#3 Schönes neues China: Kein Artenschutz für Hasenväter

 

Unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Da sind wir nicht so streng. Es ist doch auch wichtig, dass einem der Job Spaß macht. Er kann es sich also selbst aussuchen. Zahnarzt oder Rechtsanwalt. Und er hat auch noch ein bisschen Zeit. Er ist zwei. Sein kleiner Bruder hat leider nicht mehr so viel Freiheit. Wenn der Große Zahnarzt werden möchte, und im Moment sieht es so aus, dann wird der Kleine Rechtsanwalt. Als Familie sind wir sonst etwas zu einseitig ausgerichtet.

Das Ganze war ein Kompromiss. Die Eltern von Ehefrau sind da nicht so tolerant. Den Beruf selbst wählen? Nein, soetwas wissen die Eltern doch viel besser. Die berufliche Laufbahn liegt sicher und sanft in den sorgenden Händen der Familie. Und wenn man die lieben Kleinen auf einen steinigen Karriereweg schickt, sollte man nicht kurz vor dem Bewerbungsgespräch anfangen. Das Rennen wird am Anfang verloren, sagt man in China und so wird also von Beginn an trainiert, geschult, geschunden, gelehrt und geschlagen. Aber immer im Sinne der Kinder. Sie werden es einem danken. Eines Tages, wenn Sie einen guten Job haben, ihre düstere Kindheit vorüber und die Narben verheilt sind, dann werden sie froh sein, dass wir unnachgiebig mit ihnen waren. Dass man für die Familie, das ganze Land und natürlich auch für die Kinderchen selbst das meiste aus ihnen herausgeholt hat. Und ach, was werden mit dieser Methode für Fortschritte erzielt. Fortschritte, von denen die Kuscheltierpädagogen des Westens nur träumen können.

Vor inzwischen fast zehn Jahren, da ging ein Raunen durch die deutschen Lande. Hast du es schon vernommen? Hast du es schon gehört? Es ist unglaublich! Die Chinesen! Ja, in Shanghai, da haben sie mitgemacht beim amtlich zertifizierten Bildungsarmdrücken der Weltjugend, auch bekannt als PISA. Und bei dieser weltumspannenden Schul-Spartakiade hat nun die chinesische Volksrepublik, vertreten durch eine Mannschaft aus kurzsichtigen und humorlosen Lernautomaten gleich auf Anhieb den ersten Platz gemacht. Weltspitze in den Disziplinen Lesen, Rechnen, fleißig sein. Die Chinesen! Nein, doch, oh! Wer hätte das gedacht.

Und es ist ja wirklich auch der Wahnsinn. Was der Chinese nicht alles lernen kann, wenn, und das bleibt zu beachten, ja wenn er denn nur früh genug damit anfängt. Was Xiao Wang nicht gelernt hat, das wird Lao Wang erst recht nicht lernen, auch wenn man es in seinen Schädel kloppt. Nein, dann ist es zu spät und das Leben verhunzt. Das kann passieren, muss aber nicht, wenn man, wie schon gesagt, einfach ganz früh anfängt. Und mit früh meine ich hier nicht den Kindergarten oder die Vorschule. Denn dort gibt es in China bereits die ersten Prüfungen.

Bildungbiografien beginnen in China deutlich vor der Geburt. Tai Jiao ist das Stichwort. Das klingt ein bisschen wie Tai Qi, ist aber kein Schattenboxen. Tai Jiao bedeutet „Embryoerziehung“ und es ist genau das. Vorgeburtliche Erziehung. Mozart am Schwangerschaftsbauch. Es sollen schon Gedichte rezitierende Ehemänner am Bauch der Gattin gesichtet worden sein, Bauchnabel als Mikrophon. Wichtig ist auch, dass die werdende Mutter sich während der Schwangerschaft ausreichend geistig betätigt, denn auf diese Weise lernt das Kind gleich mit.

Früh übt sich, wer eine Tigermutter sein will. Apropos Tiger: Der Text von Bruder Jakob geht auf Chinesisch so: „Zwei Tiger, zwei Tiger, laufen schnell, laufen schnell. Einer ohne Ohren, einer ohne Schweif. Sehr seltsam. Sehr seltsam.“ Daran musste ich manchmal denken, als ich das Buch von Amy Chua gelesen habe. Auf Deutsch heißt es „Die Mutter des Erfolgs“, im Original trägt es den schönen Titel „Battle Hymn of the Tiger Mom“. Ich musste beim Lesen an dieses Kinderlied mit den zerzausten Tigern denken, weil vieles in dem Buch auch sehr seltsam ist. Hinzu kommt, dass die arme Autorin von bösen Gutmenschen-Westeltern immer wieder ganz schön hart rangenommen und arg zugerichtet wird. Völlig zu Unrecht, wie ich finde.

Die Grundthese des Buches geht in etwa so: Wenn sich deine Kinder fragen, ob das jetzt ein Bootcamp ist, oder das eigene Zuhause, dann läufts mit der Erziehung. Westliche Eltern sorgen sich um die Psyche der Kinder. Chinesische Eltern nicht. Sie setzen Stärke voraus. Keine Schwäche. Chinesen verlangen erstklassige Noten in allen Fächern, weil sie überzeugt sind, dass ihr Kind dazu fähig ist. Ist ein Kind nicht spitzenklasse, gehen sie davon aus, dass es sich nicht genug angestrengt hat. Deshalb besteht die Antwort auf ungenügende Leistungen immer darin, das Kind niederzumachen, zu bestrafen und zu beschädigen. Das steht da so in diesem Buch!

In dem Buch sitzt Amy Chua einmal mit unchinesisch sozialisierten Hasenmüttern gesellig zusammen. Ganz beiläufig erzählt die heroische Tigermutter, dass sie ihre Tochter hin und wieder als „menschlichen Müll“ bezeichnet, wenn ihren Ansprüchen an angemessene Menschendressur nicht genüge getan wird. Und da empören sich die kuschelpädagogisch verhätschelten Westmütter derart. Eine dieser verweichlichten Psycho-Mamas verlässt sogar die Tupperparty. Um Himmels Willen! Aber warum wollen sie denn nicht verstehen, dass Amy Chua selbst, gequält und gedemütigt von ihren eigenen Eltern es ohne Tortur niemals geschafft hätte, jene anerkennungsgeile, inzwischen sogar weltweit bekannte Erfolgsfetischistin zu werden, die sie ist. Auch sie hat all das doch nur erreichen können durch die Aufgabe ihrer eigenen Wünsche, ihrer Individualität und Persönlichkeit. Und dass das nichts als wohlstandsverwarloster Firlefanz ist, weiß doch jeder. Der Wert eines Menschen bemisst sich nach Schulnoten, Klavierpokalen und der Färbung der Abdrücke am Geigenhals. Und das ist doch alles nur der Anfang.

In einigen chinesichen Schulen gibt es jetzt Gesichtserkennungssoftware, die die Ausdruck auf Aufmerksamkeit analysiert. Da lässt sich in Sachen Kinderdressur noch einiges optimieren im schönen neuen China. Von nichts kommt nichts. Wenn man Fußballprofi werden will, dann muss man doch auch die Schindereien eines Felix Magath ertragen. Und wenn man ein gutes, angepasstes, auf Unterordnung gedrilltes Mädchen werden möchte – und wer um Himmels willen möchte das nicht – der wird es, wenn nicht jetzt, doch ganz bestimmt im Nachhinein einsehen, dass die Mutter zur Furie werden musste.

Aber unser erster Sohn wird Zahnarzt. Oder Rechtsanwalt. Der zweite hat es da nicht ganz so leicht.

#2 Schönes neues China: Die Geburt der Deunesen

 

Wir haben jetzt zwei Söhne. Zwei deunesische Stammhalter. Zwei kleine Kaiser. In China ist das gerade in den großen Städten immer noch sehr selten. Denn obwohl die Ein-Kind-Politik im Jahre 2015 vollständig beendet wurde, bekommen Großstadtchinesen selten mehr als ein Kind. Zu teuer.

Unser erster Sohn ist in Berlin geboren. Der zweite in Beijing. Einiges war bei beiden Geburten gleich. Einiges ist ja immer gleich. So hat sich Dingding bei beiden Schwangerschaften immer plötzlich übergeben. Im Auto oder auch in die Einkaufstüten. Ihr wurde auch immer wieder ganz „windelig“, wie sie es nannte.

Einiges war aber auch ganz anders. Für die erste Geburt in Berlin war Schwiegermutter Laoma eigens aus China angereist, als Yuesao: Wochenbettlerin. Hebammen gibt es in China nicht wirklich. Dafür ist aber die Nachsorge um so sorgenvoller.

Es ist soweit. Wir sind im Martin-Luther-Krankenhaus und Laomao sitzt neben mir. Sie sagt, dass es doch viel besser wäre, wenn Ehefrau ihr Kind in China bekommen würde. Bei Problemen könnte man die Verwandten fragen. Die würden schon wissen, was zu tun ist. Ich sage nichts, weil ich der Meinung bin, dass die Verwandten von Ehefrau regelmäßig Hokuspokus mit Medizin verwechseln. Stattdessen zeige ich Laoma das CTG, an das Ehefrau angeschlossen ist und das etwas ganz Wichtiges misst. „Hier, diese Zahl, die zeigt an, wie hoch das CGT ist“, erkläre ich und tippe an den Apparat, bei dem sofort ein rotes Warnlicht aufleuchtet. Daraufhin stürmt eine Ärztin herein, schimpft mit mir und geht wieder. Kurz darauf ist sie wieder da. Dingding hatte einen Blasensprung. „Was sollen wir denn jetzt machen?“, fragt Laoma Chinesisch. „Ach“, sagt die Ärztin mit Berliner Dialekt „Ick mach hier jetzt erst mal det CTG zu Ende und denn gucken wa. Ick hör hier erst uf, wenn jemand davonschwimmt.“ „Was hat die Ärztin denn denn gesagt?“, fragt Laoma. Ich übersetze die Diagnose und aber meine Schwiegermutter versteht sie nicht. Berliner Humor lässt sich schwer ins Chinesische übersetzen. Ohnehin ist eine Geburt in einem deutschen Krankenhaus für Chinesen eine Herausforderung.

Als wir den Kreissaal zum ersten Mal besichtigten, ist Ehefrau überrascht. Es gibt einen Gymnastikball, eine Badewanne und eine Sprossenwand. „Man kann det och in Bett tun“, sagt die Schwester. „Det muss aber nicht.“ „Das ist ja wie im Puff in Dongguan“ sagt Ehefrau auf Chinesisch und als die Ärztin fragt, was sie gesagt habe, antworte ich. „Sie findet es sehr schön.“ Denn auch Tianjiner Humor ist schlecht zu übersetzen.

Dingding und ich waren vorher bei einem Schwangerschaftsvorbereitungskurs. Zusammen. Beide. Eine Tatsache, die bei meinen chinesischen Verwandten große Verwunderung auslöste. Chinesische Männer beschäftigen sich mit einer Geburt normalerweise eher indirekt. Und Schwangerschaftsvorbereitung besteht in China vor allem darin, der Frau orakelnde Ernährungstipps zu geben. Es wird zum wichtigsten Thema überhaupt, welche Tier- und Pflanzenarten aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt herangeschafft werden könnten. Großtanten sind sich ganz sicher, dass dieses oder jenes getrocknete Kraut oder Tier sich ausgesprochen positiv auf die Schwangerschaft auswirkt. Ich habe zwei Wochen vor der Geburt auf einem russischen Fischmarkt in Berlin nach einer Art Forelle mit vier Bauchflossen gesucht. Dass Dingding auch auf Ratschläge von geschulten Ärzten hörte, löste bei der chinesischen Verwanschaft Unverständnis aus. Und dass ein Mann, um Gottes Willen ein Mann, bei der Geburt dabei sein möchte und deswegen fachliches Vorwissen erwirbt, das ist äußerst ungewöhnlich.

Dabei war er sehr hilfreich, unser deutscher Hechelkurs. Auch wenn, wie die Hebamme uns aufklärte, da heutzutage gar nicht mehr gehechelt wird. Es sei denn man kommt zu spät und ist ganz außer Atem. Aber wir haben in dem Kurs ganz andere Sachen gelernt. Über den menschlichen Körper und das Leben im Allgemeinen. So eine Geburt hat etwas sehr Dramatisches. All die Schmerzen. Es geht um Leben und Tod. Fast so wie in der zweiten Staffel von Breaking Bad oder in der ersten von Game of Thrones.

Deutsche Hebammen sind im Allgemeinen recht verspielt in der Sprache. „Sternengucker“ nennen sie die Kinder, die mit dem Gesicht nach oben geboren werden. Eine „Glückshaube“ ist eine nicht geplatzte Fruchtblase. Unsere Hebamme Linda hatte ein Talent, die Dinge auf den Punkt zu bringen. „Jede Frau hat einen Topf voller Wehen“, sagte sie. „Darum sollte man sich immer freuen, wenn eine kommt. Wenn der Topf leer ist, hat man es geschafft. Mehr kommen dann nämlich nicht.“ „Wehen sind keine Einzelgänger“, sagte sie auch. „Sie kommen im Rudel.“ Und: „Die Atmung der Frau ist wie ein Treppengeländer, an dem man sich festhält.“ Ganz wichtig war Linda auch das Vertonen der Wehen, also der konstruktive Umgang mit dem Geschrei der werdenden Mutter. „Vertonen, das ist ganz wichtig“, sagte sie. „Wehen muss man besonders am Ende immer vertonen. Aber ausschließlich mit Vokalen. Nie mit Konsonanten. Das stört bloß.“

Chinesische Frauen, so hat es mir Dingding erklärt und vorgemacht, vertonen die Wehen traditionell auch. Aber statt Vokale zu benutzen, beschimpfen bei den vor der Tür wartenden Ehemann. „Du bist an allem Schuld. Verdammter Mistbock. Alles nur wegen Dir. Ich hasse Dich.“ So klingen die vertonten Wehen im Reich der Mitte.

Eine thematische Vorbereitung auf eine Geburt findet in China normalerweise nicht statt. Das überlässt man den Ärzten und die wiederum nehmen da im Zweifelsfall dann auch lieber das Skalpell, als der Frau beim Vertonen der Wehen zuzuhören. China hat neben Brasilien die weltweit höchste Rate an Kaiserschnitten. Annähernd jedes zweite Kind kommt so auf die Welt.

Unser zweiter Sohn hat dann in einem Privatkrankenhaus in Peking das Licht der Welt erblickt. Auch wenn ich in meinen acht China-Jahren die meiste Zeit privat versichert war, bin fast nur in die gewöhnlichen Krankenhäuser gegangen. Wenn einem nichts Ernstes fehlt, ist es auch ganz lustig dort. Denn weil es in China keine niedergelassenen Ärzte gibt, geht man auch mit einer Erkältung dorthin. Im Winter sind die Gänge unbeheizt und die Menschen laufen in dicken Jacken über die Flure. Auf den Wartebänken sitzen Patienten mit Infusionschläuchen in den Armen. Denn in China bekommen eigentlich bei jeder Krankheit zuerst einmal eine Infusion. Und wenn man eine schwerere Krankheit hat, gibt man dem Arzt auf jeden Fall umgehend einen roten Umschlag mit einer ausreichend hohen Bargeldsumme. Denn sollte man das nicht machen, kann man kaum damit rechnen, dass sich jemand die Mühe einer fachgerechten Behandlung macht. Geburten finden in diesen Krankhäusern in gemeinschaftlichen Kreissälen statt und sein Essen muss man selbst mitbringen.

Für die Ankunft unseres zweiten Kindes sollte es dann aber ein Privatkrankenhaus sein: Family United. Und das war dann auch ganz schick und sauber mit eigenem Zimmer und Essen. Ungewöhnlich war nur, dass man die Geburt als Paket kaufen konnte. In China gibt es keinen Frisör, keinen Kinderspielplatz, keinen Fußmassagesalon und kein Café, in dem einem nicht die einfache, gehobene oder VIP-Mitgliedschaft nahegelegt wird. Natürlich immer verbunden mit kostenlosen Extras, Rabattaktionen und Vorzugsbehandlungen. Dass wir uns nun aber auch bei der Geburt zwischen Standard, Premium und Luxus entscheiden mussten, irritierte mich etwas. Konseqent und durchdacht fand ich allerdings die Preisgestaltung. Bei Zwillingsgeburten wurde für das zweite Kind nur die Hälfte berechnet, erklärte uns der Sales-Berater von Family United. Auch für jedes weitere Mehrlingskind galt die Aktion. Dingding und ich berieten uns kurz – das war ja wirklich ein gutes Angebot – entschieden uns dann aber in Ermangelung eines weiteren zu gebährenden Kindes für das Standard-Paket einfacher Ausführung.

#1 Schönes neues China: Ehefrau schlägt Auto

 

Ehefrau schlägt Auto und ich stehe dumm in der Gegend herum. So wie ich, seit wir wieder in China sind, sehr häufig dumm in der Gegend herumstehe. Ehefrau heißt ja eigentlich Ding, also im Doppeldiminuitiv dann Dingding. Aber seit wir verheiratet sind, ist mir das ziemlich egal. Wie sie heißt, meine ich. Denn wir sind verheiratet und nennen uns nicht mehr beim Namen. Meine Frau hat angefangen. Erst hat sie mich konsequent nur noch „Laogong“ also „Ehemann“ genannt und seit dem ersten Kind dann nur noch „Baba“. Wenn sie jetzt über mich spricht, dann sagt sie nur noch „Aiwen ta Ba“, also „Vater des Aiwen“, abgeleitet vom Namen unseres Erstgeborenen. Das ist in China vollkommen normal. Ich habe mir aber trotzdem mehrfach meinen ursprünglichen Eigenamen zurückgewünscht. Erfolglos. Nun bleibt mir nichts mehr übrig, als mich den alltagskonfuzianistischen Kosekonventionen anzupassen. Ehefrau wird schon sehen, was sie davon hat.

Ein weißer Tiguan rollt auf uns zu. Ehefrau hat ihn mit ihrem Smartphone und Didi gerufen oder „herbeigeschlagen“, wie sie es auf Chinesisch so schön sagt. Früher, da schlug man sich in Peking ein Taxi. Da war das Schlagen von Autos noch echte Handarbeit. Mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, stoppte man einen der zahlreichen grüngelben Wägelchen. Dann musste man nur noch andere potenzielle Fahrgäste, die auf ein Taxi warteten, anschreien oder sich mit ihnen prügeln und schon saß man bequem im wohlig nach Knoblauch und Schweiß riechenden Hyundai. Wenn der Fahrer nicht wusste, wo der Ort liegt, an den man reisen wollte, hat er einfach einen Cousin dritten Grades angerufen und nach dem Weg gefragt. Diese Zeiten sind vorbei, in jedem Fall dann, wenn man Ehemann von Ehefrau ist.

Denn jetzt, jetzt gibt es Didi. Nein, nicht Didi Hallervorden, aber mindestens genau so bekloppt. Didi ist eine App, mit der private Kleinstunternehmer digital zu einer Beförderungsfahrt gerufen werden können. Ursprünglich hat sich das System jemand in Amerika ausgedacht und „Ueber“ genannt. Weil aber die Kommunistische Partei Chinas Unternehmen wie Ueber für digitalimperialistisches Teufelszeug hält, hat man ihnen den Marktzugang verwehrt. Deshalb floriert in Peking, Shanghai und all den anderen schönen Megacities jetzt nur noch Didi. Also quasi: Didi, der Doppelgänger. Von Ueber, jetzt…

„Lass uns ein Taxi nehmen“, sage ich. „Heute ist kein Feiertag, es regnet nicht und es ist Mittagszeit. Zur Mittagszeit pflegt der Chinese pünklich zu essen. Da fährt er nicht mit dem Taxi“, erkläre ich. „Ja, aber eben auch kein Taxifahrer fährt mit dem Taxi“, erwidert meine Ehefrau. Ich wollte mich nicht mit ihr streiten. Ich will mich überhaupt niemals streiten. Und so stehe ich dann eben dumm in der Gegend herum, während ein leeres Taxi nach dem anderen an uns vorüberfährt, bis dann viel später eben jener weiße Wagen in unsere Straße einbiegt.

Der fabrikneue VW Tiguan rollt langsam auf uns zu. Wir befinden uns zwischen dem Diplomatic Compound und dieser Mall, in der ein Schwimmbad, einen Fat-Burger, einige Beauty-Solons, einen Maßschneider und unseren Familienarzt Dr. Diedrich gibt. Es sind nur einige hundert Meter zwischen der Straßenecke und unserem Standort vor der Mall, aber schon auf dieser kurzen Strecke hat sich hinter dem Wagen ein Stau gebildet. Am Steuer des Autos sitzt eine Dame mittleren bis gehobenen Alters, die uns verstörend unsicher anlächelt und zuwinkt. Sie ist dann auch sichtlich erleichtert, als sie feststellt, dass wir ihre Fahrgäste sind, zu denen ihr Navigationssystem sie geleiten sollte. „Gefunden, geglückt, alles wird gut“, spricht es aus ihrem Gesicht mit einem Strahlen, das unverzüglich wieder verschwindet, als Ehefrau ihr gestikulierend deutet, dass sie doch bitte eine Kehrtwende, machen möge, um auf unsere Seite zu gelangen: einen U-Turn, wie es Neudeutsch so schön heißt. „Wenden?“ „Ich?“ „Mit diesem Ungetüm?“ „Das ist nicht Euer Ernst!“ spricht ihr erschrockenes Gesicht nun ganze Horror-Bände. Weil wir aber mit dem Kinderwagen und dem Schwangerschaftsbauch, den Ehefrau seit einigen Monaten stets mit sich durch die Gegend trägt, nicht mitten auf der Straße in einen weißen Tiguan einsteigen können, legt unsere Didi-Chaufferin aufgeregt und krachend einen, ich vermute den dritten Gang ein. Zeitlupisch bewegt sich der Wagen dann in wenigen Quantensprüngen pro Minute vorwärts und die Fahrerin vollführt offensichtlich das erste Wendemanöver ihres Lebens. Die Leute in den Autos dahinter sind inzwischen wütend ausgestiegen. Aber als sie die Hilflosigkeit der alten Dame bemerken, bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als der Frau einweisend über die Straße zu helfen. Auch in der anderen Fahrtrichtung staut sich jetzt der Verkehr. Und dann doch. Die gemeinsamen Anstrengungen haben Erfolg: Wenden in vierundsechzig Zügen. Es ist vollbracht und kurz darauf setzt der Tiguan den Blinker und legt am Bordstein vor der Mall am.

„Taiyanggong?, fragt sie ängstlich, denn das ist die Adresse, die Didi ihr angezeigt hat. Unser Zuhause. Der Ort, an den es uns zieht, bepackt mit Einkaufstüten und Kindern in Kinderwägen und Schwangerschaftsbäuchen. „Taxi!“, rufe ich verzweifelt. „Taxi! Taxi! Taxi!“ Ein freies Taxi hält hinter dem Tiguan, aber Ehefrau sagt, ich solle das doch bitte lassen. Ich solle kein Taxi schlagen, sonst schlüge sie vielleich doch noch mich, denn jetzt sei er ja da, unser digital bestellter Chauffeurservice. So bewege man sich eben als moderner Großsstadtchinese in der schönen neuen Welt. „Luohou“ sei ich, sagt sie „zurückgeblieben“, „rückständig“ „abgehängt“. Ich sah wärhenddessen dem davonfahrenden Taxi hinterher und verfrachtete unseren Erstgeborenen, unseren bald auch noch Zweitgeboreren samt Mutter und auch den Kinderwagen in den Tiguan und setzte mich neben die rüstige Fahranfängerin auf den Beifahrersitz. Die gute Frau nahm mich jedoch kaum wahr, hatte sie doch das On-Board-Navi und das Handy-Navi gleichzeitig eingeschaltet. Umgehen konnte sie mit keinem der beiden. Ehefrau und ich wiesen ihr den Weg. Am Autobahnkreuz Sanyuanqiao ordnete sie sich trotzdem falsch ein. Und wir fuhren eine Weile auf dem Highway Richtung Flughafen, wenden unmöglich.

An dieser Stelle muss ich aus dem autobiographischen Modus in den fiktionalen wechseln, weil ich keinen in China gültigen Führerschein besitze, es mir darum untersagt ist, hier Auto zu fahren und ich natürlich niemals das Gesetz brechen würde. Mein fiktionales Ich, mit der schwangeren Ehefrau, dem schlafenden Erstgeborenen, der rüstigen aber verzweifelte Dame im Tiguan ihres Neffen auf dem Weg zum Flughafen, bittet also die Fahrerin rechts ranzufahren und anzuhalten. Mein Erzähl-Ich übernimmt kurzerhand von der erleichterten Didi-Novizin das Steuer und fährt die Familie nach Hause. Dort angekommen, bietet das Ich dann der Fahrerin an, sie nach Hause ans andere Ende der Stadt zu fahren. Ein Angebot, dass sie ohne zu Zögern annimmt. Von dort aus übernimmt dann wieder das biografische Ich. Und eben dieses Ich stoppt mit einer eleganten Bewegung auf Höhe der Hüfte, einem flatterndem Wedeln der Handfläche, eines der zahlreichen vorbeifahrenden Taxis um im trauten Heim auf dem Handy der Eefrau die Didi-Rechnung des heutigen Tages bestaunen zu dürfen.