Frank Struck sah aus dem Fenster.
„Nanu“, dachte er. „Ich bin ja wirklich kein Experte für Luftfahrtsicherheit. Nein, ganz und gar nicht. Aber es kommt mir irgendwie, nun ja, ungewöhnlich vor, dass dieses andere Flugzeug da jetzt genau auf uns zufliegt.“
Frank befand, dass es wohl das Beste wäre, wenn er die Flugbegleiterin rufen würde, um sie zu fragen, ob das soweit in Ordnung sei, das mit dem anderen Flugzeug vor seinem Fenster. Als er aber auf den roten Service-Knopf an der Kabinendecke über seinem Sitz drücken wollte, musste er feststellen, dass dieser Knopf ebenso wie die Kabinendecke nicht mehr da war. Auch der Rest der Boeing 747 der Haibei Airlines hatte sich im Vergleich zum ursprünglichen Zustand stark verändert. Dort, wo eben noch das Cockpit war, klaffte ein beachtliches Loch. Wolkenfetzen tanzten. Die erste Klasse hatte sich in einen Feuerball verwandelt und auch in der Economy-Class war das Thema Beinfreiheit nun ganz anders zu verstehen, als noch vor wenigen Millisekunden.
„Oh Mann“, Frank war nicht ohnehin gerade in bester Laune. Die Dienstreise fand in einer Woche statt, in der der Tatort aus Münster kam. Da machte man doch keine Reisen. Das nahm er seinem Chef fast schon persönlich übel. Der Blick aus dem Fenster trug nicht gerade zur Aufhellung seiner Stimmung bei. „Das ist insgesamt aber schon recht ärgerlich. Mhhhm!“
Dann wurde es dunkel. Sehr dunkel. So dunkel, dass Frank begann, in seinen Taschen nach einem Feuerzeug zu suchen, obwohl er gar nicht rauchte und es auch nie wagen würde, explosive Flüssigkeiten an Bord eines Flugzeugs zu schmuggeln. Aber war er überhaupt noch in einem Flugzeug? Es erschien ihm aufgrund der vorausgegangenen Ereignisse inzwischen weitgehend unwahrscheinlich.
Langsam gewöhnten sich seine Augen an die Finsternis, die immer noch sehr finster war, sich aber jetzt soweit aufhellte, um zu erkennen, dass sein Aufenthaltsort eine Art Tunnel zu sein schien. Ein ziemlich langer Tunnel, an dessen Ende ein ungewöhnlich helles und freundliches Licht schimmerte, das auf eine seltsame Art und Weise vertraut schien.
„Na, immerhin“, seine Laune besserte sich doch ein wenig und er machte sich auf den Weg.
Kurz vor Ende des Tunnels hörte Frank laute und aufgeregte Stimmen. Sehr betriebsam ging es dort zu, wo der Tunnel endete. Und als er schließlich vorsichtig den ersten Schritt wagte, wunderte sich Frank, der sonst eigentlich nur Weniges befremdlich fand, doch ein wenig. Eine riesige Halle tat sich vor ihm auf. Eine Halle so groß wie eine Stadt. Eine goldene Kuppel, die am Horizont zu enden schien, überspannte einen gigantischen Terminal. Überall liefen Menschen aufgeregt durch die Gegend und sammelten sich vor haushohen Anzeigetafeln, auf denen Informationen in allen Sprachen der Welt aufflackerten. Die Halle war vollgestopft mit Info-Ständen, an denen die Menschen diskutierten. Die meisten blätterten in Hochglanzbroschüren und nickten fröhlich. Einige stießen sich gegenseitig mit den Ellenbogen in die Rippen und grinsten vor Vergnügen. Andere wiederum wirkten erschrocken und wiesen die vielen Faltblätter, die man ihnen reichte, empört zurück. Die Abfertigungsschalter, die wie an einer gigantischen Perlenschnur vom einem nicht erkennbaren Ende der Halle zum anderen aufgereiht waren, schienen der Mittelpunkt des ganzen Durcheinanders zu sein. Vor ihnen hatten sich lange Schlangen gebildet.
Frank sah sich das Treiben eine Weile etwas nachdenklich an. Dann beschloss er, dass er genug gesehen hatte und wählte den Schalter, bei dem es am schnellsten gehen würde. Das Verhältnis zwischen Schlangenlänge und Geschwindigkeit des Service-Angestellten war an Nummer 8427 am günstigsten. Frank wusste so etwas und er sah keinen Grund, sich von alten Angewohnheiten zu trennen. Auch dieses Mal lag er richtig und es dauerte keine fünf Minuten, da hatte der genervt wirkende Mann die sieben Inder, fünf Afrikaner und zwei Inuit-Damen vor ihm durch die Schleuse gescheucht.
„Wellkom to se Häwen“, nuschelte er. „Nummer?“
„1200933892“, sagte Frank, der nie eine Nummer vergaß.
Mürrisch tippte der Schaltermann auf seinem Computer herum.
Dann blickte er auf. Er sah Frank fragend an.
„Lesbische Veganer? Ist das korrekt so?“
„Wie bitte?“
Der Mann am Schalter bequemte sich einer Auskunft.
„Also gut. Entweder wirken Sie tatsächlich recht männlich, oder Sie fühlen sich in Gegenwart von lesbischen Veganerinnen ausgesprochen wohl, was ich beides nicht ausschließen möchte, aber für eher unwahrscheinlich halte, oder – und das wird die wahrscheinlichste Variante sein – Sie haben sich trotz der nicht zu überhörenden Durchsagen in sämtlichen Sprachen dieser Welt und den insgesamt siebentausendsechshundert Infoständen weder beraten lassen noch den Testfragebogen zu Ihren persönlichen Vorlieben ausgefüllt.“
Der Schaltermann holte Luft.
„Dann wäre 1200933892 sehr wahrscheinlich Ihre unter den augenblicklichen Umständen vollkommen nutzlose Passnummer.“
„Wie bitte?“
Frank spulte zurück, verstand zwar nur kleinen einen Teil von dem, was er gehört hatte, befand aber, dass der Mann irgendwo recht hatte.
„Ja“, sagte Frank.
„Würden Sie dann bitte so freundlich sein und mir entweder ihre vorläufige Himmelsidentifikationsnummer kurz H.I.N. sagen, oder mir wenigstens in etwa mitteilen, wohin die Reise gehen soll, damit ich Sie entsprechend zuweisen kann. Sie halten die Betrieb auf“
„China. Ursprünglich wollte ich beruflich nach China. Ich sollte dort eine Etikettenfabrik begutachten, Etiketten und Aufkleber von Hollerbach-Print. Hollerbach-Print. Die mit dem kleinen Teufelchen als Markenzeichen,“ Frank stockte. „Ist ja auch eigentlich egal, warum. Auf jeden Fall muss ich jetzt dringend nach China.“
„China? Na, also. Warum denn nicht gleich so?“, murmelte der Mann. „Das wäre dann der Himmel Acht.“
„Himmel Acht?“
„Himmel Acht.“
„Also, ich weiß ja nicht.“
„Wenn Sie Bedenken haben…. Da wäre noch Himmel 7526. Mögen Sie Seegurken?“
„Ich glaube nicht“, sagte Frank.
„Dann würde ich Ihnen eher abraten. Da fahren Sie mit Himmel Acht immer noch am besten.“
„Meinen Sie?“
„Ja, sicher“, sagte der Schaltermann. „Himmel Acht ist einer der beliebtesten Himmel überhaupt. Die letzte Erhebung hat ergeben, dass etwa jeder siebte Himmelsreisende diese Wahl trifft.“
„So?“
„Ja.“
„Aha.“
„Na, geht doch. Ich habe Sie entsprechend Ihren Wünschen bereits zugewiesen. Bitte treten Sie einen Schritt vor und sehen in die Kamera. Lächeln! Fantastisch. Danke. Gate 1289, der Transfer-Shuttle geht in vierzehn Minuten. Ich wünsche Ihnen eine angenehme Weiterreise und einen wunderschönen Aufenthalt in der Ewigkeit.“
„Danke“, sagte Frank und folgte den blinkenden Pfeilen, die zu seinen Füßen erschienen und ihn zu einer gläsernen Rolltreppe führten, an deren Ende sich die Türen einer weißen Shuttlefähre öffneten und mit einem krachenden Geräusch hinter ihm schlossen.
– to be continued –
Bildquelle: beeveephoto, Flickr, (CC BY-SA 2.0), bearbeitet