Kishore Mahbubani lehrt derzeit als Professor für „Public Policy“ an der National University of Singapore. Er vertritt ähnlich wie Niall Ferguson die These, dass die Weltgeschichte sich in der Phase einer tiefgreifenden Veränderung befindet. In diesem Podcast, den wir hier als Deeplink von Cityweekend eingebettet haben und der bereits im Jahr 2008 aufgenommen wurde, spricht Mahbubani über die dramatischen Veränderungen, die bereits stattgefunden haben und die noch zu erwarten sind.
Mahbubani sieht deutliche Anzeichen für das Ende der westlichen Überlegenheit. Dieses Ende bedeutet für ihn jedoch nicht, dass der Untergang des Abendlandes bevorsteht. Stattdessen ist der Machtverlust nur ein relativer und vor allem durch die fast zwangsläufig stattfindende Wiederauferstehung der asiatischen Gesellschaften bedingt. Indien und China, die sich voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten zu den weltweit größten Wirtschaftmächten entwickeln, darauf deuten zumindest alle von ihm angeführten Statistiken hin, werden lediglich die wirtschaftliche Vorreiterrolle zurückerobern, die sie über viele Jahrhunderte innehatten.
Wie dramatisch die Veränderung des weltweiten Machtgefüges derzeit vonstatten geht, belegt Mahbubani mit einigen sehr eindrucksvollen Zahlen. Die statistische Verbesserung des Lebensstandards in der Zeitdauer eines Menschenlebens betrug während der industriellen Revolution, einer immerhin sehr tiefgreifenden Veränderung der westlichen Gesellschaft, etwa einhundert Prozent. Im heutigen Asien verbessert sich der Lebensstandard derzeit durchschnittlich um etwa 10.000 Prozent pro Lebenszeit. Diese Veränderung ist in Mahbubanis Augen besonders deswegen eine sehr positive Entwicklung, weil dadurch weltweit die Zahl der Menschen, die zur Mittelschicht gehören, deutlich ansteigt. Eine möglichst breite Mittelschicht ist in seinen Augen eine wichtige Grundlage für eine friedliche Entwicklung der Welt.
Die Frage, wie die asiatischen Gesellschaften diesen rasanten Aufstieg denn nun bewerkstelligen, beantwortet er mit einer schematischen Darstellung der Erfolgsfaktoren, die deutliche Parallelen zu Ferguson Annahme von sechs „Killer Applikationen“ aufweist. Mahbubani sieht folgende nach Asien exportierte „Säulen der westlichen Weisheit“ (pillars of western wisdom) für den historisch einmaligen Aufstieg verantwortlich:
- Frei Marktwirtschaft: Erst durch die Einführung der freien Marktwirtschaft begannen die Menschen, sich in einem kompetitiven Wettkampf Wohlstand zu sichern
- Wissenschaft und Technik: Den rasanten wissenschaftlichen und damit verbundenen technologischen Aufstieg bezeichnet er als das „Große Asiatische Wissenschaftsexperiment“
- Meritokratie: Asiatische Gesellschaften nutzen heute die zuvor brachliegenden intellektuellen Fähigkeiten von Menschen quer durch alle Schichten. Die Gesellschaften sind durchlässig geworden und fördern Talente. Asien hat einen riesigen Pool an „hellen Köpfen“, die die Gesellschaften voranbringen
- Pragmatismus: Nicht erst seit Deng Xiaopings Satz: „Es ist egal, welche Farbe die Katze hat, Hauptsache sie fängt Mäuse“ sind asiatische Gesellschaften sehr ergebnisorientiert
- Die asiatische Kultur des Friedens: Nach den blutigen Konflikten in der Nachkriegsgeschichte ist in Ostasien der Wunsch nach einem friedlichen Miteinander nach dem Vorbild Europas weit verbreitet
- Gesetzliche Grundlagen der Gesellschaft: Trotz vieler Probleme in gesetzlichen Fragen steigt die Rechtssicherheit in den asiatischen Ländern
- Erziehung: In asiatischen Gesellschaften herrscht vielfach ein starkes Bedürfnis nach Bildung.
Insgesamt sieht Mahbubani den Sprung in die Moderne als eine große Chance an. Er prognostiziert sogar die Chance, dass gesellschaftliche Veränderungen nach dem Vorbild Asiens auch in arabischen Ländern positive Entwicklungen bewirken können. Der Vortrag stammt aus dem Jahr 2008. Damals waren die Veränderungen, die heute als „Arabischer Frühling“ bezeichnet werden, noch nicht abzusehen. Inwieweit die derzeitige umbruchartige Demokratisierungsbewegung durch die arabische Jasmin-Revolution aber ähnliche langfristige gesellschaftliche, politische und wirtschaftliche Verbesserungen mit sich bringt, bleibt abzuwarten. Viele Menschen in den arabischen Ländern kämpfen derzeit auf verschiedenen Wegen für eine schnelle Demokratisierung. Wenn jedoch dieser Weg erfolgreich ist und die durch Bürger-Proteste hervorgerufenen politischen Reformen eine nachhaltige Verbesserung der Lebenssituation vieler Menschen in Nordafrika mit sich bringt, wäre es nur folgerichtig, dass Mahbubani seine These revidiert und den von ihm skeptisch gesehenen schnellen Demokratisierungsprozess auch für asiatische Staaten in Frage kommen lässt.
Mahbubanis Thesen werden mancherorts als anti-westliche Polemik interpretiert. Und auch er selbst sieht, dass seine Analysen für viele westliche Leser eine nahezu schmerzhafte Erfahrung sind. Allerdings ist er der Meinung, dass man im Westen nicht um die von ihm aufgeworfene Frage nach der Gerechtigkeit einer multipolaren Weltordnung herumkommt. Es sein an der Zeit, sich gedanklich mit einer veränderten Welt zu beschäftigen. Der Westen habe sich viel zu lange als der „Königsweg“ zur Lösung der globalen Probleme angesehen. Dabei ist vielen nicht bewusst, in welchem Ausmaß heute der Westen selbst Teil der augenscheinlichsten Probleme geworden ist. Mahbubani hält es zum Beispiel für unumgänglich, dass die westlichen Industrieländer die lieb gewonnenen Privilegien in multinationalen Einrichtungen wie dem IWF, der Weltbank oder dem UN-Sicherheitsrat aufgeben.
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Nachtrag: 25.06.2011, 14.27 (MEZ+7): Mahbubani wurde am 25.12.2010 in der CNTV-Sendung „Dialogue“ von Yang Rui interviewed. Hier das Ergebnis:
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Huanqui Shibao (环球时报) über Mahbubani (马凯硕):
新加坡学者:中国需更善于与邻居打交道 打造和谐亚洲