Mein Vater ist Li Gang

Mein Vater ist Li Gang (我爸是李刚). Diesen Satz soll ein junger Mann gesagt haben und er hat damit den Hass und die Verachtung einer ganzen Nation auf sich gezogen. Aber was ist denn so schlimm daran, wenn jemand sagt, wer sein Vater ist? Jeder Mensch hat einen Vater und jeder Vater hat einen Namen. Wie kann es denn also sein, dass jemand nur mit der Nennung des Namens seines Vaters die Empörung eines ganzen Landes auf sich zieht?

Der Grund für die Ungeheuerlichkeit dieses Satzes, wenn er denn je so gesagt wurde, ist nicht die Tatsache, dass er gesagt wurde, sondern was damit gemeint war. Denn die Geschichte hinter diesem Satz ist eine traurige Geschichte, bei der eine junge Studentin starb und eine andere schwer verletzt wurde.

Viele Einzelheiten der Geschehnisse am 16. Oktober 2010 sind noch nicht geklärt. Nur ein ordentliches Gerichtsverfahren, wird feststellen können, was an diesem Abend auf dem Campus der Hebei Universität in der chinesischen Millionenstadt Baoding passiert ist. Und nur ein ausschließlich an der Wahrheitssuche orientiertes Gericht wird eine Antwort finden können auf die Frage, wer Schuld ist am Tod der jungen Frau. Wenn ein solches Gerichtsverfahren denn stattfinden wird.

Aber welchen Grund könnte es denn schon geben, der verhindern würde, dass der Verursacher eines derart schrecklichen Ereignisses nicht mit allen erforderlichen Mitteln der Justiz ermittelt und entsprechend bestraft wird? Ein Grund könnte sein, dass der Täter der Sohn eines hohen Beamten ist. Sein Vater ist Li Gang.

Die Geschichte, die sich aus den öffentlich im Internet zugänglichen Zeugenaussagen, den Berichten der staatlichen Medien und den unzähligen Einträgen in Blogs, Foren und sozialen Netzwerken wie renren.com nachzeichnen lässt, ist die folgende:

Li Qiming, ein 22-jähiger Student an einer Medienhochschule in Hebei, der laut Zeugenaussagen alkoholisiert gewesen sein soll, fuhr kurz nach 21 Uhr mit einem schwarzen Volkswagen Magotan auf den Campus der Hebei Universität. Auf einer engen Straße des Campus-Geländes beschleunigte er stark. Daraufhin kam es zu einem Unfall, bei dem die 19-jährige Studentin Zhang Jingjing und die 20-jährige Studentin Chen Xiaofeng schwer verletzt wurden. Chen Xiaofeng starb am nächsten Tag an den Folgen des Aufpralls.

Der Unfallverursacher Li Qiming beging zunächst Fahrerflucht, konnte dann aber von Sicherheitskräften gefasst werden. Als er aufgegriffen wurde, soll dann der berüchtigte Satz gefallen sein. Er soll gesagt haben: „Verklagt mich doch. Es wird euch nichts nützen. Mein Vater ist Li Gang.“ In vielen Internet-Varianten der Geschichte wird noch hinzugefügt, dass Li Qiming keinerlei Reue und Schuldgefühle angesichts der schrecklichen Ereignisse gezeigt haben soll. Stattdessen soll er sich mehr um die Kratzer und Beulen an seinem Auto gesorgt haben.

Diese Geschichte, so unklar ihr Ablauf in allen Einzelheiten auch sein mag, wurde dann auf verschiedene Weise sehr schnell China-weit bekannt. Zunächst berichteten die Internet-User ihren Freunden über den Vorfall und in den sozialen Netzwerken wurde hitzig diskutiert. Außerdem wurde dazu aufgerufen eine kollektive Informationsbeschaffung zu starten, die in China mit dem makaberen Namen „Menschenfleisch-Suchmaschine“ (人肉搜索) bezeichnet wird. Bei der Menschenfleisch-Suchmaschine werden alle im Web zugänglichen Informationen genutzt, um die Identität eines Menschen offenzulegen, was im Fall von Li Qiming auch gelang. Das bedeutendste Ergebnis dieser Massenrecherche war allerdings die Tatsache, dass der Vize-Kommandant der örtlichen Polizeibehörde den Namen Li Gang trägt und der Unfallfahrer Li Qiming sein Sohn ist.

In den darauffolgenden Tagen zog der Vorfall die Aufmerksamkeit der Medien auf sich. Ausländische Medien berichteten. Als eines der ersten nicht-chinesischen Medien schrieb der International Herald Tribune bereits zwei Tage nach dem Vorfall eine Titelstory. Aber auch die staatlichen Zeitungen und Sendeanstalten der Volksrepublik widmeten sich bald ausführlich dem Thema. In einer Nachrichtensendung von CCTV wurde der durch die folgenschwere Tat seines Sohnes bekannt gewordene Li Gang gezeigt, wie er unter Tränen das Verhalten seines Sohnes verurteilt und die Angehörigen der Unfallopfer um Verzeihung bittet.

Aber auch der Sohn selbst wurde in den staatlichen Medienberichten nicht als selbstherrlicher Beamtensohn, als Angehöriger der in China berüchtigten Guaner-Generation (官二代) gezeigt, der die Konsequenzen seines Handelns nicht zu fürchten hat. Stattdessen sieht man einen kahlgeschorenen, jungen Mann in Handschellen, der vor laufender Kamera bitterlich weint und um Vergebung bittet für das Unheil, das er über die Familien der Unfallopfer gebracht hat.

Doch auch damit ist diese Geschichte noch nicht zu Ende. Viele Menschen in China wollten sich mit dieser Sicht auf die Dinge noch nicht zufrieden geben. Der sozial engagierte Künstler Ai Weiwei, der besonders wegen seiner Mitarbeit am als Vogelnest bezeichneten Nationalstadion bekannt ist, drehte ein Video, das die Sichtweise der Angehörigen des Unfallopfers widergibt. Dieses Video mit dem Titel „Dies ist die Wahrheit“ (事实就是这样) wurde unzählige Male auf chinesische Videoportale wie tudou.com hochgeladen.

Aber nicht nur in dieser an der Wahrheitsfindung interessierten Weise wurde das Ereignis in den Internetmedien thematisiert. Es entstanden Kunstwerke, Karikaturen und ironische Musikvideos, die die Geschichte in ihrer drastischsten Variante nacherzählen.

Es gibt sogar eine ganze Reihe sarkastischer Gedicht-Parodien im Stil der verschiedenen Dynastien, die die Geschichte von Li Gang und seinem Sohn als Sinnbild für die Machtfülle einiger Chinesen nehmen. Es gibt in China einen Satz, der dieses Gefühl zum Ausdruck bringt. Er lautet: Menschen, die die Macht haben, können sogar den Himmel verdunkeln (谁有了权利,谁就可以遮住天).

Verwandtschaftliche oder freundschaftliche Beziehungen haben in China nicht selten Sonderrechte zur Folge. Egal, ob jemand eine hohe Funktion in einem Staatsbetrieb hat, oder in der Verwaltung ein hohes Amt bekleidet. Es ist im heutigen China fast schon eine Selbstverständlichkeit geworden, dass jemand, der in einer machtvollen Position angelangt ist, diese Position auch benutzt – für sein eigenes Wohl und für das Wohl seiner Familie und Freunde. Und eben weil man sich daran gewöhnt hat, werden viele Sonderrechte stillschweigend akzeptiert.

Viele Chinesen wissen, dass sie in einem Land leben, in dem nicht jeder das bekommt, was ihm zusteht und was er durch seine Leistungen verdient hat. Und es gibt wohl kaum einen Chinesen, dem das System der persönlichen Gefälligkeiten aufgrund von guten Beziehungen, sogenannten Guanxi (关系), nicht auch schon selbst einmal geholfen hat.

Aber auch wenn viele Chinesen dieses System weitestgehend akzeptiert haben, so ändert das nichts daran, dass die einfachen Menschen eine Wut verspüren gegenüber denjenigen Mächtigen und ihren Verwandten, die glauben, dass für sie andere Regeln gelten und deren auffälligstes Merkmal ihre Rücksichtslosigkeit gegenüber den Machtlosen ist.

Dafür steht dieser Satz: „Mein Vater ist Li Gang“