euro zur Verfügung hat – im Jahr.

Zensur Spezial: Tencent und Sina Weibo deaktivieren die Kommentarfunktion der chinesischen Mikroblogs

Als ich vor einiger Zeit in meinem Sina-Mikroblog eine Nachricht von einem mir unbekannten Nutzer erhielt, wunderte ich mich kurz über die seltsame Frage, die mir gestellt wurde. „Gab es in Peking wirklich einen Putsch?“, wollte jemand von mir wissen. Ich hielt es für einen Scherz oder einen – weil die Frage auf Deutsch gestellt wurde – nicht gerade unwahrscheinlichen Übersetzungsfehler. Ich hatte diese Nachricht schon beinahe vergessen, doch einige Tage später fingen die englischsprachigen Blogs und Online-Medien an, über diese Putsch-Gerüchte in den Mikroblogs zu berichten – über wilde Spekulationen darüber, dass hinter den verschlossenen Mauern des Regierungssitzes ein Staatsstreich stattgefunden haben soll. Und dann dauerte es noch eine Weile, bis die deutschen Medien diese Gerüchte wiederum bei ihrer China-Berichterstattung aufgriffen. Bisher gibt es weder von offizieller chinesischer Seite, noch von unabhängigen Berichterstattern irgendwelche Anzeichen dafür, dass diese Gerüchte mehr sind, als die typisch chinesischen Internetgeschichten, die sich meist wie ein Lauffeuer verbreiten und an denen oft genug nichts dran ist. Befeuert wurden die jüngsten Geschichten sicherlich durch Spekulationen über die politischen Hintergründe der recht spektakulären Absetzung des bei weiten Teilen der Bevölkerung bekannten, maoistisch orientierten Politikers Bo Xilai.

Schneeballsytemschlacht

Normalerweise würde ich mich einfach darüber ärgern, dass viele Journalisten offenbar nichts Besseres zu tun haben, als sich an der virtuellen “Stillen Post” zu beteiligen. Aber dieses Putsch-Gerücht hat offenbar ein Nachspiel. Die chinesische Regierung scheint sich tatsächlich auf eine Schneeballsystemschlacht einlassen zu wollen. Die aktuellen Gerüchte wurden zum Anlass genommen, strenger gegen deren Verbreitung vorzugehen. Seit heute Morgen kann ich in meinem Mikroblog bei sina.com keine Tweets mehr kommentieren. Und das geht nicht nur mir so. Wie die staatliche Zeitung “China Daily” in ihrer Online-Ausgabe mitteilt, wurden als Strafmaßnahme für die Verbreitung von Gerüchten die beiden großen Mikroblogs bei sina.com und tencent.com angewiesen, ihre Kommentarfunktion für fünf Tage stillzulegen. Laut dem ebenfalls staatlichen Medium “China Radio International” wurden im Zuge des Vorgehens gegen Gerüchte sechszehn Webseiten vom Netz genommen und sechs Personen wegen der Verbreitung von Online-Gerüchten festgenommen.

Salz wird euch nicht schützen!

Die chinesische Regierung, die ja die Medien stark in ihrer Berichterstattung einschränkt und auf verschiedenste Weise die Inhalte zensiert, führt schon seit längerem eine Kampagne gegen die Verbreitung von Unwahrheiten. Zum einen werden Gerüchte aktiv gelöscht, zum anderen wird versucht, aktiv “Aufklärung” zu betreiben. Weil die meisten Chinesen aber aus guten Gründen an der Objektivität der offiziellen Medien zweifeln, werden viele als wichtig eingestufte Informationen weiterhin durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben. So fürchtete man während der japanischen Reaktorkatastrophe auch in China die Gefahren des Fall Outs. Irgendwann kam dann das Gerücht auf, dass der Verzehr von gewöhnlichem Kochsalz ein effizienter Schutz gegen Verstrahlung sei. Innerhalb eines Tages waren daraufhin in Peking sämtliche Salzvorräte der Supermärkte leergekauft. Die offiziellen Medien strahlten zahllose Sondersendungen aus, um dieses unsinnige Gerücht und die dadurch ausgelösten Panikkäufe zu verhindern.

Only good news are good news

Vorkommnisse wie diese zeigen, dass Gerüchte in China tatsächlich eine reale Gefahr für Leib und Leben darstellen können. Mit Panikreaktionen großer Bevölkerungsteile ist in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern schließlich nicht zu spaßen. Die Reaktion der Regierung auf Gerüchte ist jedoch weitgehend hilflos und zeigt nur, dass man dort die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hat. Denn der Grund, warum in China die Menschen viel stärker als im Westen geneigt sind, auch den wildesten Gerüchte Glauben zu schenken, liegt eindeutig an der stark eingeschränkten Pressefreiheit. Durch eine freie Berichterstattung werden ja auch die Wahrheiten ans Licht fördert, die nicht im Sinne der Regierung sind. In China hingegen wird die Informationsweitergabe der Medien oft gedeckelt und „harmonisiert“, wie es im chinesischen Internetjargon heißt. Die Nachrichten der offiziellen Medien bestehen daher noch immer zu einem überwiegenden Teil aus Erfolgsmeldungen. Im modernen Journalismus westlicher Prägung sagt man „Only bad news are good news“, weil oft nur das Skandalöse, das Gefährliche, das Böse es in die sensationsgierigen Medien schafft. Für die weitgehend harmonisierte chinesische Medienlandschaft gilt das genaue Gegenteil: „Only good news are good news“. Wenn aber die Menschen kein Vertrauen in die Fähigkeit der Medien haben, über Skandale zu berichten, werden sie sich die Informationen über Umweltrisiken, politische Fehlentwicklungen, Gefahren für die Gesundheit und all die anderen Dinge, die unabdingbar Teil moderner Gesellschaften sind, zwangsläufig aus anderen – seriösen und unseriösen – Quellen besorgen.

Der Streisand-Effekt – Don’t think of an Elephant!

Ich halte die Regulierungs- und Zensurmaßnamen im chinesischen Internet, die derzeit angewendet werden, für insgesamt eher wirkungslos. Die Sperrung von Suchbegriffen, die Löschung von Tweets, und nun die “Bestrafung” der Mikroblogbetreiber durch Deaktivierung der Kommentarfunktion werden weder die Debatten unterbinden, noch Gerüchte vermindern. Die chinesischen Internetbenutzer haben bisher noch immer einen Weg gefunden, die Maßnahmen zu umgehen. Die Bemühungen, eine offene, kontroverse und teilweise sicherlich auch unsachliche Debatte über gesellschaftliche und politische Themen zu verhindern, werden langfristig so erfolgreich sein wie die Aufforderung, nicht an einen Elefanten zu denken. Denn ein Effekt, der in Zeiten des Internets immer wichtiger wird und den es bei jedem Versuch der Regulierung zu bedenken gilt, ist der so genannten Streisand- Effekt.

Als Streisand-Effekt wird bezeichnet, wenn durch den Versuch, eine Information zu unterdrücken, genau das Gegenteil erreicht wird, nämlich die Information besonders bekannt gemacht wird. Seinen Namen verdankt der Effekt Barbra Streisand, die den Fotografen Kenneth Adelman und die Website Pictopia.com 2003 erfolglos auf 50 Millionen US-Dollar verklagte, weil eine Luftaufnahme ihres Hauses zwischen 12.000 anderen Fotos von der Küste Kaliforniens auf besagter Website zu finden war. Damit stellte sie aber erst die Verbindung zwischen sich und dem abgebildeten Gebäude her, woraufhin sich das Foto nach dem Schneeballprinzip im Internet verbreitete.
http://de.wikipedia.org/wiki/Streisand-Effekt

Langfristig wird der Streisand-Effekt in China dazu führen, dass die Bevölkerung sich genau für die Themen besonders stark interessiert, die auf dem Index stehen. Welche Worte bei den Weibos zensiert werden, lässt sich schon heute auf vielen Internetseiten nachlesen und je aktiver und vehementer die Regierung gegen diese wahlweise auf Tatsachen oder Unsinn basierenden Diskussionen vorgeht, desto mehr wird die Öffentlichkeit zu diesen Themen herausfinden wollen. Möglichkeiten dazu bietet das Internet genug. Auch das zensierte.

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UPDATE (16:33):
Sina Weibo erlebt gerade das, was vom Sprachlog vor kurzem zum Anglizismus des Jahres 2011 gekürt wurde: Einen veritablen „Shitstorm“. Denn zwar wurde die Kommentarfunktion deaktiviert, aber beim „reposten“ kann man immer noch seine Meinung hinzufügen. Und davon wird jetzt ausführlich Gebrauch gemacht, um sich über diese sonderbare Form der Gerüchtebekämpfung entweder aufzuregen oder einfach nur zu amüsieren.

Musikrezension: Omnipotent Youth Society – Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Die Omnipotent Youth Society ist für mich die chinesische Band mit dem größten künstlerischen Potenzial derzeit. Sie haben für ihr aktuelles Album Jahre gebraucht und so klingt es auch. Im bäuerlichen Shijiazhuang schrauben ein paar Jungs in den bretterbudenähnlichen Rockschuppen Songs zusammen, die sich kompositorisch kaum hinter Coldplay oder Radiohead verstecken müssen. Auffälligstes Merkmal ihrer Musik sind die sphärischen Trompetenklänge und die oft überraschenden Rythmus- und Melodiewechsel in ihren Liedern. Sie sind alle ausgebildete Musiker, die auch Jazz oder Klassik machen könnten, wenn sie es wollten. Stattdessen füllen sie aber lieber auf einem nicht-existenten chinesischen Rockmusik-Markt eine nicht existente Nische aus. Ihre Fans wissen, dass es ihnen ziemlich gleichgültig ist, ob irgendjemand zuhört. Denn darum geht es nicht. Die glasklaren Lyrics stammen von einem jungen chinesischen Universitätsdozenten für englische Poesie, der die metaphorische Gewalt der chinesischen Sprache zu nutzen weiß. Der Song „Qinghuangdao“ ist eine Hymne und eine junge Frau in dem Video weiter unten sagt, dass sie weinen musste, als sie das Lied zum ersten mal gehört hat.

Ominipotent Youth Society bei „noisey“, Beijing



Ein Einblick in die Welt der „Omnipotent Youth Society“ (Versuch einer Übersetzung):

Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Um sechs Uhr Abends ist Feierabend,
Ich zieh mir den Kittel der pharmazeutischen Fabrik aus.
Meine Frau kocht Reisbrei,
Ich trinke ein paar Flaschen Bier.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.

Am achteckigen Verkaufstresen,
Am verrückten Markt des Volkes,
bezahle ich mit Falschgeld
und kaufe eine falsche Waffe.

Sie beschützt ihr Leben,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Der Vorhang der Nacht bedeckt die Ebenen Nordchinas.
Ihr tieftrauriges, tränenbedecktes Gesicht.

In der Mittelschule in Hebei
spielen sie Ping Pong
und betrachten mich stumm.
Unfähig, das Klassenzimmer zu verlassen.

Das Leben in der Erfahrung
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Zehntausend wilde Pferde
laufen durch seinen Kopf.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.



Omnipotent Youth Society
bei Amazon



Omnipotent Youth Society-Kill the One from Shijiazhuang

Das ganze Album zum reinhören bei douban.

Der „Flame War“ zwischen Han Han und Fang Zhouzi

„Flaming“ wird auch als „bashing“ bezeichnet und ist die feindliche und beleidigende Interaktion zwischen Internet-Usern. Flaming spielt sich normalerweise in dem sozialen Umfeld eines Internetforums ab. (…) Ein „Flame War“ entsteht, wenn sich viele User durch provokative Antworten engagieren, die auf den ursprünglichen „Flamebait“ bezogen sind. Flame Wars ziehen oft viele User mit in den Konflikt (inklusive derer, die versuchen, den Konflikt beizulegen) und können die reguläre Forendiskussion negativ beeinflussen (…). Übersetzung nach dem englischen Wikipedia-Artikel über flaming

Nach dieser Definition haben wir es bei dem seit Wochen anhaltenden Streit zwischen dem chinesischen Posterboy Hanhan und Fang Zhouzi mit einem klassischen „Flame War“ zu tun. Han Han, der multi-talentiert als blog- und romanschreibender Literat und als Autorennfahrer in Erscheinung tritt und Fang Zhouzi, der durch seine detaillierten Analysen schon so manchen Betrüger entlarvt hat, stehen sich  so verfeindet gegenüber, dass der Konflikt im Chinesischen als „方韩之战“ (fanghanzhizhan), als der Han-Fang’sche Krieg bezeichnet wird und wohl auch als solcher in die Geschichtsbücher des chinesischen Internets eingehen wird. Hauptsächlich geht es in dem Konflikt um den Vorwurf, dass viele der Texte Han Hans mit Hilfe eines Ghost-Writers entstanden sind. Eine wichtige Rolle in dem Konflikt spielen sicher auch Han Hans vor kurzem veröffentlichte Blogposts über „Revolution„, „Demokratie“ und „Freiheit“, in denen der zuvor meist als System-Oppositionelle人gesehene Schriftsteller-Rebell seinen politischen Standpunkt sehr pragmatisch definiert. Han Han nimmt in diesen Posts den Standpunkt ein, dass eine direkte Konfrontation mit den Machthabern in China derzeit keinen Sinn macht. Er fordert weitreichendere Reformen, aber keinen System-Wechsel. Viele seiner liberal orientierten Leser waren davon enttäuscht.

Die Unterstützer der jeweiligen Seite stehen sich so unversöhnlich gegenüber, dass im Internet viele Geschichten die Runde machen, in denen sich langjährige Ehepaare scheiden lassen, weil der eine Partner ein Fan von Han Han ist und der andere auf Fang Zhouzis Seite steht und entsprechend Han Han für einen kleingeistigen Schummler hält.

Einen offiziellen Doppelpod-Standpunkt in der Debatte gibt es noch nicht. Denn anders als im deutschen Guttenberg-Fall sind die Vorwürfe gegen Han Han viel schwerer nachzuweisen. Aber nach allem, was ich weiß, scheint es viele Gründe dafür zu geben, dass der immer wahrscheinlicher werdende Fall Han Hans vom Thron der Internet-Generation durchaus in Ordnung geht.

Für diejenigen, die sich eine eigene Meinung bilden möchten, die folgenden Videos  (ein englischsprachiges und ein chinesisches) :







Zensur Spezial: Maulkorb für die “Quasselstrippe of America”

“Hallo zusammen. Schön, dass ihr wieder einschaltet bei OMG-Meiyu. Ich bin Bai Jie. Montag bis Freitag mache ich jeden Tag eine Sendung und wir lernen zusammen den neuesten und authentischsten ‘American Slang’”. So hat Jessica Beinecke ihre drei Minuten Dampfquatschen begonnen und so beginnt sie auch heute noch ihre chinesischsprachige Sendung. Nur können die meisten ihrer chinesischen Fans sie jetzt leider nicht mehr hören. Der chinesische Youtube-Klon, auf dem man ihre Sendung abrufen konnte, hat ohne Angabe von Gründen beschlossen, die lustigen Sprachlernvideos zu löschen. So kann man es auf der OMG-Seite des chinesischen Twitter-Klons nachlesen. Jessica ist darüber sehr traurig und auch viele ihrer Fans beklagen diesen Maulkorb.

Um diese Geschichte richtig einordnen zu können, sollte man jedoch wissen, dass Bai Jie mit ziemlicher Sicherheit kein spontanes Internetphänomen ist. Der SPON-Artikel, der vor zwei Monaten erschienen ist, und in dem Bai Jie als eine niedliche Selfmade-Berühmtheit beschrieben wird, ist in Bezug auf diese Frage an Naivität kaum zu überbieten. Zunächst einmal aber sind hunderttausend Fans bei Weibo im chinesischen Internet-Wunderland keine sonderlich erstaunliche Leistung – vor allem, wenn man davon ausgeht, dass die Clips professionell produziert sind. Denn wer glaubt, dass diese Sendung, wie in dem Artikel behauptet wird, aus einem Spaß entstand und quasi ein Hobby von Jessica Beinecke ist, der muss schon sehr viele Details übersehen.

“Wohl mehr aus Spaß an der Sache begann sie nebenbei in ihrem Wohnzimmer in Washington mit der Videokamera ihres Notebooks kurze Sprachlernvideos für Chinesen aufzunehmen und ins Netz zu stellen.”
Quelle: Spiegel.de

Natürlich ist diese Sendung sehr stark personalisiert und erweckt den Anschein, ein Produkt der aufgeregten jungen Dame aus dem mittleren Westen zu sein. Aber Jessica Beinecke war und ist eine Mitarbeiterin der “Voice of America”, dem offiziellen auswärtigen Sprachrohr der US-Regierung, das in dem SPON-Artikel lapidar als “US-Radiosender” bezeichnet wird. Dort ist Jessica angestellt und ich kann mir irgendwie nicht so richtig vorstellen, dass deren Mitarbeiter nach Feierabend mal eben auf eigene Faust tägliche Formate produzieren.

Hinzu kommt, dass “OMG-Meiyu” eine Sendung ist, die in Bezug auf Script, Make Up, Kleidung, Kamera und Animation auf einem professionellen Niveau produziert wird. Im Internet finden sich weitere Hinweise darauf, dass man den Aspekt der Spontanität dieses “Erfolges” nicht überbewerten sollte.

With some advice from the producers of „Parazit,“ a popular show on VOA’s Persian service profiled last year on the NewsHour, she created „OMG! Meiyu.“
Quelle: PBS.org

Ich gehe daher eher davon aus, dass “OMG-Meiyu” einer neuen Strategie der „Public Diplomacy“ der USA zuzurechnen ist und dass das Ziel der Sendung unter anderem die Stärkung der US-Amerikanischen “Softpower” ist.

Ich bin der Meinung, dass diese Strategie mit Vorsicht zu bewerten ist. Sicher ist es ein Skandal, dass eine Sendung, in der es um vollkommen harmlose und unpolitische Themen geht und die ausschließlich das Erlernen einer Fremdsprache zum Ziel hat, von der chinesischen Video-Plattform ohne Angabe von Gründen gelöscht wird. Welche rationalen Begründungen sollten denn auch dafür angeführt werden, dass es Bai Jie verboten sein sollte, die Chinesen auch weiterhin täglich mit ihren Vokabeln vollzuquatschen? Diese Form der Zensur, bei der ohne Angabe von Gründen und ohne den Versuch, die Regulierungskriterien transparent zu gestalten, Inhalte gelöscht werden, ist meiner Meinung nach langfristig zum Scheitern verurteilt. Und auch Facebook wird wohl in dieser Frage seine Strategie ändern müssen.

“OMG Meiyu” gehört zur Agenda der US-amerikanischen Außenpolitik. Und wer beispielsweise die Diskussion um die Konfuzius-Institute verfolgt, die weitgehend in deutsche Universitäten integriert sind und dadurch Interessen verschleiern könnten, wird sehr schnell feststellen, dass auch in Deutschland Sprach-Kurse und Kulturveranstaltungen, die von einem Land mit einem anderen politischen und ideologischen Hintergrund veranstaltet werden, sehr argwöhnisch beäugt werden. Man fürchtet hüben wie drüben die als Kultur getarnte politische Einflussnahme durch fremde Staaten.

Zurzeit sind die Bemühungen der Chinesen im Bereich der Public Diplomacy aus vielen Gründen eher erfolglos. Ich gehe aber davon aus, dass auch die chinesische Regierung in Zukunft in dieser Hinsicht von den Amerikanern lernen wird und mit sehr viel subtileren Methoden versuchen wird, weltweit Sympathien zu gewinnen. Und ich gehe ebenfalls davon aus, dass auch die westlichen Industrienationen Wege suchen werden, solche Einflussnahmen zu verhindern.

Eine offene Gesellschaft, in der kontroverse Diskussionen stattfinden können, sollte keine großen Schwierigkeiten damit haben, auch ideologisch gefärbten Standpunkten staatlicher Institutionen anderer Länder in der öffentlichen Debatte Gehör zu schenken. Es sollte jedoch immer darauf geachtet werden, dass die Enstehensbedingungen im Informationsfluss offengelegt sind, auch wenn die Produkte als lustige Unterhaltungs- und Bildungsformate daherkommen.

Wenn Bai Jie gesagt hätte: “Hallo zusammen. Schön, dass ihr wieder einschaltet bei OMG-Meiyu. Eine Sendung der Voice of America…”, dann wäre ich in der Sache uneingeschränkt auf ihrer Seite. So bleibt ein Nachgeschmack und der Verdacht, dass die US-Regierung diese Sendung benutzten wollte, um interessenpolitisch bedingt Sympathien bei jungen Chinesen zu gewinnen.

“OMG-Meiyu” ist sprachdidaktisch übrigens eine ziemliche Katastrophe, weil die idiomatischen Redewendungen kaum im Kontext gelernt werden. Ich denke daher, dass die in China sehr beliebte US-Show “The Big Bang Theory” viel besser geeignet wäre, um US-amerikanischen Slang zu lernen. Wer jedoch nicht auf die Dampfplaudereien von Bai Jie verzichten möchte und hinter der Großen Chinesischen Firewall sitzt, dem sei die Smartphone-App von OMG empfohlen, oder aber der folgende Umweg über einen Online-Proxy:

  1. zu vtunnel.com gehen
  2. die Werbung wegklicken
  3. www.youtube.com eingeben
  4. nach OMG – Meiyu suchen
  5. Bai Jie gucken

Video-Dialog: “Der Westen muss lernen,das heutige China zu verstehen”

Hier das Video zu der Auftaktveranstaltung der Dialogreihe „Magnet China“ anlässlich des chinesischen Kulturjahres 2012. Unterstützt wird die Dialogreihe von der Bertelsmann Stiftung, der Körber Stiftung und der Robert Bosch Stiftung.

In dem von Frank Sieren moderierten Gespräch unterhalten sich Bundeskanzler a.D. Dr. Helmut Schmidt und Prof. Dr. Gu Xuewu über Demokratie, Menschenrechte, Wirtschaft und andere Fragen (Ausschnitte). Sehr sehenswert!

Das ganze Gespräch als Podcast findet sich hier.

 

 

Das Lächeln der jungen Frau Liu und die Selbstkultur

Es ist nicht lange her, da schwappte eine Welle der Aufregung durch den chinesischen Makrokosmos der Mikroblogs. In einer Fernsehsendung hatten sich zwei ungleiche Kontrahenten über mehrere Runden ganz unverhofft ein verbales Duell geliefert, das streckenweise an Spannung mit einem guten Boxkampf mithalten konnte. An den Computern in ganz China saßen die Punktrichter, die mit ihren 140-Zeichen-Analyen darüber entschieden, wer als Sieger aus dem Schlagabtausch hervorgegangen ist. Das Votum der Mikroblogs war eindeutig: Die junge Frau Liu.

Die überwältigende Mehrzahl der Mikroblogs, in denen derzeit noch in großer Zahl das aufstrebenden Bürgertum seine Stimme findet und zu denen Chinas politische und wirtschaftliche Elite ebenso wie die Landbevölkerung erst langsam einen Zugang entwickelt, votierte in Online-Umfragen für die junge Frau und sympathisierte mit ihrer direkten, an Dreistigkeit grenzenden Schlagfertigkeit. Und halb China versuchte sich an der Analyse dieser für chinesische Verhältnisse sehr offenen Konfrontation. Hier nun meine Analyse.

Zunächst die Vorgeschichte: Auf einem Tianjiner Fernsehsender, der auch überregional zu empfangen ist, war eine neue Show angelaufen, in der junge Menschen auf der Suche nach beruflicher Veränderung sich den harten Fragen einer Jury aus erfolgreichen Geschäftsleuten stellen müssen. Die Show funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip wie DSDS und all die anderen Mittelmaß produzierenden Durchlauferhitzer fragwürdiger Talente. Auch die chinesischen Fernsehsender setzen bei der Unterhaltung auf die demokratischen Entscheidungen des Publikums, wenn es darum geht, Ausschau zu halten nach originellen Gesangsstimmen und perfekten Modellmaßen. Und wie überall sonnen sich die Teilnehmer für kurze Zeit in ihrer landesweiten Popularität, um dann alsbald wieder in der Bedeutungslosigkeit zu versinken.

Der größte Unterschied zwischen der deutschen und der chinesischen Casting-Industrie besteht derzeit jedoch darin, dass die chinesische Unterhaltungsbranche kaum Anstalten macht, die in Deutschland üblichen, sadomasochistisch geprägten Elemente dieser Fernsehgattung zu kopieren. In China gibt es keine Unterhaltungssendungen, derer Prinzip es ist, die Entwürdigung und Erniedrigung medial inszenierter Verlierertypen als postsatirisches Schauspiel zu vermarkten. Auch die niedersten aller Mediengeschöpfe, jene Moderatoren, die Mobbing, Schadenfreude und Beleidigungen unter dem Deckmantel der Ironie zu gesellschaftlicher Akzeptanz verhelfen, gibt es in China nicht. Vielleicht muss man sagen: Noch nicht.

Nicht, dass es in China keinen Spott gäbe, der sich über die Skurrilen und Verkorksten ausschütten lässt. Das chinesische Internet ist voll von Selbsdarstellern, die sich vollkommen freiwillig auf der Suche nach ein wenig Ruhm an den virtuellen Pranger stellen, bloß um von der Internetgemeinde mit Schmutz beworfen zu werden. Aber im Staatsfernsehen, in dem sich die Kräfte des Marktes nur in den Werbepausen ein wenig austoben können und die oft brutale Realität Chinas nur selten hinter den Weichzeichner-Orgien der Fernsehregisseure hervortritt, da gibt es für die Schande keine Öffentlichkeit. Auch in den Talk-Shows tragen die Menschen, die sich seelischen entblößen und die dadurch Opfer ihrer eigenen Lebenswelt werden könnten, sehr oft Masken, damit sie nicht erkannt werden.

Nun könnte man annehmen, dass Zhang Shaogang, der Medienprofi, der auch schon als gestrenges Jury-Mitglied einer Casting-Show für Nachwuchsmoderatoren in Erscheinung getreten ist, in der Fernsehsendung “Feichang Moshu (非你莫属)“ einfach ein bisschen Krawall anzetteln wollte und die mediengerechte Kontroverse bewusst gefördert hat, als er die junge, selbstbewusste Kandidatin Liu Lili abstrafte, wie ein unangenehmer Oberlehrer eine aufsässige Siebenjährige. Vieles spricht jedoch dafür, dass es Zhang Shaogang nicht auf den bloßen Show-Effekt angelegt hat, als er die Fernsehsendung zu einem Gerichtshof über Liu Lilis Lebenseinstellung werden ließ. Vieles spricht dafür, dass es sich um einen „echten“ Konflikt gehandelt hat.

Der Konflikt, der zwischen den beiden ausgetragen wurde, ist vielleicht auch ein Konflikt, der etwas über die nationale Psyche Chinas zu Tage gefördert hat, das wie ein verdrängtes Kindheitstrauma die moderne chinesische Gesellschaft begleitet. Ich denke, dass Liu Lilis Auftreten, das für jüngere Menschen in China in keiner Weise ungewöhnlich ist, einen Bruch mit der herkömmlichen Einstellung der Chinesen zum westlichen Ausland darstellt. Es geht im Grunde aber auch um eine viel tiefer gehende Frage.

Chinas junge Generation lebt seit frühester Kindheit in engem Kontakt mit ausländischen, kulturellen Erzeugnissen und viele haben eine enge, emotionale Bindung zu nicht originär chinesischen Lebenseinstellungen entwickelt. Die spannende Frage, die sich mir stellt, lautet, ob diese Jugend in der Zukunft weiterhin dem Bedürfnis der älteren Generationen nachkommen wird, die Welt fast zwanghaft aus chinesischer Perspektive wahrzunehmen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich genug über China weiß, um mir die Rolle eines Psychiaters zuzutrauen, aber was soll’s. Ich nehme ja kein Geld dafür.

Die 24-jährige Liu Lili hat in ihrer Kindheit drei Jahre in Neuseeland verbracht und offensichtlich hat diese Zeit sie sehr geprägt. Sie stammt aus der Provinz Hubei und stellt sich zu Beginn der Sendung selbst vor. Sie hat an der Fremdsprachenhochschule in Beijing einen Bachelor in Englisch gemacht und sagt über sich selbst, dass es ihr positivster Charakterzug sei, die Dinge direkt beim Namen zu nennen.

Direktheit als positiver Charakterzug einer Chinesin? Wenn es eines gibt, das Chinesen, besonders die Frauen normalerweise als ungehobelt ablehnen, dann ist es doch die Geradlinigkeit und Direktheit. Was die Chinesen gern als “Hanxu (涵蓄)“ bezeichnen und womit viele auch mit Stolz die chinesische Kommunikationskultur charakterisieren, ist eine Indirektheit, die es gerade Ausländern sehr schwer macht, sich in der Gedankenwelt der Chinesen zurecht zu finden. Liu Lili will das nicht. Sie will direkt sein.

Ansonsten erscheint Liu Lili zunächst als normale junge Frau, die erzählt, dass sie manchmal auch auf den eher trashigen Look (臭美) steht, gerne Shakespeare liest, aber am allerliebsten in den Mikroblogs surft. Sie sieht sich selbst als „Workaholic“, nimmt das Leben jedoch auch nicht zu schwer.

Der Moderator der Show scheint jedoch von Anfang an keinen besonderen Gefallen an ihrem Auftreten zu finden. Als Liu Lili mit den Moderatoren in eine Art Streitgespräch gerät, ob sie nicht doch eher die Sonette von Shakespeare meint, die es ihr angetan haben und nicht die „Helden-Couplets“, von denen auch die Jury noch nie etwas gehört hat, fällt sie bei der Erklärung kurz ins Englische. Sie sagt „It’s kind of like…“.

Auch wenn man das Gefühl hat, dass Liu Lili ein wenig mit ihren Englischkenntnissen und ihrem Auslandsaufenthalt im fernen Neuseeland kokettiert, so wirkt es auf mich noch lange nicht so affektiert wie die Gespräche, die man oft in den Einkaufzonen der Großstädte mitverfolgen kann. Shanghais und Beijings „Upper-Nose-Class“ hat es sich doch schon lange zur Sitte gemacht, englische Worte und ausländische Urlaubsaufenthalte in Gespräche zu streuen wie Schokoladenstreusel auf den Cappuccino von Starbucks. Über dieses Phänomen lacht man sich im Internet seit längerem kaputt und keiner hat es besser auf den Punkt gebracht, als die landesweit bekannte Schwester „hold住“ , die grell geschminkt in einem bizarren Chinglisch von ihrem Shopping-Trip in Paris berichtet.

Auch wenn die chinesische Regierung im letzten Jahr beschlossen hat, das lateinische Alphabet aus Zeitungstexten herauszuhalten, sieht die sprachliche quasi-bilinguale Realität der Großstädte doch ganz anders aus. Das junge China jedenfalls liebt den Mix mit dem Ausland ebenso wie das klassischste aller chinesischen Club-Getränke: schottischen Whisky mit grünem Eistee.

Aber der Moderator Zhang Shaogang hält nichts von Mischungen. Er ist Chinese, und im Verlaufe des Gespräches sieht er es offenbar als eine Art Dienst am Vaterland, auch Liu Lili daran zu erinnern, dass Chinesen nicht aus ihrer Haut können. Denn als Liu Lili über ihre Zeit in Neuseeland berichtet und erzählt, dass sie nicht zu lange von China fortbleiben könne, weil in Neuseeland der Lebensrhythmus einfach zu langsam ist, wird der Moderator zum Oberlehrer des chinesischen Nationalstolzes.

Hier der Dialog:

Moderator (finster): „Warte mal, warum habe ich das Gefühl, dass es mir kalt den Rücken herunterläuft, wenn ich mich mit dir unterhalte? Wenn ich mit meinen Freunden spreche, frage ich sie wohl kaum ´Hallo, was hältst du eigentlich von China?` Das ist unser Land. Wenn wir in der Heimat sind, müssen wir dann noch darüber sprechen, als wäre es ein Eigenname (用大写来称呼) ?“

Liu Lili: „Wenn Sie über China sprechen und das Wort ´Heimatland` benutzen, ist das doch auch ein Eigenname.“ (Das Publikum raunt)

Moderator (sauer): „Ich sage: ´Wir hier`“

Liu Lili: „Ich bin eigentlich davon ausgegangen, dass man sich hier etwas gewählter ausdrücken sollte. Darum habe ich dieses rhetorische Mittel gewählt. Ich sieze sie ja schließlich auch.“

Moderator: „So, wie du mit mir sprichst, lässt es mich wieder kalt erschaudern. Zuerst sei bitte nicht so verkrampft und als nächstes: Sprich einfach normal, OK?“

Im weiteren Verlauf des Gespräches weist der Moderator Liu Lili noch mehrmals zurecht und kritisiert ihre Aggressivität. Liu Lili hingegen fühlt sich von den Fragen des Moderators und auch von der Jury angegriffen und unter Druck gesetzt. In einer Szene wird sie aufgefordert, sich doch auch mal von ihrer natürlichen Seite zu zeigen und zu lächeln. Als sie das dann tut, ist sich der Moderator nicht zu schade, ihr Lächeln als „gruselig“ zu beschreiben.

Auch in keiner der weiteren Diskussionen hält Liu Lili es für angebracht, auf die Kritik reuig und demütig zu reagieren, sondern stuft die Kritik ihrerseits als unangemessen ein. Und ein Aspekt fällt auf: Die Kritik der Juroren bezieht sich in keinem der Fälle auf ihre Fähigkeiten. Stattdessen sind sie der Auffassung, Liu Lili habe ein Problem mit ihrer Einstellung. Sie sehen es als Affront an, dass Liu Lili dieses Vorstellungsgespräch nutzt, ihre Schlagfertigkeit und ihre Wehrhaftigkeit unter Beweis zu stellen. Liu Lili verlässt die Show, nachdem das einstimmige Votum der Jury entschieden hat, dass sie als Mitarbeiterin absolut ungeeignet ist. Ein Juror ergreift kurz das Wort für sie und erklärt die aktuelle Missstimmung mit kulturellen Unterschieden, die er Liu Lilis Auslandserfahrung zuschreibt. Aber am Ende knipst auch er das Licht aus.

Wie komme ich nun darauf, diesen Zwist so weit auszulegen, dahinter mehr als nur die Animositäten eines selbstverliebten Moderators und einer mit der Herde blökenden Schafs-Jury zu sehen? Nun, der Satz, der den Moderator so sehr aufgeregt hat, dass er seiner Moderatorenrolle in keiner Weise mehr gerecht wurde, war Liu Lilis politisch inkorrekter Satz, der nicht mit „Wir Chinesen…“ begann. Sattdessen beschreibt Liu Lili China mit einer gewissen Distanz, die fast schon einen Tabubruch in der chinesischen Gesellschaft darstellt.

Chinesen sprechen über ihre Landsleute so gut wie nie in der dritten Person. Die Deutschen können das sehr gut (wie dieser Satz zweifelsfrei belegt) und tun sich oft eher etwas schwer, sich als Kollektiv zu verstehen; in China ist es ein Ding der Unmöglichkeit. Für diesen Kollektivierungsdruck, der die nationale Identität Chinas begleitet, finden sich im Alltagsleben und in politischen Entwicklungen in China viele Anzeichen.

Ich denke, dass die Situation ein wenig vergleichbar ist mit der Situation in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg. Die Generation meines Großvaters weigerte sich noch vollkommen, die Lebens- Arbeits- und Essgewohnheiten, die plötzlich nach Deutschland schwappten, zu akzeptieren. Man konstruierte ein Deutschlandbild, das an der Realität der jungen Menschen, die mit Coca Cola und dem „American Way of Life“ als Teil ihres Lebens groß geworden sind, vollkommen vorbei lief. Dieses Bild hielt sich nicht sehr lange. Wenn die deutsche Kultur nicht in der Lage gewesen wäre, auch Elvis, Marylin Monroe und die Beatles in ihren Kanon aufzunehmen, dann hätte sich die Jugend von ihr abgewandt.

Ich behaupte keinesfalls, dass die Geschichte von Liu Lili nur unter diesem Aspekt gedeutet werden kann, aber sowohl in ihrer spontanen und direkten Art, ihrer Biographie als auch in ihrer Sprache – bei dem Namen Shakespeare geht ihr das Englische Original deutliche flüssiger von den Lippen, als die korrekt sinisierte Lehnübersetzung Shashibiya (莎士比亚) – stellt Liu Lili ihre Identifizierung mit dem Ausland unter Beweis, die vielen Chinesen suspekt ist.

Die aktuelle Kulturpolitik Chinas, die immer stärker betont, den chinesischen Charakter der Kultur vor ausländischen Einflüssen zu bewahren, spricht eine ähnliche Sprache. Aber – und das ist denke ich der Kern dieses Konfliktes – die Abschottungsbemühungen und die Besinnung auf das genuin Chinesische, deuten wohl eher auf ein unterbewusstes Wissen um den Verlust der Anziehungskraft des chinesischen Kollektivwesens traditioneller Prägung hin. Kulturelle und gesellschaftliche Veränderungen lassen sich nur sehr schwer durch Restriktionen beeinflussen. Eventuell ist es möglich, durch Tabuisierungen von Lebens- und Denkweisen für eine Weile zu verhindern, dass eine Strömung zu einem Strom wird. Auf lange Sicht aber sind sowohl Politik als auch die versammelten Traditionsbewahrer recht machtlos, gesellschaftliche Veränderungen und kulturelle Durchmischungen zu verhindern, insbesondere wenn der Gral, den sie hüten, seinen Glanz verloren hat.

Welcher chinesische Jugendliche wird denn davon abzuhalten sein, über die Frechheiten, die direkte Art des Humors und die Dreistigkeit der Comic-Figuren im „Kungfu-Panda“ zu lachen, wenn die chinesische Variante ein uninspirierter und schlecht animierter Kungfu-Hase mit öden Gags ist. Das chinesische Wir-Gefühl wird nur dann in der Globalisierung seinen Platz finden können, wenn es flexibler wird und fremde Einflüsse auch auf kultureller Ebene als etwas Gutes anerkennt.

Falls irgendeine Knalltüte auf die lustige Idee kommen sollte, diesen Text ins Chinesische zu übersetzen, um mir eine Horde der immer noch zahlreichen, nationalstolzen Internetkaputtnicks auf den Hals zu hetzen, hier noch mal Klartext: Ich will hier keinesfalls der Überlegenheit der westlichen Kultur das Wort reden. Im Gegenteil – ich bin eher der Meinung, dass der gesellschaftliche Eskapismus, die Verabsolutierung der Ironie und ein falsch verstandener Liberalismus große Teile der westlichen Populärkultur zu einer von Zynikern bewohnten, intellektuellen Wüste verwandelt hat, in der selbst bei Regen oft nur noch Unkraut gedeiht. Die Chinesen sollten einen Teufel tun, so etwas Unsinniges wie beispielsweise das Privatfernsehen westlicher Prägung zu vermissen, denn Trash braucht keine Öffentlichkeitsarbeit.

Aber: Gute Dinge sind gut, egal aus welchem Land sie kommen. Schlechte Dinge sind schlecht, egal wer sie sich ausgedacht hat. Dinge vermischen sich und mit ein wenig Abstand, mit einer gesunden Distanz zu seinem Land sieht man die Dinge besser. Wenn man sich nicht in jeder Hinsicht als Chinese fühlt, dann ist das normal und es wird Zeit, die Idee von China aus der panikartigen Umklammerung seiner konservativsten Kräfte zu befreien. Das gilt im Grunde ja für jede Kultur. Auch bei der deutschen Debatte um die Leitkultur und um das angebliche Multi-Kulti-Desaster wird gerne übersehen, dass der einzige Weg, eine Kultur zu fördern über dessen Weiterentwicklung, Öffnung und Anpassung an die komplexe Wirklichkeit geht. Kulturbewahrung ist immer auch ein aktiver Transferprozess und bedarf der Aktualisierung und einer bewussten Integration von äußeren Einflüssen in das vorhandene Werteumfeld.

Ich habe inzwischen fast zwanzig Prozent meines Lebens in China verbracht und auch wenn ich zu vielem in China keinen emotionalen Zugang entwickle, fühle mich irgendwie zu zwanzig Prozent als Chinese. Daran ändert auch nicht, dass kein Chinese einem Deutschen, der nicht in China geboren ist und der somit kein „Ahne des Drachen“ ist, jemals gestatten würde zu sagen: „Wir Chinesen…“.

Rajvinder Singh hat geschrieben, dass jeder Mensch eine Selbstkultur hat, die uns davor bewahrt, alte Muster bis in alle Ewigkeit fortzuschreiben. Menschen entwickeln aus interkulturellen Erfahrungen, denen wir alle ausgesetzt sind, eine eigene Kultur, die über die kollektive Identität hinausgeht. Nur wenn eine Gesellschaft in der Lage ist, die zunehmend globalisierte Selbstkultur ihrer Menschen in den langen Strom der Geschichte zu integrieren, werden die Menschen auch in Zukunft etwas haben, das sie für bewahrenswert halten.

Ist es nicht seltsam, dass China, eine Nation, die sich mit ihrer ganzen Kraft der Entwicklung und der Idee der besseren Zukunft verschrieben hat, ihre nationale Identität vor allem auf der langen Geschichte und Tradition aufbaut? Manchmal kommt es mir so vor, als laufe China mit großen Schritten in Richtung Zukunft. Weil aber niemand sehen möchte, wie diese Zukunft wirklich aussieht – wie die neue Zeit immer mehr auch den Menschen verändert – hat man sich umgewandt, den Blick in die Vergangenheit gerichtet und läuft einfach rückwärts mit großen Schritten weiter.

Manchmal wird diese Verdrängung sichtbar. Wenn zum Beispiel ein chinesischer Moderator nicht in der Lage ist, auf selbstbewusstes und unabhängiges Auftreten mit Souveränität und sachlicher Kritik zu antworten und stattdessen eine vorgeblich falsche Einstellung zum Anlass nimmt, sich selbst zu erhöhen, wird er es kaum schaffen, dieses „Wir-Gefühl“ zu fördern, das er so vehement einfordert.

Das Ende der Geschichte: Liu Lili hat inzwischen ein Job-Angebot einer großen chinesischen Zeitschrift, deren Verantwortliche ihre Eigenständigkeit zu schätzen wissen.

Der Mensch ist keine Billardkugel – Kants Begriff der Freiheit in den Worten von Michael Sandel

<Sven Hänke>
In dieser Vorlesung erklärt Michael Sandel, warum wir eine kategoriale Verpflichtung haben, die Würde unserer Mitmenschen zu achten und nicht als Mittel zum Zweck ansehen dürfen. Kant geht es um die Prinzipien der Moral und die Grundlagen der Freiheit. Wie ist Freiheit überhaupt möglich?

Für Kant sind alle Menschen Personen. Sie haben somit Würde. Menschen sind rationale Wesen, die zur Vernunft fähig sind – autonome Wesen, die eigenständig entscheiden können.

Ein wichtiger Begriff, der in der chinesischen Kultur sicher eine deutlich geringere Rolle spielt als im westlichen Denken, ist der Begriff der Freiheit: Wirkliche Freiheit ist ein hohes Gut und allein dem Menschen vorbehalten. Wenn wir wie Tiere nur nach der Befriedigung unserer Triebe und zur Vermeidung von Schmerzen handeln, dann handeln wir nicht frei, sondern nach den Bedürfnissen der Natur. Freiheit ist in diesem Sinne immer autonomes Handeln – das Handeln nach den Regeln, die ich mir selbst gebe. Diese von reinen kausalen Zusammenhängen befreite Möglichkeit, autonome Entscheidungen zu treffen, unterscheidet den Menschen von Dingen wie z.B. Billardkugeln.

Moral definiert sich daher auch nicht nach den Konsequenzen des Handelns, sondern nach den zu Grunde liegenden Motiven. Nach Kant geschehen moralische Handlungen nicht aus Eigeninteresse, sondern sind immer moralisch in sich selbst. Aber woher wissen wir denn, was moralisch ist? Kant verweist bei dieser Frage unter anderem auf den kategorischen Imperativ. Der dient aber nur als Hilfsmittel, denn die Prinzipien der Moral sind in jedem Menschen vorhanden: „Der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir.“

Weiter unten noch ein Youtube-Video, in dem versucht wird, Kants Prizipien an der Praxis zu überprüfen. Der Fall in diesem Beitrag ist aus der jüngeren deutschen Geschichte – die Entführung und Ermordung des Jungen Jakob Metzler. Dabei geht es um die Frage, ob Folter moralisch gerechtfertigt werden kann, wenn dadurch größeres Unheil verhindert wird. Die Antwort der deutschen Gerichte war eindeutig: Nein. Auch wenn das Resultat der Tod eines Unschuldigen ist, darf Folter nicht juristisch legitimisiert werden. In den USA sieht die Diskussion deutlich anders aus. Sicher hat Kant nicht geahnt, dass eines Tages ein US-amerikanischer Präsident glaubt, staatlich legitimisierte Folter rechtfertigen zu müssen und in seinen Memoiren behauptet, eine Foltermethode wie das sog. „Waterboarding“ wäre „damn right“. Er hätte den Menschen in dem Land, das so stolz auf seine freiheitliche Grundordnung ist, sicher zugerufen, dass ihr Freiheitsbegriff aber sowas von „damn wrong“ ist, wenn sie nicht erkennen, dass physische und auch psychische Folter bedingungslos abzulehnen ist.

Ich bin übrigens der Meinung, dass damals sowohl der verantwortliche Komissar Daschner als auch das Gericht richtig entschieden hat. Daschners Folterandrohung war ungesetzlich und muss bestraft werden. Die Würde des Menschen – auch eines widerlichen Mörders – ist unantastbar. Das heißt für mich jedoch nicht unbedingt, dass er nicht, auf der Grundlage der moralischen Gesetze in ihm, zu einem Ergebnis kommen kann, das ihn zwingt, in sehr eingeschränktem Maße unmoralisch zu handeln (Folterandrohung ist etwas anderes als Folter) und anschließend die entsprechenden Konsequenzen auf sich zu nehmen.

 

Alle zwölf Vorlesungen zum Thema Gerechtigkeit von Michael Sanders finden sich hier:

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Nachtrag: Könnte es sein, dass ich mit meiner Zustimmung zu Daschners Verhalten nicht genau das mache, was Bush getan hat? Ist es psychische Folter, wenn ich jemandem androhe, dass er „unerträgliche Schmerzen erleiden wird“, wenn er nicht kooperiert? Ach ja, das „Ticking Time Bomb Scenario„, das immer wieder auch in US-Fernsehserien wie „24“ oder „Lost“ zur Rechtfertigung von drastischen Maßnahmen herangezogen wird.

Angewandte Interkulturelle Kommunikation: Ching Chong – Asiaten in der Bibliothek [update]

 

Liebe Freunde der Angewandten Interkulturellen Kommunikation (AIKK),

das folgende Beispiel bedarf eigentlich kaum einer Erklärung. Naja, vielleicht doch. Also zunächst einmal kann man es schon verstehen, dass Alexandra Wallace nicht gerade darüber erfreut ist, dass die Asiaten in ihrer Universitätsbibliothek gerne mal mit der halben Familie in Übersee telefonieren, ohne auf die anwesenden Kommilitonen Rücksicht zu nehmen. Wer in China im Theater, im Kino oder eben in der Bibliothek war und währenddessen alle aktuellen Klingeltöne von den stolzen Handybenutzern vorgespielt bekommen hat, der weiß, was ich meine. Also liebe Chinesen, schaltet an den genannten Orten lieber Euer Handy aus! Denn sonst kommt es, wie man es in der Fachsprache gerne nennt, zu einem „Critical Incident“. Aber sehen wir zunächst Frau Wallace (für die Nicht-Übersee-Deutschen hier der Link zu Youtube):

Die Art und Weise, wie Alexandra Wallace diese Kritik im Internet veröffentlicht hat, ist jedoch ziemlich fragwürdig – übertrieben und einseitig. Aber hören wir uns an, wie die asiatische Community in den USA auf die harschen Worte reagiert hat. Wer austeilt, muss auch einstecken können. Johnny Wong macht das sehr originell, denke ich (Youtube hier):

Oder der folgende, sehr explizite „Rant“ (Youtube hier), der meiner Meinung nach weder in der Sprache noch argumentativ mit dem Song „Asians in the Library“  von Johnny Wong mithalten kann, aber trotzdessen bereits über 4,5 Millionen mal gesehen wurde:

„Cultural Clashes“ haben meist auch etwas Gutes. In diesem Fall: Die Asiaten, die es vorher noch nicht gewusst haben, lernen daraus, dass man sich durch Telefonate in der Bibliothek den ungeteilten Hass amerikanischer (und auch deutscher) Leseratten zuziehen kann. Und wir im Westen? Kritik ja. Aber immer schön nett und sachlich bleiben, sonst schreibt noch jemand böse Lieder über uns und gibt uns schlimme Namen. Und das wollen wir doch irgendwie auch nicht.

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Ich bin gerade darauf aufmerksam geworden, dass Alexandra Wallace nach diesem Vorfall, der schon eine Weile zurückliegt, Morddrohungen erhielt. Sie hat ihr Studium an der UCLA abgebrochen und sich für ihre unangemessene Kritik entschuldigt. Das ist bedauerlich! Sie hat zwar ziemlichen Unsinn gequatscht und es verdient, dass man sich eine Weile über sie lustig macht. Alles andere liegt für mich jedoch klar außerhalb einer angemessenen Reaktion. Daher finde ich auch nicht besonders witzig, was der Kommentator im dritten Video sagt „attack her in your own name“. Denn natürlich können auch Menschen, die sich für die vermeintlich gute Sache (hier die Ablehnung von plakativen Vorurteilen) einsetzen, weit über das Ziel hinausschießen.

Das Mädchen aus Foshan und die Hoffnung

Es gibt Dinge, Bilder, Nachrichten, die sind ein Zeichen, das man nicht übersehen kann. Dieses Zeichen ist grausam. Ich hoffe mit den Eltern, dass Yueyue, das kleine Mädchen aus Foshan wieder gesund wird.

Die chinesische Gesellschaft hat ein großes Problem. Und dieses Problem ist die Rechtsunsicherheit. Wenn ein 2-jähriges Kind von einem Lastwagen überfahren wird, 18 Menschen vorbeigehen und niemand hilft, bis es schließlich ein zweites mal überrollt wird, dann ist das eine unmenschliche Handlung, die nur sehr schwer rationell erklärbar ist. Warum sehen so viele Menschen in China einfach weg? Sind sie kaltherzig?

Vielleicht. Vielleicht haben sie aber auch eine tiefsitzende Angst, die sie daran hindert, zu helfen. Viele Chinesen haben Angst sich einzumischen, weil das Rechtssystem in China nicht konsequent genug auf der Unschuldsvermutung beruht. Sie glauben, ein verletztes Kind könnte einem zur Last gelegt werden, wenn man in ein kompliziertes Geschehen wie einen Unfall involviert ist. Laut chinasmack.com wurde 2006 in Nanjing ein Mann verurteilt, der einer verletzten Frau geholfen hat. Ob diese Geschichte sich wirklich so zugetragen hat, ist kaum nachvollziehbar. Aber sie spiegelt doch mit Sicherheit die Erfahrungen und Ängste der Chinesen wider.

Das Ignorieren des Leides hat nichts mit kulturellen Eigenheiten zu tun, sondern mit einem durch langjährige Erfahrung antrainierten Misstrauen gegenüber der Objektivität von Entscheidungsinstanzen. Solange es in China zu wenige gut ausgebildete und unabhängige Richter gibt, die nur dann jemanden verurteilen, wenn dessen Schuld zweifelsfrei bewiesen ist, werden vielen Menschen sich fürchten. Und wer die deutsche Geschichte kennt, der weiß, dass es mit Sicherheit kein kulturelles Phänomen ist, die Augen vor dem Schrecken und Leid zu verschließen.

Die Nutzer von Weibo verschließen ihre Augen nicht. Sie sehen sich geschockt und betroffen die Bilder an, die Sina auf seinem offiziellen Video-Tweet zeigt (Warnung: dem Link folgt das schockierende Video), und kommentieren zu Tausenden das schreckliche Ereignis.