Journalismus DIY – High Tech, Low Life

Es soll ja Leute geben, die mit der herkömmlichen Art und Weise, wie Medienerzeugnisse entstehen, nicht immer zufrieden sind. Oft regen sich diese Leute dann darüber auf, dass die meisten Zeitungs- und Fernsehberichte durch staatliche Zensur so stark „harmonisiert“ sind, dass eine kritische Beschäftigung mit den gesellschaftlich relevanten Themen sehr klare Grenzen hat (z.B. in China). Oder aber sie regen sich darüber auf, dass in den Medien unter anderem durch wirtschaftliche Konzentrationsprozesse und Profitstreben viele Themen so stark verkürzt und einseitig dargestellt werden, dass die Aufklärung stets meilenweit hinter der Aufregung zurückbleibt (z.B. SpOnanien/Deutschland).

Immer mehr Menschen überwinden inzwischen ihren Ärger und werden aktiv.  Einige versuchen es mit „Bloggerblumen gegen Medienpanzer“, andere tweeten sich die Finger wund. Noch steckt publizistisches Engagement, das weder staatlich finanziert ist, noch von Auflagenzahlen und Einschaltquoten abhängig ist, in den Kinderschuhen. Aber es gibt immer mehr Ansätze, die journalistische Arbeit wieder zurück zu ihren Wurzeln bringt und deren Akteure sich erfolgreich aus dem Korsett der herkömmlichen Medienlandschaft befreien. Ein Weg, auch größere Projekte wie Filme und Reportagen zu finanzieren, ist das sogenannte „Crowd Funding“. Auf Seiten wie Kickstarter.com stellt man sein Projekt vor und legt dar, wofür man das gesammelte Geld benötigt.

Derzeit läuft bei Kickstarter eine Mikro-Funding-Aktion für eine Dokumentation mit dem Titel „High Tech – Low Life“. Das Projekt, das ich für sehr unterstützenswert halte, sammelt Geld für die Post-Produktions-Kosten einer Dokumentation über „Zola“ und „Tiger“, zwei chinesische Bürgerjournalisten. Die Aktion läuft noch 40 Stunden und derzeit fehlen zusätzliche 2.000 $, damit die notwendige Gesamtsumme von 23.000 $ erreicht ist.

Hier das Video, in dem das Projekt vorgestellt wird:

Chinabildblog: In die Luft gegriffen – Die Berichterstattung über die Brüste von Kate Winslet

Der Frühling ist da und im April geht ja bekanntlich einiges drunter und drüber. Die Hormone spielen verrückt und manch ein chinesischer Mann kann selbst bei dem eher mäßig erotischen Hollywood-Schinken „Titanic“ seine Gefühle nicht mehr im Zaum halten. Denn wenn man einigen Medien glauben darf, wurde die Szene, in der  Leonardo Di Caprio die nackte Kate Winslet malt und man ihren entblößten Oberkörper zu sehen bekommt, von der chinesischen Medienbehörde „China’s State Administration of Radio, Film and Television“ (SARFT) mit dieser Begründung zensiert. So schreibt es zumindest „Welt Online“:

Es sollte mit der Zensur aber nicht nur öffentliches Ärgernis vermieden werden, sondern auch ein anderes mögliches Phänomen. Die chinesischen Sittenwächter hatten befürchtet, die Zuschauer könnten im Kinosaal in die Luft greifen, um die Brüste von Winslet berühren zu wollen. Damit würde der Filmgenuss der anderen Kinogänger beeinträchtigt.

Dummerweise ist diese Begründung reiner Humbug und geht auf einen 5-Tage alten Blogeintrag zurück, der diese satirisch gemeinte Begründung offensichtlich seinerseits aus dem chinesischen Internet übernommen hat. Hier ist der vom Ministry of Tofu verlinkte Kommentar im chinesischen Original.

更有网友调侃:估计广电总局是考虑到3D电影的特殊性,担心播放此片段时观众会伸手去摸,打到前排观众的头,造成纠纷,所以才做出删除的决定.

Einige User lästerten: Ich vermute, die Filmregulierungsbehörde hat sich über die Besonderheiten der 3D-Technik Gedanken gemacht und befürchtet nun, dass die Zuschauer ihre Hände ausstrecken werden und die Köpfe der Leute vor ihnen streicheln werden. Das gibt natürlich Ärger und daher die Entscheidung, die Szene herauszuschneiden.

Ich bin ja schon seit Langem der Meinung, dass viele Journalisten sich nur zu gern aktiv am sozial-medialen „Stille-Post-Spielen“ beteiligen und wie „Welt Online“ meist nicht eimal ihre Quellen angeben. Damit befindet sich das deutsche „Qualitätsblatt“ allerdings in guter Gesellschaft. Die gefälschte Begründung der Zensur-Entscheidung, die meiner bescheidenen Meinung nach wohl eher auf den Fakt zurückzuführen ist, dass in chinesischen Kinos aufgrund der derzeitigen Gesetzeslage niemals weibliche Oberweiten zu sehen sind, kam äußerst gut bei den Medien an.

Viele Medien schrieben diese Geschichte voneinander ab, ohne sich mit lästiger Recherche-Arbeit aufzuhalten. Hier nur einige exemplarisch:

Im Vergleich zu den US-amerikanischen Seiten sind die deutschen Medien allerdings etwas im Verzug. Dort wurde bereits vor einigen Tagen darüber berichtet. Verwunderlich ist das nicht, denn von denen schreibt man seine China-Nachrichten offensichtlich ab:

Die „Huffington Post“, die auch darüber berichtete, hat den Unfug inzwischen korrigiert und als Satire ausgewiesen. Es wäre zu hoffen, dass man das in den deutschen Medien dann auch noch kopiert. Und vielleicht ändert dann ja auch James Cameron, der Regisseur von „Titanic“, noch seine Meinung.

They were affraid, that Chinese men would actually be reaching out towards the screen. This is true. You can’t make this up.
Sie hatten Angst, dass die chinesischen Männer ihre Hände zum Bildschirm hin ausstrecken würden. Das ist die Wahrheit. Das kann man sich nicht ausdenken.

Doch James. Man kann.

Zensur Spezial: Chinas Versuch, die Online-Gerüchte zu stoppen, ist so schwammig wie der “Krieg gegen den Terror”

Der folgende Text ist eine übersetzte und gekürzte Fassung eines Artikels von Steven Millward, der so freundlich war, einer Veröffentlichung hier auf Doppelpod zuzustimmen (Übersetzung: Sven Hänke). Der Originaltext „China’s Attempt to Banish Online Rumors is as Vague as the War On Terror“ erschien heute auf techinasia.com.

Die “Internet Society of China’ (ISC) hat heute ein Papier mit dem Titel “Vorschläge zur Verhinderung von Internet-Gerüchten” (chinesische Fasung hier) herausgegeben, das durch Aufklärungs- bzw. Erziehungsmaßnahmen und strengere Regularien die Verbreitung von Tratsch und Gerüchten im streng kontrollierten chinesischen Internet verhindern will. Nur neun Tage nachdem die Behörden die beiden größten chinesischen Mirkoblogs bestraft haben, weil diese nicht in der Lage waren, politische Gerüchte zu unterbinden, erinnern diese Aktionen an den berüchtigten “Krieg gegen den Terror”, in dem die Bush-Administration versucht hat, alle Schurken zu bekämpfen, die ihr schaden könnten.

Das Problem ist nur, dass sowohl Gerüchte als auch der Terrorismus abstrakte Konzepte sind, und man schwerlich einen Krieg gegen ein Konzept gewinnen kann. Ebenso wie ein ungerechter Krieg eine neue Generation von Widersachern hervorbringt, die sich zu extremen Handlungen gedrängt fühlen, wird auch diese neue Welle des Durchgreifens, der Regulationen und der Zensur zu noch weniger Transparenz in der chinesischen Politik und im Internet führen und die Netizens zur Produktion von noch mehr Gerüchten nötigen. Chinesische Mikroblogs wie Sina und Tencent haben bereits eine hohe Anzahl an Mitarbeitern, die mit der Selbst-Zensur, der Sperrung von Nutzern und der Löschung von Posts beauftragt sind. Sie löschen Nachrichten mit Schlüsselwörtern, die die “Soziale Stabilität” bedrohen. Die neue Propaganda-Parole “Soziale Stabilität” ist mehrmals in dem ISC-Papier genannt. Hinzu kommt die neue Klarnamen-Richtlinie für die Mikroblogs, die die Gerüchte eindämmen soll. Denn dadurch sollen sich die Nutzer für den Inhalt der Tweets verantwortlich fühlen – oder eingeschüchtert. Aber Sina und Tencent werden überflutet mit Posts und die häufigste Strafe ist derzeit lediglich die Löschung der entsprechenden Nachrichten. Die Nutzer der Mikroblogs wissen das und verbreiten daher weiterhin Gerüchte – auch politische und trotzen damit der finsternen Dunkelheit der fehlenden Transparenz, die sowohl bei der Regierung als auch den On- und Offline-Medien vorherrscht, welche sich entweder der Regulierung unterwerfen, oder sich in die Gefahr begeben, ihre Geschäftsgrundlage zu verlieren.

Und so steht nun also ein “Krieg gegen die Gerüchte” bevor, der sich durch eine weitgehendere Überwachung von normalen Bürgern auszeichnet und jedermann pauschal unter Verdacht gestellt wird. Auch das erinnert an den “Krieg gegen den Terror”, bei dem die USA und Großbritannien ihren Polizeiapparat aufrüsteten. Im Westen setzte man immer fortgeschrittenere Technologien, wie die Gesichtserkennung und den Ganzkörper-Scanner ein. China hingegen hat die Medien bereits weitgehend unter Kontrolle. Man muss diese also eigentlich nur auf die Mikroblogs ausdehnen. Das Problem ist nur, dass es kaum noch etwas gibt, was noch unternommen werden kann. Den jüngsten Gerüchten über einen Staatsstreich wurde mit der bereits erwähnten Kommentarsperre und der Verhaftung von sechs Personen begegnet, die aktiv an der Verbreitung der Gerüchte beteiligt waren. Was soll man denn noch tun? Hunderte einsperren? Eine eingebaute Verzögerung der Verbreitung der Nachrichten in den Mikroblogs implementieren? Fordern, dass die Nutzer ihre Tweets per Fax an das lokale Polizei-Büro schicken? OK, der letzte Vorschlag war nicht ernst gemeint. Aber im Ernst: Wie soll man Fortschritte bei der Bekämpfung von Online-Gerüchten machen, wenn die chinesischen Internetnutzer keinen Lichtstrahl am Horizont sehen in Bezug auf die Authoritäten selbst?

Nachtrag: Der Gott des angebissenen Apfels

Die Nachricht schlug in China ein wie eine Bombe. Gott ist tot. Als Steve Jobs starb, da waren viele Chinesen verwirrt. Sicher, man hatte von seiner Krankheit gehört und man hatte wahrgenommen, dass er bei den Produktpräsentationen von Mal zu Mal gebrechlicher wirkte. Aber tot? Steve Jobs war also wirklich sterblich?

Steve Jobs wurde in China in einem Maße vergöttert, das noch weit über die kultische Verehrung hinausgeht, die man weltweit vor allem in den sogenannten Kreativberufen antrifft. Apple ist mehr als nur eine Firma, die Endgeräte ohne USB-Anschluss baut. Apple ist eine weltumspannende Religion. Ganz sicher. Und wer einmal dieses Leuchten in den Augen eines Grafikdesigners gesehen hat, wenn er sein neues 4S aus der medizinisch-neutral-weißen Verpackung herausnimmt und zum ersten Mal die Finger zärtlich über das Display gleiten lässt, der weiß, dass in Palo Alto keine Computer und Handys entworfen werden, sondern Visionen eines besseren Lebens, die aus den sphärischen Dimensionen der Cloud zu den Menschen gelangen.

Bisher hat sich China durch die Jahrtausende eigentlich gegenüber jeder Form des Glaubens an spirituelle Welten erfolgreich verschlossen. Oder aber die Religion wurde – wie der Buddhismus – so stark an die Gegebenheiten in China angepasst, dass von ihr nicht viel übrig blieb. Auch der Ausschließlichkeitsanspruch von Religionen wurde in China nie so stark betont wie in anderen Ländern. In den Tempeln sieht man auch heute noch Ahnenverehrung, Konfuzianismus und Buddhismus in einer bunten Mischung nebeneinander. Wie beim Kungfu existieren unzählige Schulen. Chinesen sehen meist keinen kategorischen Unterschied zwischen Religionen und warmen Wollsocken. Je mehr man davon hat, desto besser. Und nur weil man die eine Lehre bevorzugt, besteht für viele Chinesen noch lange kein Anlass, nicht auch die andere zu praktizieren. Ich habe einmal einer Studentin geholfen, sich für ein theologisches Promotionsstudium in Deutschland zu bewerben. In der Ausschreibung stand, dass die Zugehörigkeit zu einer christlichen Religion für ein Stipendium vorausgesetzt wird. Als ich sagte, dass sie sich daher leider nicht auf das Stipendium bewerben könne, sagte sie: „Warum? Ich kann doch vorher Christin werden? Oder gibt eine Aufnahmeprüfung?“

Das nun aber gerade der ewig rollbekragte Steve Jobs nach seinem Tod zum Messias der Chinesen geworden ist und in den Großstädten auf zahllosen Plakaten sein grüblerisches Lächeln verbreitet, ist ein wenig inkonsequent.

Schließlich muss man sich beim Thema Tibet von den meisten Chinesen anhören, dass die Gelbmützensekte um den Dalai Lama einst ein religiöses Sklavensystem geschaffen hat und es daher doch vollkommen hirnlos ist, diesen Vertreter einer Ausbeuterideologie zu verehren. Wenn Chinesen in Deutschland in der Exotik-Ecke des Buchladens den tibetischen Religionsführer auf den unzähligen Buchtiteln lächeln sehen, dann wundern sie sich über die Begeisterung, die diesem Mann entgegengebracht wird.

Nun sind zwar nicht alle Geschichten über die Zustände in den chinesischen Apple-Zulieferbetrieben auch nach dem Fakten-Check einer Spiegelgeschichte würdig. Aber unbestreitbar entstehen die paradiesischen Gewinnmargen der Firma mit dem angebissenen Apfel auch durch eine Art Sklavensystem. Apple floriert vor allem deswegen, weil chinesische Arbeitskräfte für einen Hungerlohn die Drecksarbeit machen. Nicht, dass die anderen globalen Firmen, die in China produzieren auch nur einen Deut besser wären. Nein, auch Samsung, Nokia und Siemens und die meisten anderen Konzerne, die in China fertigen lassen, sind auf dem Prinzip der Ausbeutung chinesischer Arbeitskräfte durch Niedriglöhne aufgebaut. Apple hat das Prinzip nur perfektioniert.

Aber warum lieben die Chinesen denn den Mann und seine Firma, für dessen Aktienkurssteigerung zahlreiche ihrer Landsleute in den Werkshallen schuften? Ich kann es mir eigentlich nur durch das Stockholm-Syndrom erklären. Oder durch die Tatsache, dass Apple die besten und schicksten Endgeräte ohne USB-Anschluss baut.

Die Armut, die bitterkalte Armut

Es war gegen zwei Uhr an einem Donnerstag in einer eisigen Winternacht und ich hatte Hunger. Nicht immer verzeiht mir mein Magen diese nächtlichen Ausflüge zu den chinesischen Garküchen, aber diesmal musste es Malatang sein. Malatang und Sichuan-Pfeffer machen süchtig. Ich zog meine dickste Winterjacke an und ging zu Fuß von unserer Wohnung nach Sanlitun; erst durch die ungewohnt menschenleeren Hutong-Gassen, dann durch die verspiegelten Hochhausschluchten.

Gucci, Apple, Starbucks

Sanlitun steht wie kaum ein anderer Ort für den manchmal so herzlosen und hektischen Auftstieg des neuen Chinas. Sanlitun, das ist das „Village“, ein modernistischer Einkaufskomplex, der die Besucher mit dem größten Adidas-Store der Welt begrüßt und in dem sich Gucci, Apple, Starbucks und all die anderen Markführer ihre neue Konsumentenschicht heranzüchten. Sanlitun ist auch das „Soho“, eine Stadt in der Stadt, ein überdimensionierter Wohn- und Arbeitskomplex, der mit geschwungenen Milchglasfassaden über dem Gelände thront wie ein gigantisches Sound-Essemble von Bang und Olufsen. Sanlitun ist die Kneipenstraße mit den Touristenschuppen und den lustlosen Karaokebands, den Clubs mit ihrer grellbunten Technowelt und den verrauchten Bars.

In den heißen Sommernächten ist die Kneipenstraße vollgestopft mit Touristen, Expats und Gaststudenten, die sich verschwitzt und betrunken von Club zu Club hangeln. Die Fremden aus dem Westen und ihre vollen Geldbeutel haben über die Jahre eine ganze Reihe von Gangstern, Prostituierten und Bettlern angelockt, die den Mark untereinander aufteilen. An den dunklen Ecken stehen die Drogendealer schwarzafrikanischer Herkunft, die Marihuana verkaufen. Die etwas abseits gelegenen Straßen sind gesäumt von jungen Frauen, die einsame ausländische Männer mit den immer gleichen Worten „Massaji“ und „Ladybar“ für ihre Dienste gewinnen wollen. Etwas weiter westlich, am Arbeiterstadion, stehen die schmutzigen Bettlerinnen mit ihren Kindern auf dem Arm und bitten die betrunkenen Austauschstudenten mit ihren Plastikbechern in der Hand um etwas Kleingeld.

Tiefgefrorenes Sandpapier

In der Hochsaison wimmelt es in der Kneipenstraße von chinesischen Kleinunternehmern. Direkt im Village sieht man sie nicht, da werden sie von den Ladenbesitzern und den Ordnungsbeamten vertrieben; nur die Rikschafahrer, die vor dem Adidas-Store zwischen den Taxis und den neuesten Modellen der Oberklasse hindurchmanövrieren, werden toleriert. In der Kneipenstraße jedoch stehen die Verkäufer mit ihren Ständen. Sie verkaufen gefälschte Marken-Zigaretten, Getränke, Blumen, chinesische Musikinstrumente und Plastikspielzeug. Im Sommer gleicht die Straße einem chaotisch bunt-blubbernden Feuertopf. Bis in die späten Nachtstunden stehen die Verkäufer dort mit ihren Garküchen, bei denen man für wenig Geld Lammspieße, Hänchenflügel und eben Malatang bekommt.

In dieser Nacht war es minus sieben Grad. Leere Plastiktüten wehten durch die Einkaufpassage und ein paar Drogendealer gingen eine Weile neben mir her, bis sie merkten, dass ich nicht deswegen nach Sanlitun gekommen war. Vereinzelte Touristengruppen kamen aus den Bars, in denen die Bässe die leeren Tanzflächen bedröhnten. Obwohl es mitten in der Nacht war und der beißend staubtrockene Wind sich auf der Haut anfühlte wie tiefgefrorenes Sandpapier, standen die frierenden Männer und Frauen wie immer an ihren Garküchen und warteten auf Kundschaft. Auch die Verkäufer mit ihren bunten gasgefüllten Luftballons, den Blumen und den Spielsachen waren wie immer in der Kneipenstraße.

Dieses Mal aber war es echt

Ich stetzte mich auf einen der winzigen Schemel, die vor einem Malatang-Stand aufgereiht waren. Spieße mit Pilzen, Gemüse, kleinen Würstchen, Tofu, Fischklößchen und auch einigen Innereien schwammen in der dunkelroten Brühe aus Fett, Chillischoten und Sichuan-Pfeffer, der wegen seiner leicht betäubenden Wirkung ein Prickeln auf der Zunge hinterlässt.

Die Verkäuferin war froh, dass ihr in dieser Nacht noch jemand ein paar Spieße abkaufte. Eine ganze Zeit saß ich und aß stumm das, was sie mir auf den Teller legte. Hin und wieder kamen Verkäufer mit ihren Luftballons und ihren Spielsachen. Nach einer Weile kam eine der Frauen mit den bunten Luftballons und fragte mich, ob ich ihr vielleicht einen Tofuspieß kaufen könnte. Ihre Lippen waren aufgeplatzt und ihre Wangen waren rot wie gerocknete Äpfel. Ich sagte ja und sie nahm sich einen Spieß, den sie hungrig verschlang. Sie fragte, ob sie noch einen essen dürfe und als ich ja sagte, setzte sie sich neben mich. Ich sagte, dass es ohnehin sehr ungesund sei, allein zu essen und lachte. Sie lachte auch und aß hastig. Nach einer Weile kamen auch die anderen Luftballonverkäufer und ich lud sie zum Essen ein. Am Ende waren wir zu fünft.

Wie oft habe ich in den letzten Jahren in einem Restaurant an einem der runden Tische gesessen, bei Geschäftsessen oder mit der Familie und nach chinesischer Sitte die anderen höflich dazu aufgefordert, zuzugreifen. In China drängt man seine Freunde beständig, sich satt zu essen und nicht zurückhaltend zu sein. Eigentlich war das für mich meist ein eher abstruses Schauspiel, bei dem es darum ging, seine soziale Kompetenz zu beweisen, in dem man sich bescheiden und großzügig zeigt. Dieses Mal aber war es echt. Wer in einer eiskalten Winternacht verzweifelt versucht, den versprengten Touristen für ein paar Yuan einen Luftballon zu verkaufen, für den sind Bescheidenheit und Großzügigkeit beim Essen keine leeren Formeln sozialer Interaktion.

Der Mann, der mir an diesem Abend gegenüber saß, hatte Hunger. Und ich sah den Scham in seinen Augen – den Scham, von mir, einem Ausländer, diese Form der Großzügigkeit anzunehmen. Ich hingegen schämte mich dafür, dass ich manchmal an einem Abend in den Bars und Geschäften dieser Gegend soviel Geld ausgegeben hatte, wie dieser Mann in einem ganzen Monat oder vielleicht sogar in einem halben Jahr verdient. Der Mann aß langsam und voller Würde und als ich ihn bat, noch etwas zu nehmen, lehnte er bescheiden ab.

Die Böden sind schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch

Die Verkäufer kamen alle aus Hunan, eine Provinz, in der, wie sie sagten, die Böden schlecht und die Bevölkerungszahlen hoch sind. Wer weiß, welche Schicksalsschläge sie nach Beijing geführt hatten und welche Versprechungen ihnen gemacht wurden, welcher sprupellose Geschäftsmann ihnen die Luftballons und die Spielsachen verkauft hat. Wer weiß, welchen Anteil sie vielleicht auch selbst daran haben, dass sie in dieser wenig hoffnungsvollen Situation sind. Sicher ist aber, dass sie alles darum gegeben hätten, nicht in dieser Situation zu sein.

Viele Dinge in China kann man nur verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass die Armut, eine brutale und bedrohliche Armut immer noch untrennbar zu Chinas Gegenwart gehört. Die glitzernden Fassaden in den großen Städten können sehr lange darüber hinwegtäuschen, dass die  Entbehrungen und der Hunger den Menschen in den Knochen steckt. Denn auch die, die die Armut hinter sich gelassen haben, werden in irgendeiner Form von der dauerhaften Anwesenheit von Kälte, Hunger und Elend begleitet.

Und vielleicht ist auch die Verschwendungssucht der wohlhabenden Chinesen, der Luxus und die Achtlosigkeit, mit der der Kuchen bei Starbucks nach dem ersten Bissen neben den halbvollen Tassen auf dem Tisch stehen gelassen wird, nichts weiter als der ewige Kampf, sich von der Armut, dem chinesischen Stigma, so weit wie möglich zu entfernen.

Yu Huas armer Riese und der kategorische Imperativ

Der chinesische Schriftsteller Yu Hua, der die Gabe hat, sowohl die Poesie als auch die Brutalität des chinesischen Lebens in Worte zu fassen, beschreibt in einem seinem neuesten Buch China in Ten Words eine Szene aus seiner Jugend, die die Armut zu einem Schlüsselmoment der ganzen Gesellschaft werden lässt. Die Geschichte spielt zur Zeit der Kulturrevolution, in der Nahrungsmittel nur gegen Essensmarken zugeteilt wurden. Um Spekulationen zu verhindern, war es verboten, mit diesen Marken zu handeln. Die Jugendlichen in dem kleinen Ort hatten es sich zur Aufgabe gemacht, die öffentlichen Plätze zu überwachen, um die Schwarzhändler zu stellen und der Polizei zu übergeben. Eines Tages griff die Jugendbande einen groß gewachsenen Mann auf, der die Lebensmittelmarken, die er zu Geld machen wollte, erst aus der Hand gab, als die Kinder mit einem Stein auf seine Hände einschlugen und so die Umklammerung lösten. Auf der Polizeiwache stellte sich heraus, dass der Mann aus elenden Verhältnissen kam. Er lebte in einem kleinen Dorf und seine Familie hatte sich ein ganzes Jahr lang die Marken vom Munde abgespart. Der Mann wollte heiraten und mit dem Geld einen Teil seiner Aussteuer bezahlen.

Wenn man sich, wie viele Ausländer in China, die Frage stellt, warum die Chinesen denn ihre eigenen Gesetze so oft nicht einhalten, dann ist man mit fehlender moralischer Integrität sehr schnell bei der Hand. Die Chinesen haben Kants kategorischen Imperativ eben noch nicht so richtig verstanden.

Die Ausnahmen von Regeln werden zu einem Akt der Mitmenschlichkeit

Bei genauer Betrachtung erkennt man jedoch, dass es oft die Armut ist, die Bitterkeit der Realität, die Ausnahmen von Regeln zu einem Akt der Mitmenschlichkeit werden lässt. Warum werden die Rikschafahrer toleriert, die Händler von Raubkopien nicht hart bestraft, die wilden Märkte auf den Fußgängerbrücken nicht unterbunden? Manchmal liegt es einfach daran, dass die Beamten vom Ordnungsamt es nicht übers Herz bringen, den Menschen, die ohnehin fast nichts haben, ihren einzigen Verdienst zu nehmen.

An meiner Uni studieren jedes Jahr Studenten, die aus sehr armen Familien kommen. Die Eltern haben auf vieles im Leben verzichten müssen, um ihren Kindern einen Universitätsbesuch zu ermöglichen. Die Studenten haben den größten Teil ihrer Kindheit geopfert, um durch fast unendlichen Fleiß und militärischen Drill eine gute Note bei der Hochschulaufnahmeprüfung zu erreichen. Um im Leben eine Chance zu haben und der Armut zu entkommen, haben sie große Opfer gebracht. Wenn nun einer dieser Studenten, aus welchen Gründen auch immer, die für einen Studienabschluss erforderlichen Leistungen nicht erbringt, würde man ihn dann mit gutem Gewissen durchfallen lassen? Würde man ihn seiner hart erkämpften Zukunft berauben? Würde man angesichts der Not, die diese Studenten und vor allem ihre Eltern erleiden mussten, nicht Gnade vor Recht ergehen lassen und ein Auge zudrücken? Und wenn man in diesem Fall die objektiven Kriterien aufhebt, muss man dann nicht auch in anderen Fällen weniger streng sein, um eine Vergleichbarkeit zumindest nach außen aufrechterhalten zu können?

In China gibt es sehr wenig Studienabbrecher. Egal, wie schlecht die Leistungen der Studenten sind, am Ende bekommen sie fast immer ihren Abschluss. Das ist ein System, das in in seiner Paradoxität kaum zu übertreffen ist. Aber wer will denn schon verantwortlich dafür sein, wenn sich die Eltern aus dem Fenster stürzen, weil ihre Kinder, ihre einzige Hoffnung auf eine bessere Zukunft, sie so bitter enttäuscht haben? Und das ist keine Übertreibung. So etwas passiert immer wieder.

Eine ehemalige Kollegin von mir hat gerade einen Artikel im Spiegel veröffentlicht, in dem sie über die aus deutscher Perspektive nahezu unmenschlichen Lernbedingungen an chinesischen Mittelschulen schreibt. Der Bericht trifft die Wirklichkeit wohl recht gut, ignoriert aber vollständig die Zwänge und Hintergründe des chinesischen Überlebenskampfes, die Bildungspolitik oft zu etwas werden lassen, wie die Veranstaltung einer Runde „Reise nach Jerusalem“ – mit viel zu wenig Stühlen. Es lässt sich leicht über eine Ellenbogengesellschaft philosophieren, wenn man selbst im weichen Sofa sitzt.

Armut ist nicht relativ

Als ich in meinem ersten Jahr an einer chinesischen Universität „Zeitungslektüre“ unterrichtet habe, hielt ich es für eine gute Idee, das Thema „Armut“ zu behandeln. Ich dachte, dass es ein interessanter Perspektivwechsel sein würde, sich mit der Armut in Industrieländern zu beschäftigen, die zu diesem Zeitpunkt zunehmend zu einem Problem wurde. Aber als die Studenten die Summen hörten, die deutsche Arbeitslosengeldempfänger monatlich bekommen, erntete ich Blicke, die mir zu verstehen gaben, dass sie spätestens jetzt sicher waren, wie wenig die Menschen im reichen Westen überhaupt in der Lage sind, die Bedeutung des Wortes „Armut“ angemessen zu verstehen.

Ich habe damals auch einen Fernsehbericht gezeigt, in dem eine deutsche Studentin einen Selbstversuch macht und die „Bitterkeit“ einer Hartz4-Existenz an sich selbst ausprobiert. Es war schon fast komisch, wie in dem Bericht versucht wurde, die Situation dieser Studentin in den schwärzesten Farben zu malen. Sie saß einsam am Fenster, sah in den grauen Himmel und musste sich damit abfinden, dass ihre Fertig-Pizza nicht mehr aus dem Hause Doktor Oettker kam. Die Szenen waren mit deprimierender Musik unterlegt, um die Dramatik der Situation zu verdeutlichen. Kein Urlaub, kein Kino, nichts.

Einige der chinesischen Studenten fanden es sicher nicht besonders komisch. Viele Menschen im reichen Westen hören es vielleicht nicht so gerne hören, aber es ist die Wahrheit: Armut ist nicht relativ. Die westlichen Wohlstandsgesellschaften haben die Armut besiegt. Heute müsste in Deutschland niemand frieren oder hungern. Der Staat garantiert zumindest die nackte Existenz. In China ist das anders. Auch wenn die Situation sich sehr verbessert hat, lebten laut offizieller Angaben im Jahr 2010 in China immer noch fast 27 Millionen Menschen unter der Armutsgrenze.  In China gilt jemand als arm, der umgerechnet weniger als 148 Euro zur Verfügung hat – im Jahr.

Zensur Spezial: Tencent und Sina Weibo deaktivieren die Kommentarfunktion der chinesischen Mikroblogs

Als ich vor einiger Zeit in meinem Sina-Mikroblog eine Nachricht von einem mir unbekannten Nutzer erhielt, wunderte ich mich kurz über die seltsame Frage, die mir gestellt wurde. „Gab es in Peking wirklich einen Putsch?“, wollte jemand von mir wissen. Ich hielt es für einen Scherz oder einen – weil die Frage auf Deutsch gestellt wurde – nicht gerade unwahrscheinlichen Übersetzungsfehler. Ich hatte diese Nachricht schon beinahe vergessen, doch einige Tage später fingen die englischsprachigen Blogs und Online-Medien an, über diese Putsch-Gerüchte in den Mikroblogs zu berichten – über wilde Spekulationen darüber, dass hinter den verschlossenen Mauern des Regierungssitzes ein Staatsstreich stattgefunden haben soll. Und dann dauerte es noch eine Weile, bis die deutschen Medien diese Gerüchte wiederum bei ihrer China-Berichterstattung aufgriffen. Bisher gibt es weder von offizieller chinesischer Seite, noch von unabhängigen Berichterstattern irgendwelche Anzeichen dafür, dass diese Gerüchte mehr sind, als die typisch chinesischen Internetgeschichten, die sich meist wie ein Lauffeuer verbreiten und an denen oft genug nichts dran ist. Befeuert wurden die jüngsten Geschichten sicherlich durch Spekulationen über die politischen Hintergründe der recht spektakulären Absetzung des bei weiten Teilen der Bevölkerung bekannten, maoistisch orientierten Politikers Bo Xilai.

Schneeballsytemschlacht

Normalerweise würde ich mich einfach darüber ärgern, dass viele Journalisten offenbar nichts Besseres zu tun haben, als sich an der virtuellen “Stillen Post” zu beteiligen. Aber dieses Putsch-Gerücht hat offenbar ein Nachspiel. Die chinesische Regierung scheint sich tatsächlich auf eine Schneeballsystemschlacht einlassen zu wollen. Die aktuellen Gerüchte wurden zum Anlass genommen, strenger gegen deren Verbreitung vorzugehen. Seit heute Morgen kann ich in meinem Mikroblog bei sina.com keine Tweets mehr kommentieren. Und das geht nicht nur mir so. Wie die staatliche Zeitung “China Daily” in ihrer Online-Ausgabe mitteilt, wurden als Strafmaßnahme für die Verbreitung von Gerüchten die beiden großen Mikroblogs bei sina.com und tencent.com angewiesen, ihre Kommentarfunktion für fünf Tage stillzulegen. Laut dem ebenfalls staatlichen Medium “China Radio International” wurden im Zuge des Vorgehens gegen Gerüchte sechszehn Webseiten vom Netz genommen und sechs Personen wegen der Verbreitung von Online-Gerüchten festgenommen.

Salz wird euch nicht schützen!

Die chinesische Regierung, die ja die Medien stark in ihrer Berichterstattung einschränkt und auf verschiedenste Weise die Inhalte zensiert, führt schon seit längerem eine Kampagne gegen die Verbreitung von Unwahrheiten. Zum einen werden Gerüchte aktiv gelöscht, zum anderen wird versucht, aktiv “Aufklärung” zu betreiben. Weil die meisten Chinesen aber aus guten Gründen an der Objektivität der offiziellen Medien zweifeln, werden viele als wichtig eingestufte Informationen weiterhin durch Mund-zu-Mund-Propaganda weitergegeben. So fürchtete man während der japanischen Reaktorkatastrophe auch in China die Gefahren des Fall Outs. Irgendwann kam dann das Gerücht auf, dass der Verzehr von gewöhnlichem Kochsalz ein effizienter Schutz gegen Verstrahlung sei. Innerhalb eines Tages waren daraufhin in Peking sämtliche Salzvorräte der Supermärkte leergekauft. Die offiziellen Medien strahlten zahllose Sondersendungen aus, um dieses unsinnige Gerücht und die dadurch ausgelösten Panikkäufe zu verhindern.

Only good news are good news

Vorkommnisse wie diese zeigen, dass Gerüchte in China tatsächlich eine reale Gefahr für Leib und Leben darstellen können. Mit Panikreaktionen großer Bevölkerungsteile ist in einem Land mit 1,4 Milliarden Einwohnern schließlich nicht zu spaßen. Die Reaktion der Regierung auf Gerüchte ist jedoch weitgehend hilflos und zeigt nur, dass man dort die Zeichen der Zeit noch immer nicht erkannt hat. Denn der Grund, warum in China die Menschen viel stärker als im Westen geneigt sind, auch den wildesten Gerüchte Glauben zu schenken, liegt eindeutig an der stark eingeschränkten Pressefreiheit. Durch eine freie Berichterstattung werden ja auch die Wahrheiten ans Licht fördert, die nicht im Sinne der Regierung sind. In China hingegen wird die Informationsweitergabe der Medien oft gedeckelt und „harmonisiert“, wie es im chinesischen Internetjargon heißt. Die Nachrichten der offiziellen Medien bestehen daher noch immer zu einem überwiegenden Teil aus Erfolgsmeldungen. Im modernen Journalismus westlicher Prägung sagt man „Only bad news are good news“, weil oft nur das Skandalöse, das Gefährliche, das Böse es in die sensationsgierigen Medien schafft. Für die weitgehend harmonisierte chinesische Medienlandschaft gilt das genaue Gegenteil: „Only good news are good news“. Wenn aber die Menschen kein Vertrauen in die Fähigkeit der Medien haben, über Skandale zu berichten, werden sie sich die Informationen über Umweltrisiken, politische Fehlentwicklungen, Gefahren für die Gesundheit und all die anderen Dinge, die unabdingbar Teil moderner Gesellschaften sind, zwangsläufig aus anderen – seriösen und unseriösen – Quellen besorgen.

Der Streisand-Effekt – Don’t think of an Elephant!

Ich halte die Regulierungs- und Zensurmaßnamen im chinesischen Internet, die derzeit angewendet werden, für insgesamt eher wirkungslos. Die Sperrung von Suchbegriffen, die Löschung von Tweets, und nun die “Bestrafung” der Mikroblogbetreiber durch Deaktivierung der Kommentarfunktion werden weder die Debatten unterbinden, noch Gerüchte vermindern. Die chinesischen Internetbenutzer haben bisher noch immer einen Weg gefunden, die Maßnahmen zu umgehen. Die Bemühungen, eine offene, kontroverse und teilweise sicherlich auch unsachliche Debatte über gesellschaftliche und politische Themen zu verhindern, werden langfristig so erfolgreich sein wie die Aufforderung, nicht an einen Elefanten zu denken. Denn ein Effekt, der in Zeiten des Internets immer wichtiger wird und den es bei jedem Versuch der Regulierung zu bedenken gilt, ist der so genannten Streisand- Effekt.

Als Streisand-Effekt wird bezeichnet, wenn durch den Versuch, eine Information zu unterdrücken, genau das Gegenteil erreicht wird, nämlich die Information besonders bekannt gemacht wird. Seinen Namen verdankt der Effekt Barbra Streisand, die den Fotografen Kenneth Adelman und die Website Pictopia.com 2003 erfolglos auf 50 Millionen US-Dollar verklagte, weil eine Luftaufnahme ihres Hauses zwischen 12.000 anderen Fotos von der Küste Kaliforniens auf besagter Website zu finden war. Damit stellte sie aber erst die Verbindung zwischen sich und dem abgebildeten Gebäude her, woraufhin sich das Foto nach dem Schneeballprinzip im Internet verbreitete.
http://de.wikipedia.org/wiki/Streisand-Effekt

Langfristig wird der Streisand-Effekt in China dazu führen, dass die Bevölkerung sich genau für die Themen besonders stark interessiert, die auf dem Index stehen. Welche Worte bei den Weibos zensiert werden, lässt sich schon heute auf vielen Internetseiten nachlesen und je aktiver und vehementer die Regierung gegen diese wahlweise auf Tatsachen oder Unsinn basierenden Diskussionen vorgeht, desto mehr wird die Öffentlichkeit zu diesen Themen herausfinden wollen. Möglichkeiten dazu bietet das Internet genug. Auch das zensierte.

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UPDATE (16:33):
Sina Weibo erlebt gerade das, was vom Sprachlog vor kurzem zum Anglizismus des Jahres 2011 gekürt wurde: Einen veritablen „Shitstorm“. Denn zwar wurde die Kommentarfunktion deaktiviert, aber beim „reposten“ kann man immer noch seine Meinung hinzufügen. Und davon wird jetzt ausführlich Gebrauch gemacht, um sich über diese sonderbare Form der Gerüchtebekämpfung entweder aufzuregen oder einfach nur zu amüsieren.

Musikrezension: Omnipotent Youth Society – Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Die Omnipotent Youth Society ist für mich die chinesische Band mit dem größten künstlerischen Potenzial derzeit. Sie haben für ihr aktuelles Album Jahre gebraucht und so klingt es auch. Im bäuerlichen Shijiazhuang schrauben ein paar Jungs in den bretterbudenähnlichen Rockschuppen Songs zusammen, die sich kompositorisch kaum hinter Coldplay oder Radiohead verstecken müssen. Auffälligstes Merkmal ihrer Musik sind die sphärischen Trompetenklänge und die oft überraschenden Rythmus- und Melodiewechsel in ihren Liedern. Sie sind alle ausgebildete Musiker, die auch Jazz oder Klassik machen könnten, wenn sie es wollten. Stattdessen füllen sie aber lieber auf einem nicht-existenten chinesischen Rockmusik-Markt eine nicht existente Nische aus. Ihre Fans wissen, dass es ihnen ziemlich gleichgültig ist, ob irgendjemand zuhört. Denn darum geht es nicht. Die glasklaren Lyrics stammen von einem jungen chinesischen Universitätsdozenten für englische Poesie, der die metaphorische Gewalt der chinesischen Sprache zu nutzen weiß. Der Song „Qinghuangdao“ ist eine Hymne und eine junge Frau in dem Video weiter unten sagt, dass sie weinen musste, als sie das Lied zum ersten mal gehört hat.

Ominipotent Youth Society bei „noisey“, Beijing



Ein Einblick in die Welt der „Omnipotent Youth Society“ (Versuch einer Übersetzung):

Töte diesen Menschen aus Shijiazhuang

Um sechs Uhr Abends ist Feierabend,
Ich zieh mir den Kittel der pharmazeutischen Fabrik aus.
Meine Frau kocht Reisbrei,
Ich trinke ein paar Flaschen Bier.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.

Am achteckigen Verkaufstresen,
Am verrückten Markt des Volkes,
bezahle ich mit Falschgeld
und kaufe eine falsche Waffe.

Sie beschützt ihr Leben,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Der Vorhang der Nacht bedeckt die Ebenen Nordchinas.
Ihr tieftrauriges, tränenbedecktes Gesicht.

In der Mittelschule in Hebei
spielen sie Ping Pong
und betrachten mich stumm.
Unfähig, das Klassenzimmer zu verlassen.

Das Leben in der Erfahrung
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Zehntausend wilde Pferde
laufen durch seinen Kopf.

So weiter die nächsten 30 Jahre,
bis das Gebäude zusammenstürzt.
Tief in der Mitte der Wolkenschicht ist Dunkelheit.
Die in meinem Herzen ertrunkene Landschaft.



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Der „Flame War“ zwischen Han Han und Fang Zhouzi

„Flaming“ wird auch als „bashing“ bezeichnet und ist die feindliche und beleidigende Interaktion zwischen Internet-Usern. Flaming spielt sich normalerweise in dem sozialen Umfeld eines Internetforums ab. (…) Ein „Flame War“ entsteht, wenn sich viele User durch provokative Antworten engagieren, die auf den ursprünglichen „Flamebait“ bezogen sind. Flame Wars ziehen oft viele User mit in den Konflikt (inklusive derer, die versuchen, den Konflikt beizulegen) und können die reguläre Forendiskussion negativ beeinflussen (…). Übersetzung nach dem englischen Wikipedia-Artikel über flaming

Nach dieser Definition haben wir es bei dem seit Wochen anhaltenden Streit zwischen dem chinesischen Posterboy Hanhan und Fang Zhouzi mit einem klassischen „Flame War“ zu tun. Han Han, der multi-talentiert als blog- und romanschreibender Literat und als Autorennfahrer in Erscheinung tritt und Fang Zhouzi, der durch seine detaillierten Analysen schon so manchen Betrüger entlarvt hat, stehen sich  so verfeindet gegenüber, dass der Konflikt im Chinesischen als „方韩之战“ (fanghanzhizhan), als der Han-Fang’sche Krieg bezeichnet wird und wohl auch als solcher in die Geschichtsbücher des chinesischen Internets eingehen wird. Hauptsächlich geht es in dem Konflikt um den Vorwurf, dass viele der Texte Han Hans mit Hilfe eines Ghost-Writers entstanden sind. Eine wichtige Rolle in dem Konflikt spielen sicher auch Han Hans vor kurzem veröffentlichte Blogposts über „Revolution„, „Demokratie“ und „Freiheit“, in denen der zuvor meist als System-Oppositionelle人gesehene Schriftsteller-Rebell seinen politischen Standpunkt sehr pragmatisch definiert. Han Han nimmt in diesen Posts den Standpunkt ein, dass eine direkte Konfrontation mit den Machthabern in China derzeit keinen Sinn macht. Er fordert weitreichendere Reformen, aber keinen System-Wechsel. Viele seiner liberal orientierten Leser waren davon enttäuscht.

Die Unterstützer der jeweiligen Seite stehen sich so unversöhnlich gegenüber, dass im Internet viele Geschichten die Runde machen, in denen sich langjährige Ehepaare scheiden lassen, weil der eine Partner ein Fan von Han Han ist und der andere auf Fang Zhouzis Seite steht und entsprechend Han Han für einen kleingeistigen Schummler hält.

Einen offiziellen Doppelpod-Standpunkt in der Debatte gibt es noch nicht. Denn anders als im deutschen Guttenberg-Fall sind die Vorwürfe gegen Han Han viel schwerer nachzuweisen. Aber nach allem, was ich weiß, scheint es viele Gründe dafür zu geben, dass der immer wahrscheinlicher werdende Fall Han Hans vom Thron der Internet-Generation durchaus in Ordnung geht.

Für diejenigen, die sich eine eigene Meinung bilden möchten, die folgenden Videos  (ein englischsprachiges und ein chinesisches) :







Zensur Spezial: Maulkorb für die “Quasselstrippe of America”

“Hallo zusammen. Schön, dass ihr wieder einschaltet bei OMG-Meiyu. Ich bin Bai Jie. Montag bis Freitag mache ich jeden Tag eine Sendung und wir lernen zusammen den neuesten und authentischsten ‘American Slang’”. So hat Jessica Beinecke ihre drei Minuten Dampfquatschen begonnen und so beginnt sie auch heute noch ihre chinesischsprachige Sendung. Nur können die meisten ihrer chinesischen Fans sie jetzt leider nicht mehr hören. Der chinesische Youtube-Klon, auf dem man ihre Sendung abrufen konnte, hat ohne Angabe von Gründen beschlossen, die lustigen Sprachlernvideos zu löschen. So kann man es auf der OMG-Seite des chinesischen Twitter-Klons nachlesen. Jessica ist darüber sehr traurig und auch viele ihrer Fans beklagen diesen Maulkorb.

Um diese Geschichte richtig einordnen zu können, sollte man jedoch wissen, dass Bai Jie mit ziemlicher Sicherheit kein spontanes Internetphänomen ist. Der SPON-Artikel, der vor zwei Monaten erschienen ist, und in dem Bai Jie als eine niedliche Selfmade-Berühmtheit beschrieben wird, ist in Bezug auf diese Frage an Naivität kaum zu überbieten. Zunächst einmal aber sind hunderttausend Fans bei Weibo im chinesischen Internet-Wunderland keine sonderlich erstaunliche Leistung – vor allem, wenn man davon ausgeht, dass die Clips professionell produziert sind. Denn wer glaubt, dass diese Sendung, wie in dem Artikel behauptet wird, aus einem Spaß entstand und quasi ein Hobby von Jessica Beinecke ist, der muss schon sehr viele Details übersehen.

“Wohl mehr aus Spaß an der Sache begann sie nebenbei in ihrem Wohnzimmer in Washington mit der Videokamera ihres Notebooks kurze Sprachlernvideos für Chinesen aufzunehmen und ins Netz zu stellen.”
Quelle: Spiegel.de

Natürlich ist diese Sendung sehr stark personalisiert und erweckt den Anschein, ein Produkt der aufgeregten jungen Dame aus dem mittleren Westen zu sein. Aber Jessica Beinecke war und ist eine Mitarbeiterin der “Voice of America”, dem offiziellen auswärtigen Sprachrohr der US-Regierung, das in dem SPON-Artikel lapidar als “US-Radiosender” bezeichnet wird. Dort ist Jessica angestellt und ich kann mir irgendwie nicht so richtig vorstellen, dass deren Mitarbeiter nach Feierabend mal eben auf eigene Faust tägliche Formate produzieren.

Hinzu kommt, dass “OMG-Meiyu” eine Sendung ist, die in Bezug auf Script, Make Up, Kleidung, Kamera und Animation auf einem professionellen Niveau produziert wird. Im Internet finden sich weitere Hinweise darauf, dass man den Aspekt der Spontanität dieses “Erfolges” nicht überbewerten sollte.

With some advice from the producers of „Parazit,“ a popular show on VOA’s Persian service profiled last year on the NewsHour, she created „OMG! Meiyu.“
Quelle: PBS.org

Ich gehe daher eher davon aus, dass “OMG-Meiyu” einer neuen Strategie der „Public Diplomacy“ der USA zuzurechnen ist und dass das Ziel der Sendung unter anderem die Stärkung der US-Amerikanischen “Softpower” ist.

Ich bin der Meinung, dass diese Strategie mit Vorsicht zu bewerten ist. Sicher ist es ein Skandal, dass eine Sendung, in der es um vollkommen harmlose und unpolitische Themen geht und die ausschließlich das Erlernen einer Fremdsprache zum Ziel hat, von der chinesischen Video-Plattform ohne Angabe von Gründen gelöscht wird. Welche rationalen Begründungen sollten denn auch dafür angeführt werden, dass es Bai Jie verboten sein sollte, die Chinesen auch weiterhin täglich mit ihren Vokabeln vollzuquatschen? Diese Form der Zensur, bei der ohne Angabe von Gründen und ohne den Versuch, die Regulierungskriterien transparent zu gestalten, Inhalte gelöscht werden, ist meiner Meinung nach langfristig zum Scheitern verurteilt. Und auch Facebook wird wohl in dieser Frage seine Strategie ändern müssen.

“OMG Meiyu” gehört zur Agenda der US-amerikanischen Außenpolitik. Und wer beispielsweise die Diskussion um die Konfuzius-Institute verfolgt, die weitgehend in deutsche Universitäten integriert sind und dadurch Interessen verschleiern könnten, wird sehr schnell feststellen, dass auch in Deutschland Sprach-Kurse und Kulturveranstaltungen, die von einem Land mit einem anderen politischen und ideologischen Hintergrund veranstaltet werden, sehr argwöhnisch beäugt werden. Man fürchtet hüben wie drüben die als Kultur getarnte politische Einflussnahme durch fremde Staaten.

Zurzeit sind die Bemühungen der Chinesen im Bereich der Public Diplomacy aus vielen Gründen eher erfolglos. Ich gehe aber davon aus, dass auch die chinesische Regierung in Zukunft in dieser Hinsicht von den Amerikanern lernen wird und mit sehr viel subtileren Methoden versuchen wird, weltweit Sympathien zu gewinnen. Und ich gehe ebenfalls davon aus, dass auch die westlichen Industrienationen Wege suchen werden, solche Einflussnahmen zu verhindern.

Eine offene Gesellschaft, in der kontroverse Diskussionen stattfinden können, sollte keine großen Schwierigkeiten damit haben, auch ideologisch gefärbten Standpunkten staatlicher Institutionen anderer Länder in der öffentlichen Debatte Gehör zu schenken. Es sollte jedoch immer darauf geachtet werden, dass die Enstehensbedingungen im Informationsfluss offengelegt sind, auch wenn die Produkte als lustige Unterhaltungs- und Bildungsformate daherkommen.

Wenn Bai Jie gesagt hätte: “Hallo zusammen. Schön, dass ihr wieder einschaltet bei OMG-Meiyu. Eine Sendung der Voice of America…”, dann wäre ich in der Sache uneingeschränkt auf ihrer Seite. So bleibt ein Nachgeschmack und der Verdacht, dass die US-Regierung diese Sendung benutzten wollte, um interessenpolitisch bedingt Sympathien bei jungen Chinesen zu gewinnen.

“OMG-Meiyu” ist sprachdidaktisch übrigens eine ziemliche Katastrophe, weil die idiomatischen Redewendungen kaum im Kontext gelernt werden. Ich denke daher, dass die in China sehr beliebte US-Show “The Big Bang Theory” viel besser geeignet wäre, um US-amerikanischen Slang zu lernen. Wer jedoch nicht auf die Dampfplaudereien von Bai Jie verzichten möchte und hinter der Großen Chinesischen Firewall sitzt, dem sei die Smartphone-App von OMG empfohlen, oder aber der folgende Umweg über einen Online-Proxy:

  1. zu vtunnel.com gehen
  2. die Werbung wegklicken
  3. www.youtube.com eingeben
  4. nach OMG – Meiyu suchen
  5. Bai Jie gucken