Früher in den sechziger und siebziger Jahren, vor der Reform- und Öffnungspolitik, als nur wenige Menschen aus dem Westen die Gelegenheit hatten, in die Volksrepublik zu reisen, um über das kommunistische Land im fernen Osten zu berichten, da trugen viele Menschen in China den gleichen, blauen Arbeitsanzug. Die uniformierten Arbeiterbrigaden waren ein ungewohnter Anblick für die Besucher in einer Zeit, in der der Westen die Individualität immer weiter ins Zentrum der gesellschaftlichen Maßstäbe setzte. Die Arbeiter wurden wegen ihrer Eigenschaft in Massen aufzutreten, ihrer Gleichförmigkeit und wahrscheinlich auch wegen ihres unermüdlichen Einsatzes im Westen manchmal als „Blaue Ameisen“ bezeichnet.
Die blauen Ameisen sind ausgestorben. Auf den Straßen von Shanghai, Peking und den anderen Millionenstädten ist die Einheitskleidung verschwunden. Stattdessen sieht man immer mehr Designer- und Markenkleidung. Aber der Begriff der „Ameise“ ist zurückgekehrt. Auch heute gibt es in China wieder Menschen, die als Ameisen bezeichnet werden. Dieses Mal jedoch sind sie es selbst, die sich diesen Namen gegeben haben. Die jungen Chinesen, die aus kleineren Städten oder vom Land zum Studieren in die Metropolen gekommen sind und nach dem Studium noch nicht genug verdienen, um sich einen eigene Wohnung leisten zu können, die nennen sich selbst Yizu (蚁族), die Klasse der Ameisen.
Und diese Klasse der Ameisen, die mit zehn oder noch mehr Mitbewohnern zusammen in kleinen Wohnungen am Stadtrand wohnen, wird immer größer. Gründe dafür gibt es viele: die im ganzen Land immer noch stark zunehmende Urbanisierung, die Reform des Bildungssystems, die zu einer rasant gestiegenen Zahl an Universitätsabsolventen geführt hat und natürlich die explodierenden Wohnungspreise in den großen Städten. Der Wissenschaftler LIAN Si (廉思) hat über diese neue Klasse der Ameisen ein viel diskutiertes Buch veröffentlicht, in dem er die Situation analysiert.
Ein entscheidender Grund für das Entstehen dieses sozialen Phänomens ist, dass der Lebensstandard in den meisten kleineren Städten und Regionen nicht annähernd an die großen Metropolen heranreicht. In vielen Gegenden ist noch immer sehr wenig davon zu spüren, dass China auf dem Weg ist, eine Welt- oder sogar Supermacht zu werden. Die großen politischen und wirtschaftlichen Zentren, allen voran natürlich Peking und Shanghai, haben die anderen Regionen in ihrer Entwicklung weit hinter sich gelassen. Sie üben eine große Anziehungskraft auf die jungen, ambitionierten Chinesen aus. Fast jeder, der etwas aus seinem Leben machen möchte, zieht in die Metropolen, in denen es allerdings schon längst nicht mehr genügend Arbeitsplätze gibt. Der Konkurrenzdruck ist gewaltig. Schon in der Schule lernen viele Schüler besonders fleißig für die nationale Hochschulaufnahmeprüfung „Gaokao (高考)“, um einen Studienplatz an einer guten Universität in Peking oder Shanghai zu ergattern. Und nach dem Studium wollen sie dann meist nicht wieder in ihren rückständigen Heimatort zurück. Sie wollen unbedingt irgendwie teilhaben am Boom der Metropolen. Das führt natürlich auch dazu, dass in den kleineren Städten die gut ausgebildeten Absolventen fehlen, die für das Wirtschaftswachstum dringend gebraucht würden – ein Teufelskreis.
Diese jungen Menschen fühlen sich wie Ameisen – klein und unbedeutend. Sie arbeiten sehr viel, wohnen gemeinsam in einfachen Behausungen und werden von anderen, größeren Tieren meist kaum beachtet. Ameisen sind schwach, nur in der Gruppe sind sie stark.
Aber die Ameisen zählen im Reich der Insekten auch zu den intelligentesten Tieren. Sie arbeiten unermüdlich und geben niemals auf. Und so sehen sich die Angehörigen dieser Klasse auch selbst. Denn wenngleich das Leben der Ameisen manchmal nicht leicht ist, so glauben viele von ihnen doch daran, dass es sich für sie lohnen wird. Die meisten Angehörigen der Ameisenklasse sind zwar mit ihrer derzeitigen Lebenssituation nicht zufrieden. Sie glauben aber fest daran, dass auch sie eines Tages vom Goldrausch der Metropolen profitieren werden.